Der Gummibär

Über das Wochenende hatte das Massaker am Gutenberg-Gymnasium seine Einzigartigkeit verloren und war zu einem Politikfeld geworden, das Mehrheit und Opposition wie gewohnt bestellten. Auch diese Tragödie konnte im eigenen Land niemals und jederzeit geschehen, bewies die Notwendigkeit und den Irrweg verschärfter Kontrollen und war letztlich ein Resultat des früheren Kollektivismus,  des gegenwärtigen Leistungsdrucks und der ungenügenden Unterstützung für die Bundesregierung.  So prinzipielle Erklärungen gaben bei der Mehrheit der Ministerpräsident und bei der Opposition die Fraktionsvorsitzenden ab, und sogar die Kollegen, die sich in Paragraphen und Statistiken ausgedrückt hatten, waren in allen Zeitungen zu namenlosen Fachleuten aller Fraktionen verschmolzen.

Isabel gähnte, riss die Entschuldigungsschreiben des Aufschwungs und die Orakelsprüche für die Bundestagswahl aus dem Pressespiegel und lochte sie für ihre Kompetenz-Ordner. Wenigstens musste sie für die alten Nachrichten nicht selbst bezahlen, und die dienstbaren Geister im ersten Stock schnitten sie ihr aus dem Dickicht der Börsen-Berichte und Immobilien-Anzeigen.

Aber auch „Der Spiegel“, den sich Isabel nach hause liefern ließ, war ihr blanker und farbenfroher vorgekommen, als sie ihn noch im Giftschrank der Bibliothek gelesen hatte, durch ein Schreiben ihrer Hochschule privilegiert. Es war nicht ganz einfach gewesen, ihrem Professor zu Beginn jeden Semesters neu zu erklären, warum das Mittelalter nicht ohne eine solche Ausnahmegenehmigung zu studieren war, aber der zwergenhafte und maulwurfblinde Buchhalter des Geheimwissens erwies sich  regelmäßig als noch misstrauischer. Er verglich jede einzelne Bestellung mit dem Forschungsauftrag und befand zum Beispiel, dass Michail Bakunin nicht dazu passte. Bei Chruschtschows Rede auf dem XX. Parteitag nickte er verständnisvoll, „Eros in der Politik“ rückte er nur kopfschüttelnd heraus, und obwohl Isabel und er recht gute Bekannte wurden, verstanden sie sich nie wirklich.

„Mein Kampf“, flüsterte er eines Herbstnachmittags. „Interessiert Sie das denn gar nicht?“

„Nee, wirklich nicht“, sagte Isabel. „Aber ich verrate bestimmt niemandem, dass Sie hier unter gekommen sind.“

Der kleine Mann glotzte ein bisschen, bevor er hinter den dicken Gläsern große weiße Augen bekam und nach der frischen Luft schnappte, die es in seinem Reich hinter der Stahltür mit Klingel und summendem Öffner nicht gab.

Isabel hätte es ihm nicht verübeln können, wenn er ihr danach nicht einmal mehr Karl Marx über seinen Tresen geschoben hätte, aber tatsächlich legte er ihr seitdem die Zeitschrift mit dem rot geränderten Titel ganz ungefragt hin, und sie ließ seitdem auch keins der Hefte mehr aus. Wenn eine Titelgeschichte uninteressant war, fand sie noch immer ein irgendwie beachtliches Hintergrund-Kästchen, und warum sie sich die Anzeigenseiten so gern ansah, mochte sie sich lieber nicht eingestehen. Uhren aus der Schweiz, amerikanische Straßenkreuzer und bundesdeutsche Lebensversicherungen gehörten zu den zahlreichen Dingen, derer sie nicht mehr bedurfte als der Philosoph Diogenes, und es war empörend, dass das Kapital ihre blonden und gelben, schwarzen und roten Schwestern zu BH-Ständern, Animier-Trinkerinnen und Lustobjekten degradierte. Trotzdem fuhren Isabels Augen jedes Mal aufmerksam die Muskelstränge cremebrauner Bodybuilder ab und brachen ihre Gedanken unter den gelben Sumo-Gebirgen zusammen. Den Glanz kunstvoll verbogener Mädchen, groß aufgenommener Häute, gleichmäßig verriebenen Öls und raffiniert perlenden Schweißes nahm sie sogar in ihre Träume mit. So wie Brombeer-Sträucher sogar aus gesiebter Erde wieder hervor wucherten, spross da wohl gelegentlich ein bei ihrem Sportunfall nicht ganz durchrissener Gedankenstrang aus dem Unterbewusstsein hoch, bis in ihr vierzigstes Jahr.

