WELT

11. Juli 2025, 07.27 Uhr

Die Reaktion fiel drastisch aus. Kaum hatte die Regierung in London bekanntgegeben, dass künftig Blaise Metreweli den britischen Auslandsnachrichtendienst MI6 leiten werde, meldete sich eine Sprecherin des Putin-Regimes in Moskau zu Wort. Der Trend gehe 'eindeutig in Richtung Neonazis', verkündete Maria Sacharowa vom russischen Außenministerium: 'Jemand setzt gezielt und bewusst Nachkommen der Nazis in Führungspositionen in den Ländern des Westens ein.'

Anders als die meisten Propaganda-Attacken aus Moskau hat die Behauptung im Fall der kommenden MI6-Chefin einen (winzig kleinen) wahren Kern. Tatsächlich nämlich stammt Metreweli väterlicherseits ab von Konstantin Augustinowitsch Dobrowolski, einem ukrainischen Kollaborateur der deutschen Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg. Zwar hat sie ihren Opa nie kennengelernt – trotzdem lohnen die einschlägigen Unterlagen, die beim Bundesarchiv-Militärarchiv über Dobrowolski vorhanden sind, einen genaueren Blick. Es handelt sich um insgesamt drei Aktenbände mit 242 teilweise beidseitig beschriebene Blättern.

Wer war dieser Konstantin Dobrowolski? In einem Lebenslauf, verfasst für die deutschen Besatzungsbehörden, schrieb er am 12. Januar 1943: 'Ich, Dobrowolski, Konstantin Augustinowitsch, bin am 9. Mai 1906 im Dorf Sawenki, Kreis Korjukow, Gebiet Tschernigow, geboren. Ich entstamme einer adeligen Gutsbesitzer-Familie.' In den 'Revolutionsjahren', für die Nordukraine zwischen 1918 und 1922, sei seine ganze Familie 'von den Bolschewiken vernichtet worden'. 1926 sei er in Moskau wegen 'antisowjetischer Agitation' und Antisemitismus zu zehn Jahren Verbannung in ein sibirisches Lager verurteilt worden.

Nach der Haft habe er 1937 in seine Heimat, die Ukraine, nicht zurückkehren können, „da dort, im europäischen Teil der UdSSR, Enteignungen und Verfolgungen antisowjetischer Elemente seitens der GPU stattfanden“ – der berüchtigte 'Große Terror' Stalins. Also sei er in Sibirien geblieben, habe einen Abschluss als 'Ingenieur-Ökonom' gemacht, die Artillerieschule in Wladiwostok absolviert und den Rang Hauptmann erreicht.

Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion (Dobrowolski: 'Lange schon hoffte ich, dass Deutschland mit Russland in den Krieg treten würde') wurde er eingezogen und meldete sich, obwohl als verurteilter Straftäter nur zugelassen zum Dienst in der Etappe, freiwillig zur Front – um überzulaufen. Das tat er eigenen Angaben zufolge am 4. August 1941.

Die nächsten sechs Wochen arbeitete er bei einer SS-Panzereinheit (offenbar der Waffen-SS-Division 'Wiking') als Dolmetscher und kümmerte sich um erbeutete sowjetische Fahrzeuge. Ausdrücklich heißt es im Lebenslauf: 'Nahm persönlich am Einsatz gegen Kiew und an der Vernichtung der Juden teil.' Anschließend „half“ er mit anderen ehemaligen Rotarmisten bei der 'Bekämpfung der Partisanen' – zu dieser Zeit gleichbedeutend mit massenhafter Erschießungen meist von Juden.

Anfang 1942 wechselte er als 'Hiwa-Inspektor', also als Offizier der ukrainischen Hilfswachmannschaft, in den Dienst der Feldkommandantur 197 unter dem Oberstleutnant Münchau. Ab dem 1. August 1942 firmierte er als 'Haupt-V-Mann' mit der Nr. 30 für die Nachrichtenabteilung (Ic) bei Befehlshaber des Heeresgebietes Süd in der besetzten Ukraine und berichtete über (echte oder angebliche) Aktivität von sowjetischen Partisanen.

Über die ganz besonders brutale Wirklichkeit in der Ukraine, besonders 1943/44, hat der Historiker und Journalist Johannes Spohr 2020 eine enorm materialreiche Doktorarbeit vorgelegt (MetropolVerlag Berlin. 558 S., 34 Euro). Ihm geht es 'Loyalitäten und Gewalt im Kontext der Kriegswende' – genau dafür dürfte auch der Fall Konstantin Dobrowolski ein Beispiel sein.

Zwei der Akten enthalten vorwiegend Ermittlungen zu Dobrowoslski, der von verschiedenen anderen Kollaborateuren belastet wurde. Zum Jahreswechsel 1941/42 und erneut ziemlich genau ein Jahr später, bezweifelten seine deutschen Vorgesetzten offenbar die Verlässlichkeit des Ukrainers. Folgen hatten die Vorwürfe und Beschuldigungen nicht. Der mit knapp 200 Blatt umfangreichste der drei Bände, die Arbeitsakte zu 'V-30' von Mitte Januar bis Mitte November 1943, gewährt einen tiefen Einblick in die Tätigkeit eines Kollaborateurs und gewiss vielfachen Mörders.

