|

Neue Zürcher Zeitung
05. Dezember 2025, 05.20 Uhr
"Der
grosse Herrscher Dschingis Khan hatte die Bedeutung der Schrift
früh erkannt. In seiner Jugend in der zweiten Hälfte des
12. Jahrhunderts gab es noch keine einheitliche Schrift für die
mongolische Sprache. Er wusste aber, dass er sie brauchte, um sein
riesiges Reich durch eine strikte Verwaltung zusammenzuhalten. So
beauftragte er einen kundigen Schreiber, die erste mongolische
Schrift zu entwickeln.
Bei offiziellen
Versammlungen des Hofs musste nun jedes Wort des Khans
aufgezeichnet und übersetzt werden. Eine Fülle von Schriftstücken
wurde produziert und im ganzen Land verbreitet. Alle Untertanen
sollten wissen, was der Herrscher ihnen zu sagen hatte.
Dschingis Khan dachte
modern, er verstand die Macht der Sprache sehr gut. Als Herrscher
des grössten Imperiums, das es jemals auf Erden gab, wusste er um
die Bedeutung von Vernetzung und Kontrolle. Das mongolische
Weltreich erstreckte sich damals von China über die Türkei und Iran
bis nach Russland hinein. Fremde Völker wurden unterworfen und in
das eigene gesellschaftliche System integriert.
Die nomadische
Lebensweise mit ihrer mobilen Struktur bot die ideale Voraussetzung
für erfolgreiche Kriegszüge und die Bildung von Gefolgschaften.
Machtzentren wurden gegründet und wieder verlassen, Expansion war
das einende Ziel. Es war das Prinzip der Steppe: Man blieb an einem
Ort, solange man ihn brauchte, und eroberte sich dann neue Gebiete.
Dschingis Khan ist noch
heute in der Mongolei sehr präsent. 2021 wurde in der Hauptstadt
Ulaanbaatar der neue Chinggis Khaan International Airport
eingeweiht, 2022 das Chinggis Khaan National Museum eröffnet. In
der Geschichte des Landes ist durchaus gegenwärtig, dass die
Kriegszüge des Herrschers blutig waren und dass er seine Macht
durch eine brutale Strategie der Unterwerfung aufrechterhielt.
Die um das Jahr 1240
verfasste erste Geschichte der Mongolen berichtet über das Leben
des Khans, er sei mit einem «Blutklumpen in seiner rechten Hand»
geboren worden. Es war die Vorhersehung der Grausamkeit des
Eroberers. Gleichwohl ist Dschingis Khan für die Mongolen bis heute
die zentrale Figur der grossen Geschichte ihres Volks.
Weit ist das Land, und
reich ist die Geschichte der Mongolei. Der florierende Handel und
die vielfachen Einflüsse – China, Türkei, Iran, Europa – förderten
den Austausch von Religionen, Wissenschaft und Waren über die
Jahrhunderte hinweg. Von der Mongolei aus wurde die Seidenstrasse
kontrolliert. Dennoch ist das Land für den Westen in mancher
Hinsicht Terra incognita.
Das Bild von Ferne und
Wildheit prägt bis heute die Vorstellung. Man denkt an Hirtenzelte,
Viehherden und Steppen von einem Horizont zum anderen. Es ist ein
Bild, das tatsächlich existiert. Daneben aber gibt es Städte mit
Hochbauten und Kulturzentren, mit Industrie, Slums und Smog. In
kaum einem anderen Land steht das Land in so scharfem Kontrast zur
Stadt wie in der Mongolei.
Für das Museum Rietberg ist die Ausstellung thematisch ein
Novum. In Kooperation mit dem Chinggis Khaan National Museum
entwirft sie die Geschichte des Landes von der Gegenwart aus. Im
zentralen Raum am Beginn des Rundgangs tritt man in die offene
Konstruktion einer Jurte, des traditionellen Wohnzelts der
mongolischen Hirten. Im Innern laufen Monitoren mit Videos vom
Stadtleben in Ulaanbaatar. Rings um die Konstruktion hängen
raumhohe Foto-Projektionen: weidende Pferde, Hirten auf dem
Motorrad und mit weissem Kunststoff gedeckte Jurten. Es ist das
Nebeneinander von Tradition und Gegenwart, das hier sichtbar wird.
Tatsächlich lebt heute
ein grosser Teil der Bevölkerung noch immer als Nomaden, sogar in
der Megacity Ulaanbaatar. An den Rändern der Stadt formieren sich
die Jurten zu ganzen Siedlungen. Viele Mongolen ziehen das Rundzelt
einer baufälligen Wohnung vor. Doch die Grundlage ihrer Existenz
als Hirten können sie in die Stadt nicht mitnehmen. Armut und
Verelendung sind die Folgen. Der Künstler Lkhagvadorj Enkhbat aus
Ulaanbaatar stellt diese Situation drastisch dar: In Schichten von
schäbiger Kleidung vergraben und umgeben von Müll, suchen sich drei
Obdachlose vor der Kälte zu schützen. Das hyperrealistische Gemälde
trägt den Titel «Supermarkt».