Isabel klemmte den Hefter mit den Kleinen Anfragen unter den linken Arm, schob auch Kalender, Schreibblock und Federtasche darunter und nahm die IKEA-Thermosflasche mit dem Süßstoff-Mokka in die Hand. Weil sie für die Sitzungsdauer das Zimmer abschließen musste, musste sie die Zigarettenschachtel zwischen Kinn und Hals und das Feuerzeug zwischen die Zähne nehmen.  

Punkt 0 jeder Tagesordnung war die allgemeine Rauchpause, vor dem Aquarium mit der stumm anklagenden Uhr und der stoisch abwartenden Stellvertretenden Vorsitzenden. Auch Isabel legte nur die Bürde ihres Amtes ab, gab die Hand und ging wieder nach draußen, um sich erst einmal zwischen den Tagesfraktionen in der Fraktion zu orientieren. Das war besonders wichtig, wenn es keine richtigen Streitpunkte gab, und es war geradezu eine Frage des politischen Überlebens, weil Isabel genau zwischen dem jungen Gemüse und den alten Hasen ergraute und unter den Realpolitikern als Stalin-Denkmal und unter den Stalinisten als Trotzkis Urenkelin galt.

Als zweiter Tagesordnungspunkt war Hauff aus der Bundeszentrale herunter gekommen, nur geographisch betrachtet, wie er festgestellt wissen wollte. Historisch gesehen war er zu seinen Anfängen zurückgekehrt, als ein nichtrauchender Berg zu den qualmenden Propheten der anderen Politik, und persönlich konnte Isabel ihm ohne Groll zu nicken. Er hatte ihr nie eine Pressemitteilung geschrieben, als das vielleicht noch seine Aufgabe gewesen war, und deshalb war sie auch nie in sein Angestelltenbüro gestürmt, um als Prüfungs-Nachholerin aus dem Lehrerzimmer verabschiedet zu werden. Isabel nickte Hauff also zu, aber sie ließ sich doch von Frank mit einer F 6 für die Dissidentenfraktion ködern.

„Unser GRÖPAZ“, flüsterte Frank auf das Fauchen des Feuerzeugs. „Na, der Größte Pressesprecher Aller Zeiten! Das gibt nachher doch eine Katastrophe.“

„Nachher, das geht doch noch“, sagte der Gesundheitspolitische, der sich sogar links vom Aschenbecher hielt. „Da wartet erst mal den September ab! Du hast hoffentlich noch keine Wohnung in Bonn gemietet, Carmencita?“

„Bonn heißt doch jetzt Berlin“, meldete sich Simone, die realpolitische Kreislaufpolitische, in der Regenbogenfraktion an. „Und wir stehen ja noch nicht mal auf der Landesliste, Isa und ich.“

„Ich kämpfe um ein Direktmandat“, formulierte Isabel das stolzer. „Und nur, wer nicht kämpft, hat schon verloren... Guter Spruch, auch wenn ich ihn bei Brecht wirklich nicht gefunden habe.“

„Und Brecht kannte Aschenbach nicht“, wusste die Kreislaufpolitische Bescheid.