Anscheinend war er recht erfolgreich darin, Informationen zu sammeln – ob sie allerdings alle oder auch nur zum größeren Teil stimmten, ist nicht sicher. Zum Beispiel widersprach Dobrowolski Nachrichten, laut denen bei einer Partisanen-Gruppe in einem Wald Fleckfieber ausgebrochen sei. Es handele sich um 'irreführende Gerüchte'. Der zuständige Nachrichtenoffizier, ein Major Klaus Wiese, glaubte dem 'V-Mann Nr. 30'.

Am 4. März 1943 bat Dobrowolski schriftlich um die Verleihung des Verwundetenabzeichens, das er bisher nicht bekommen hatte. Offenbar waren seine deutschen Vorgesetzten zufrieden mit ihm; ein Major Adler unterstützte das und schlug ihn zusätzlich für eine Tapferkeitsauszeichnung vor. Eine Rolle dürfte gespielt haben, dass Partisanen auf Flugblättern ein Kopfgeld von 50.000 Rubel auf Dobrowolski ausgesetzt hatten.

Anfang 1943 gebar Dobrowolskis Ehefrau ihr erstes Kind, den späteren Vater von Blaise Metreweli. Major Wiese stellte am 22. Februar 1943 einen Passierschein für Mutter und Sohn aus, der ihr die Reise von Snowsk nordöstlich von Tschernigow nach Uman in der Zentralukraine erlaubte. Drei Monate später erhielt sie ein weiteres Papier, durch das die deutschen Besatzungsbehörden sogar angewiesen wurden, ihr 'jederzeit Schutz und Hilfe zu gewähren'.

Das letzte Blatt in dieser Akte datiert vom 15. November 1943; es handelt sich um einen Entwurf für die offizielle 'Beurteilung' Dobrowolskis im Namen des Kommandierenden Generals der Sicherungstruppen Süd. Demnach sei er 'ein überzeugter Gegner des Bolschewismus und demgemäß bei den Bolschewisten der bestgehasste Mann'. Er sei 'zielbewusst', außerordentlich 'energisch' und habe 'hervorragende Führereigenschaften'. Die Beurteilung gipfelte in der Formulierung: „ein zuverlässiger Kamerad und begabter Bandenkämpfer“.

Die Akte enthält keinen Hinweis, dass diese Beurteilung noch ausgefertigt worden wäre. In der zweiten Septemberhälfte 1943 hatte die Roten Armee die deutschen Heeresgruppen Mitte und Süd aus dem bisherigen Einsatzgebiet von Dobrowolski zurückgedrängt. Seine Frau und seinen Sohn konnte er von Uman aus nach Deutschland schicken – ein Privileg, das längst nicht jedem Kollaborateur zuteilwurde.

In den Akten des Bundesarchiv-Militärarchivs gibt es nur noch eine spätere, allerdings ungewisse Erwähnung Dobrowolskis. Im Februar 1944 wurde eine Kosakeneinheit aufgestellt, in der auch ein 'Jagdkommando' unter Befehl eines gewissen 'Doprowolski' aufging. Ob das Konstantin Dobrowolski war, muss mangels weiterer Quellen offen bleiben. Damit aber verliert sich seine Spur.

Unter seinem echten Namen ist er jedenfalls nicht in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten, denn noch 1969 taucht er (mit leicht abweichenden Details) in einer Fahndungsliste des KGB auf. Entweder starb Dobrowolski bei den enorm blutigen Kämpfen in der westlichen Ukraine oder Polen oder er tauchte unter falschem Namen unter. Am 10. September 1944 jedenfalls gab es offenbar schon länger keine Spur mehr von ihm, denn in der russischsprachigen, in Berlin veröffentlichten damaligen Zeitung 'Trud' erschien eine Suchanzeige für ihn und zwei andere Vermisste, wie der russische Exiljournalist Iwan Tolstoi festgestellt hat, der für Radio Free Europe / Radio Liberty arbeitet.

Dobrowolskis Ehefrau, nach eigenen Angaben Witwe, heiratete 1947 schon in ihrer neuen Heimat Großbritannien David Metreweli, einen Exil-Georgier, der ihren Sohn Konstantin aus erster Ehe adoptierte. Als Constantine Metreweli studierte der junge Mann 1966 in London Medizin, spezialisierte sich auf Radiologie und arbeitete viele Jahre an einem Klinikum in Hongkong.

Natürlich können Kinder nie etwas für ihre Eltern und erst recht nicht für ihre Großeltern – man kann ihnen deshalb deren Taten nicht zum Nachteil anrechnen. Allerdings gibt es eine Ausnahme: Wenn sich Kinder oder Enkel öffentlich unkritisch auf ihre Vorfahren beziehen, sie eventuell sogar verteidigen, dann sieht es anders aus."

                                                                                                                        Sven-Felix Kellerhoff

 

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