Für das Museum Rietberg ist die Ausstellung thematisch ein
Novum. In Kooperation mit dem Chinggis Khaan National Museum
entwirft sie die Geschichte des Landes von der Gegenwart aus. Im
zentralen Raum am Beginn des Rundgangs tritt man in die offene
Konstruktion einer Jurte, des traditionellen Wohnzelts der
mongolischen Hirten. Im Innern laufen Monitoren mit Videos vom
Stadtleben in Ulaanbaatar. Rings um die Konstruktion hängen
raumhohe Foto-Projektionen: weidende Pferde, Hirten auf dem
Motorrad und mit weissem Kunststoff gedeckte Jurten. Es ist das
Nebeneinander von Tradition und Gegenwart, das hier sichtbar wird.
Tatsächlich lebt heute
ein grosser Teil der Bevölkerung noch immer als Nomaden, sogar in
der Megacity Ulaanbaatar. An den Rändern der Stadt formieren sich
die Jurten zu ganzen Siedlungen. Viele Mongolen ziehen das Rundzelt
einer baufälligen Wohnung vor. Doch die Grundlage ihrer Existenz
als Hirten können sie in die Stadt nicht mitnehmen. Armut und
Verelendung sind die Folgen. Der Künstler Lkhagvadorj Enkhbat aus
Ulaanbaatar stellt diese Situation drastisch dar: In Schichten von
schäbiger Kleidung vergraben und umgeben von Müll, suchen sich drei
Obdachlose vor der Kälte zu schützen. Das hyperrealistische Gemälde
trägt den Titel 'Supermarkt'.
Die Werke zeitgenössischer Künstler sind in die Ausstellung
integriert und begleiten die kostbaren Fundstücke der Geschichte
als Stimmen der Gegenwart. Der grösste Teil des Rundgangs ist den
Jahrhunderten der Vergangenheit gewidmet, den Machtzentren der
Herrscher der Xiongnu, der Kök-Türken und der Uiguren, den
Vorläufern des Reichs von Dschingis Khan. Von ihren Kulturen künden
die Artefakte aus Grabungsstätten: Figuren, Goldschmuck,
Wandteppiche, Schriften – über zweihundert Objekte. Es ist die
Mongolei der archäologischen Wissenschaft, der fragmentierten
Dinge, die uns manchmal rätselhaft gegenüberstehen.
Eine mythische
Wächterfigur mit Vogelschnabel, menschlichem Gesicht und dem Körper
eines Rindes hat sich mit kompletter Bemalung erhalten. Sie stammt
aus einem Grab aus der Zeit des Türkenreichs vom 7. zum
8. Jahrhundert. Mit weit aufgerissenen Augen schaut das seltsame
Wesen in die Höhe, unverrückbar und starr wie eine Sphinx.
Zweifellos hatte es eine göttliche Funktion für die Bestatteten.
Wir kennen die Bedeutung nicht. Doch die mythische Kraft der Figur
hat sich bewahrt – wie eine Aura, die bis in die Gegenwart
hineinwirkt.
Schamanentum und Buddhismus überlagern sich in der
Geschichte der Mongolei. Noch heute werden von Nomaden
schamanistische Rituale praktiziert. Ulaanbaatar geht auf die
Gründung eines buddhistischen Klosters im 17. Jahrhundert zurück.
Urga, die heilige Stadt, war ein 'Jurtenpalast', ein Lager aus
Zelten, das umherzog und fast dreissigmal seinen Ort wechselte.
Erst im 19. Jahrhundert wurde es dauerhaft am heutigen Platz
errichtet. Der Name Ulaanbaatar ('roter Held') ist erst seit 1924
etabliert und stammt aus der Zeit der sowjetischen Herrschaft.
Immer wieder kommt man
in der Ausstellung auf die nomadische Siedlungsstruktur zurück. Das
Zeltlager als Ausgangsort für Herrschafts- und Religionsausübung
und vor allem – für Kriegszüge. Die erfolgreichen Eroberungen der
mongolischen Krieger hingen mit der Taktik der Beweglichkeit
zusammen. Der Hofstaat war nicht statisch, er konnte jederzeit auf
Wagen geladen und an einen anderen Ort gebracht werden. Wohl gab es
Kultstätten und eine Art von Städtebau wie das mittelalterliche
Karakorum, die auf Dauer angelegt waren. Doch sie wurden mit dem
Untergang der Reiche wieder verlassen und zerstört. Karakorum ist
heute eine Ruinenstadt.
Die rasenden Reiter auf
ihren kleinen Pferden – auch sie gehören zum kriegerischen Mythos
der Mongolei. Eine mongolische Armee bestand vor allem aus
Reitersoldaten. Das Pferd der Nomaden, eine Art Pony von etwa 145
Zentimetern Schulterhöhe, ist äusserst kräftig und kann weitere
Strecken bewältigen als jede andere Pferderasse. Der Künstler
Erdenebayar Monkhor hat diesem Symbol ein schlichtes, hölzernes
Denkmal gesetzt. Rot bemalt, steht es auf einem abstrahierten
Sockel. Ein Altar für das Pferd. Vielleicht hätte es das
mongolische Grossreich ohne seine Kraft gar nicht gegeben."
Maria Becker
|