Simone hatte das Kaff schließlich schon lange vor Isabel entdeckt, in einem Sensationsartikel über den Gewohnheits-Bürgermeister, der sich am eigenen Hals aus dem Sumpf der Korruption gezogen hatte. Alles, was in Aschenbach noch hergestellt wurde, waren die Brötchen des Altmarkt-Bäckers, und das Wappentier des aus Abwasser-Fördermitteln angelegten Golfplatzes war bei Ferrari gestohlen. Aschenbach war also ein guter Ort gewesen, um sich dort im Kandidieren zu üben, weil dort niemand ernsthaft gewinnen wollte und die örtlichen Konsevativen auch noch in die Arschgeigen von der CDU und die Arschlöcher von der DSU gespalten waren. Die SPD hatte dort mehr Abgeordnete als Mitglieder, und den unabhängigen Kandidaten hätte Simone schon aus der Politik weg geheiratet, wäre der eigene Kreisfürst nicht so uneinsichtig gewesen.

„Wir waren mal sozialistische Kreisstadt, aber auch jetzt sind wir noch kein Politik-Sandkasten für Soziologie-Praktikanten!“

„Magistra bin ich schon...“

„Und das in deinem Alter“, sagte Scheer, tatsächlich mitfühlend oder besonders gemein. „Dann solltest du dich lieber ein bisschen schonen.“

„Das ist ein Uni-Abschluss! Mehr als ein einfaches Politologie-Diplom!“

Scheer nickte nachsichtig. „Aber unser Deutschlehrer ist Doktor. Und er ist zwar ein ganz schlecht verkleideter Sozialdemokrat, aber wenigstens hat er hier sein Häuschen.“

„Da würde ich mir als Bürgermeisterin doch auch bauen lassen“, versprach Simone. „Und ihr werdet doch Genossinnen und Genossen Unternehmer und Handwerker haben?“

Scheer schob den Bauch aus dem offenen Jackett vor und bettete das Kinn auf das Doppelkinn wie einen Karl-Marx-Orden auf sein Kinn.

„Kindchen... Einer der Baumarkt-Chefs ist Mitglied bei uns! Aber du willst uns doch nicht etwa bestechen?“

„Quatsch! Natürlich nicht!“

Es gab einfach Worte, die man nicht verwendete, aber in Aschenbach war vielleicht Simones routinierte Entrüstung der größte Fehler gewesen. Jedenfalls mussten die Aschenbacher  Genossen danach erfahren, dass nur ein Fünftel der abstimmenden Bürger angenehme Erinnerungen an das Auswendig Lernen der „Bürgschaft“ hatten, und im zweiten Durchgang hatte dann der Unabhängige gewonnen.

Simone musste also aus politischer Erfahrung und aus persönlichen Gründen verzichten, als die neue Landtagsfraktion ihre Abgeordnetenbüros über das Land verteilte, um möglichst flächendeckend ihre Namensschilder anschrauben und der Partei mit der Anstellung der Persönlichen Mitarbeiter helfen zu können. Umgekehrt war Isabel so arglos zu ihrem Aschenbacher Büro gekommen, wie sie auf die schiefe Bahn zu ihrem ersten West-Job geraten war.

Obwohl sie acht, neun Jahre zuvor selbst beim Hexenprozess zugesehen hatte, erkannte Ramona ihre alte Schamanin wieder, bevor Isabel mit den Kindern ganz in der Dinosaurier-Ausstellung war. Mit kundigem Blick schätzte sie die grün-schwarze Kleidersammlung aus Parka, Weste und Sweetshirt ab, und sie beschriftete eine Freikarte für den Plasteanhänger, den sie Isabel zur Begrüßung an die Kapuzenkordel zwickte.

„Ich wusste es doch“, schrie Ramona bei der Zwangsumarmung in Isabels rechtes Ohr. „Ich habe mich eben noch nie in den Menschen getäuscht! Okay, in Manne, was mein Mann war, habe ich mich getäuscht... Aber das lag ja an den Hormonen!“

„Ja, mit den Hormonen ist wirklich nicht zu spaßen“, sagte Isabel unsicher.

„Und politisch in Gorbatschow, klar! Aber eure Mutter...“ Ramona bückte sich etwas und schüttelte Florian und Linda die Hände. „Alle Studenten sind auf die abgefahren wie ein T 34, und ich, ich war geradezu verknallt in sie! Ach, das war schon eine verrückte Zeit!“

„Verrückt bin aber nur ich geworden“, erinnerte Isabel und erinnerte sich langsam. „Ramona? Und hieß es nicht, dass ihr mich einstimmig ausgeschlossen habt?“

„Na, ja...“ Ramona stellte sich steif hin und senkte den Kopf, eine gelernte und noch nicht alt gewordene FDJ-lerin am Heldengrab. „Das wollte die Kreisleitung doch so! Und das ist es ja, was ich meine: jemand wie du hat doch gar nicht in die SED gehört! ...gepasst! Nicht in diese, in diesen feigen und humorlosen Haufen... Das war... Du, Isa, ich war damals noch nicht mal zwanzig!“

„Ja, klar. Ich absolviere dich“, sagte Isabel. „Immerhin war ich fast fünfundzwanzig und schon beinahe Doktor. Praktisch reif für den Vorruhestand... Und ich überlege ja auch, die ganze Hochschule zu meinem zehnten Arbeitsamts-Jubiläum einzuladen.“

Irgendeinem Tafeldienst war damals aufgefallen, dass ihre Assistentin kaum weniger Worte machte als der Geschichts-Professor, und erschwerend kam noch hinzu, dass es etwas andere Worte waren. In den ersten Aussprachen entschuldigte sich Isabel amüsiert und erfolgreich mit dem karnevalistischen Weltempfinden, über das sie promovieren sollte.  Dazu gab es sowjetische Fachliteratur, und der Professor hielt es für eine fröhliche Sache, wenn sie im Lachen nicht nur eine Herausforderung sondern auch eine Quelle des wissenschaftlichen und realen Sozialismus entdeckt hätte. Isabel hatte als Bücherwurm Rabelais, Swift, Marx, Hasek und Brecht zu ausreichend Beispielen verdaut, aber den wirklich verantwortlichen Genossen konnte sie ehrlich und musste sie rituell zugeben, dass sie sich gar nicht mit ihren Göttern vergleichen wollte. Mit den Solidaritäts-Zigaretten ihres Professors begann sie vor dem Parteileitungszimmer ihre Drogen-Karriere, und nach zwei Wochen war ihr auch klar, dass sie durch die gesammelten Studenten-Mitschriften kaum zum Hegel ausgerufen werden würde.

Der Chef-Inquisitor der Kreisleitung knurrte über den bei Aufbau verlegten Brecht, der Isabels Urteil über Galilei als klassisch auswies, aber dann spielte er die Szene nach, die George Lucas eine Tantiemen-Zahlung von zwei Kilometer Bücherregalen für IKEA eintrug. Sein Krötenkopf versank im glattrasierten Doppelkinn, und er verhielt sich zu Isabel wie der Star-War-Pudding zur leicht verschleierten Prinzessin Rhea. Nur die schwere Halskette fehlte, und der Doktorvater würde nicht wie Han Solo rechtzeitig auftauen.

„Aber dass das mit Kolumbus als Anspielung auf die soziale Herkunft unseres Genossen Generalsekretär verstanden werden könnte, das kannst du doch nicht bestreiten! Genossin Krieger...“

„Doch“, sagte Isabel.

„Das ist eine ziemlich gemeine Unterstellung“, sagte der kleine Professor tollkühn.

„Das ist eine Tatsache“, sagte der Chef-Inquisitor. „Eine Studentin, zumindest eine, hat das als eine solche Anspielung verstanden. Und wie ich solche Vorfälle kenne, würde es mich sehr wundern, wenn das in der Mitgliederversammlung nicht zur Sprache kommen würde!“

Der Pudding ächzte und wabbelte zufrieden, aber immer noch kompromissbereit.

„Es ist ja nur eine gemeine Unterstellung, dass das eine Anspielung sein könnte“, sagte Isabel stolz. „Ich finde, dass man das gar nicht direkter ausdrücken kann! Es bedeutet doch, dass, mit den Werktätigen im Rücken, sehr wohl ein Dachdecker aus einer provinziellen Streusandbüchse eine industrielle Großmacht machen kann, dass mit genügend Leuten hinter sich ein kleiner Möbelpacker einen Mords-Polizisten abgibt, nicht?“

„Ich finde Lenins Formulierung angemessener“, versuchte der Professor noch einmal, sein Doktorkind zu retten. „Jede Köchin kann lernen...“

„Nein, nein“, triumphierte der Star-Wars-Pudding. „Diese sogenannte Diplomlehrerin und Assistentin nimmt uns einfach nicht ernst!“

Isabel riss begeistert die Augen auf und nickte.

Das war weder das erste Flackern ihres Wahnsinns noch war es eine Art pädagogischer Widerstand, sondern ganz einfach eine ästhetische Frage und eine Probe auf ihre Promotions-Thesen. Um bei den Leuten anzukommen, durfte die Aufklärung witzeln und zoten, und während die Inquisition noch meinte, einer kleinen Ketzerin das Sterbeglöckchen zu läuten, würde ein ganzer Hörsaal merken, welche Stunde die Kreml-Uhren mittlerweile schlugen. Aus der noch unvermeidbaren Rüge eines potentiellen Missverständnisses würde vielleicht eine schwere Rüge werden, weil Isabels Quelle aus dem Westen mitgebracht worden war, aber Bachtin hatte mit dieser Überzeugung sogar Stalin überlebt: „Die herrschende Macht und die herrschende Wahrheit schauen nicht in den Spiegel der Zeit. Daher kennen sie weder ihren Ursprung, ihre Grenzen und ihr Ende, noch sehen sie ihr altes, lächerliches Gesicht, das Komische ihres Anspruchs auf Ewigkeit und Unaufhebbarkeit. Sie spielen ihre Rolle mit Ernst und in seriösem Ton, während die Zuschauer schon lachen.“ Da konnte für Isabel nichts schief gehen.

Allerdings war in Isabels Genick eine Schraube locker oder ihr Puls ging trotzdem vor. Sie legte sich am Abend nach dieser Vorrunde in ihr Kinderzimmer-Bett, und sie wachte ein paar Visionen später im elfenbein-gestrichenen Gitterbett einer industriellen Klapsmühle auf, und an der Hochschule studierten einfach zu wenige Indianer mit ihrer traditionellen Ehrfurcht vor den verrückten Lieblingen Manitus. Isabel wurde in absentia exkommuniziert, auch wenn sie wegen ihrer Krankheit nicht sofort dem weltlichen Arm übergeben und beim nächsten Probe-Fahnenappell der Pionierleiter verbrannt werden konnte. Ihr Stamm-Besucher brachte ihr das vorsichtig bei, und weil sie sowieso die meiste Zeit herumlag, lag nun ihr Jesus-Projekt nahe. Damals beschloss Isabel, von ihrem Stamm-Besucher einen Sohn zu bekommen, so unmenschlich vernünftig, wie sie in der Dinosaurier-Ausstellung beschloss, Ramona nicht böse zu sein. 

 Weil sie aber nicht wusste, was sie als Parteitags-Beobachterin der Ökologischen Plattform zu tun hatte, führte Isabel die Kinder in die Schlange vor dem Bockwurst-Kessel, und damit begann alles. Nach dem ersten Biss in die Wurst wurde Isabel von einem bärtigen  Neandertaler angefallen, der ohne Umstände nach ihrer Brust griff, aber doch nur den zoologischen Namen der Exotin wissen wollte.

„Schmeckt es?“

„Phhh... Wie Bockwurst eben schmeckt...“

„Tja, wenn sie dir schmeckt, dann könntest du doch aber noch mal mit deinen Leuten reden, nicht?“

„Also das ist bestimmt ein Missverständnis...“ Isabel griff nach dem Anhänger seiner Lederjacke. „...Genosse Grundsatzkommissar!“

„Grundsatzfrage, Missverständnis oder Übertreibung... Mir ist völlig Wurst, wofür ihr das haltet! Und selbstverständlich gehört ihr immanent zu uns, aber wir sind trotzdem nicht die Grünen!“ Der Kommissar hob seine Bockwurst wie ein proletarisches Artefakt in Augenhöhe. „Wir wollen hier unsere Regierungsfähigkeit beschließen! Und was tut ihr? Ihr beantragt eine Pausenversorgung  mit Tofu-Würstchen! Und dabei fresst ihr selber Schweinefleisch...“

„Ach...“

Eigentlich sah sich Isabel ja nur nach ihren verschreckten Kindern um, aber der Kommissar, der Frank hieß und sie später manchmal zu dritt zum Grillen auf sein Grundstück einlud, hielt das für einen gespielten jüdischen Witz. Er entschuldigte sich für seine Beleidigung ihrer religiösen Gefühle, lud Isabel auf einen Plastebecher Rotwein ein und starrte intensiv auf die Bescherung hinter dem Plasteschild. Isabel versuchte, einen halbwegs witzigen Satz zu husten, und wieder entschuldigte sich Frank, sah auf die Uhr und führte seinen Fang in das große Freigehege der pflanzenfressenden Modemuffel ab. Hinter einer Glasscheibe ließ Ramona für Linda lila Luftballons mit Edelgas füllen, und darum klemmte sich Isabel erst einmal wie alle anderen an eine Tischkante.

„Wir werden nicht alles durchsetzen können“, sagte der einzige von ihnen, der seit Jahrzehnten die Kürbisse im Ganzen schluckte. „Und ich denke, wir müssen uns schon zwischen dem Antrag zu den regionalen Wirtschaftskreisläufen und dem Antrag zur Parteitags-Versorgung entscheiden...“

Bis auf Isabel und die rothaarige Tochter einer pickligen grünen Gurke nickten alle.

„Unsinn“, rief das Mädchen und schwenkte eine Broschüre. „Diese Kreisläufe beschließen sie, weil sie nicht wissen, was das ist! Aber die vegetarische Küche, das wäre mal was Konkretes! Deshalb kotzen die doch so...“

Das Argument schien Isabel logisch, zumal sie noch nie über regionale Wirtschaftskreisläufe nachgedacht hatte, und sie brummte ein bisschen. Hauptsächlich sah sie jedoch in das Spielzimmer hinüber, und als es um sie sehr still wurde, war der Blick des Möhrenhäuptlings mit der wilden Krautfrisur auf sie gerichtet. Der dünne Mann hatte seine Hand erhoben, zusammen mit dem Kürbis und mit zwei Nachwuchskarotten, aber die ebenfalls vierköpfige Gurken-Fraktion war damit eben noch nicht geschlagen.

„Oh, nein... Ich bin gar nicht stimmberechtigt“, sagte Isabel wahrheitsgemäß.

„Aber das ist doch nicht das Plenum“, sagte das Gurken-Mädchen traurig. „An der Basis machen wir keine Unterschiede! Da waren wir uns doch einig, oder?“

Alle nickten.

„Tja, dann...“ Isabel hob trotzdem nur zwei Finger. „Und Frank hatte mich ja sowieso darum gebeten...“

„Frank...“

Das Gurken-Mädchen schniefte.

Über die Lautsprecher des Kongreßzentrums wurden alle Delegierten und Gäste zur Fortsetzung der Diskussion gerufen, und Isabel kaufte den Kindern im Foyer Eis in Waffeltüten und vor dem Saal am Buchstand ein noch antikes, etwas angerissenes „Mosaik“-Heft.

„Die Ost-Mickey-Mouse“, wusste Florian Bescheid. „Aber Mäuse gab es damals ja nicht...“

„Lies trotzdem ein bisschen vor“, verlangte Isabel.

Der von Ramona gefälschte Anhänger genügte auch den Tür-Wächtern, und im Saal folgte Isabel Franks Winken auf seinen leeren rechten, rechten Platz. Sie wollte von der komischen Abstimmung erzählen, aber in der Reihe vor ihr drehte sich eine Zwillingsschwester ihrer alten Russisch-Lehrerin um und klopfte sich mit dem knochigen Finger gegen die in Krepphaut geschnittenen Lippen. Isabel hob beschwichtigend beide Hände. Sie kannte die konfuzianischen Regeln ja noch. Die Greise befahlen, die Älteren lobten sie dafür, und von Isabels Generation an abwärts hatte man zuzuhören. Andererseits war sie ja gekommen, um wieder einmal die auf „Ismus“ endenden Worte zu hören, beruhigend wie volkstümliche Weisen, und beim Umsehen entdeckte Isabel sogar bekannte Gesichter, ehemalige Hochschullehrer und Bekannte und Genossen von Wolfgang.

Als Florian und Linda nach einer Stunde wie Hänsel und Gretel in den Saal kamen und an den Aufbruch erinnerten, hielt Isabel freilich nichts mehr. An der gläsernen Haustür gab sie Ramona das Plastetütchen zurück und schrieb ihr aus purer Gewohnheit noch die neue Adresse auf. Wäre sie nicht die erfolgreiche Hausfrau geworden, hätte sie ja eine Visitenkarte überreicht, für irgendeinen irgendwann einmal wichtigen Fall. Es gab immer wieder West-Filme, in denen die erfolgreichen Alt-68er bei den alten Kampfgefährten vorbeisahen, um die ehrlich abgeschabten Sofas zu bewundern und für eine sentimental trunkene Nacht darauf zu schlafen.

Auf ihrem Sofa amnestierte Isabel damals schon die Tatort-Mörder schnarchend und so zuverlässig, wie Frank alle Abstimmungsrunden über seine Regierungsfähigkeit verlor, was allerdings in keiner Beziehung tragisch war. Isabel hörte so wenigstens das Wecker-Signal, Florian für die Schule aufzurütteln, und niemand wollte ernsthaft von den Exkommunisten regiert werden. Selbst Isabel hätte sie nicht mehr gewählt, hätte diese Gefahr bestanden, und am Lebhaftesten erinnerte sich noch Linda an den Winterausflug. Ihr waren schließlich drei große lila Luftballons bis zur Decke des Kongreßzentrums davon geflogen.

Inzwischen mussten sie immer öfter die himmelblauen Ballons mit der aufgedruckten weißen Taube verteilen und fanden immer mehr Leute, die sie annahmen, und Hauff holte sie auch aus dem Musterkoffer des modernen Agitators, Allerdings seufzte er wie unter einer Zentnerlast.

„Ich weiß ja, wie viele davon bestellt worden sind, aber, liebe Genossinnen und Genossen... Gerade in Wahlkampfzeiten dürfen wir uns nicht dem Antiamerikanismus ergeben und müssen wir darauf achten, nicht die SPD zu provozieren! Wegen Kabul und Bagdad wollen wir weder die ganz große Koalition für den Tierschutz als Staatsziel noch unsere Regierungen in Schwerin und Berlin gefährden. Deshalb setzen wir doch mehr auf ein anderes, mehr privates Latex-Produkt.“ Hauff streute weiße Pappquadrate über dem Präsidiumstisch aus und warf ein paar mehr nach links. „In ist, wer drin ist... Das ist eine auf die jugendliche Zielgruppe abgestimmte Abwandlung unseres Basis-Claims, und damit realisieren wir das, was wir in der Werbung einen integrativen Kommunikationsansatz nennen.“

„Also mir scheint eher, dass das wie ein Kondom aussieht“, resümierte der Gesundheitspolitische die Untersuchung der Papp-Briefchen, deren Weitergabe er aufhielt.

„Also das ist auch ein Kondom“, sagte Hauff vorsichtig. „Natürlich rot und transparent...“

„Aber Schwarze sind geiler“, kicherte die Frauenpolitische in die Verlegenheitspause und wurde so hörbar, dass sie sich erschrocken die Hand vor den Mund schlug. „Behauptet man jedenfalls! Und schwarze Gummis, meinte ich... Ihr dachtet doch nicht etwa...?“

„Fachpolitisch kann ich da nichts gegen haben“, sagte der Gesundheitspolitische und baute den Kondom-Stapel vor Isabel auf. „Aber dass die Bewegung alles, der Zweck gar nichts ist: das soll nun unser Basis... Was auch immer? ...sein?“

 „Zielgruppe Jugend – Kondom – Bundestag... Das ist die Assoziationskette! In ist, wer drin ist... Und umgekehrt, natürlich!“

„Aber so etwas verteilen unsere alten Leutchen nie“, murrte jemand im Sonnenlicht der Fensterseite.

„Wir haben für den Jugendwahlkampf ja auch noch ein Boot gechartert“, sagte Hauff gereizt.

„Auch mit vier Kapitänen drauf“, höhnte der Technologiepolitische so laut, dass ihn zumindest das Tischende der Türseite hörte. „Ein U-Boot wäre jedenfalls passender...“

Der Fraktionsvorsitzende stöhnte. „Christoph, bitte...“

„Schon gut“, sagte Hauff. „Es ist ja nicht so, dass wir solche Zweifel zum ersten Mal hören... Aber was sollen wir denn machen, wenn wir diesmal vier Spitzenkandidaten haben? Und das ist auch ein Alleinstellungsmerkmal, wie wir in der Werbung sagen. Und wen sollen wir denn an CDU und CSU abgeben?“

„Ähhäm“, meldete sich der Gesundheitspolitische wieder.

„Rainer“, stöhnte der Fraktionsvorsitzende. „Bitte nicht noch das!“

„Was bitte ist ein Claim“, fragte der Gesundheitspolitische, grinste und legte noch ein Kondom auf Isabels Vorrats-Stapel. „Vielleicht einer von vier Gründen, uns zu wählen, oder so? Ich hoffe, da hat sich die Werbeagentur auch ein paar ausgedacht?“

„Ja, gibt es vielleicht einen vernünftigen Grund, Stoiber zu wählen“, fragte Hauff düster und lachte falsch. „Und trotzdem werden das viel zu viele Leute machen!“

„Das gibt eine Katastrophe“, wiederholte, links von Isabel, Frank das ursprüngliche Orakel.

Isabel schüttelte den Kopf, weil das immer noch das respektlose Chaos der Dinosaurier-Ausstellung schien, auch wenn sie es für diesen Sommer gegen ein überzeugenderes Konzept des Wahlkampfs eingetauscht hätte. Vielleicht reichte für eine kleine Oppositionspartei ja schon der Spiegel einer Frisier-Fee um ihr altes, lächerliches Gesicht und das Komische ihres Anspruchs auf Ewigkeit und Unaufhebbarkeit zu erkennen. Isabel jedenfalls wollte ihre Rolle als Direktkandidatin nicht mit Ernst und in seriösem Ton spielen, während die Zuschauer schon lachten, und sie setzte auch gleich noch den ganz unnötigen Kondom-Stapel vor Christoph um.

Jeschua

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8

Isa

New Line
Der Gummibär
Tscheka