Kapitel 8

"Wenn Papa das erleben könnte", sagte Joses, "müßte..."

"Unser Papa, der im Himmel ist", sagte ich und nahm der Magd die Wein-Kanne ab, um uns einzugießen, "er ist mir verdammt heilig! Seine Sitten sollten wir pflegen, in allem, vor allem aber in seinem Haus! Unser Brot verdanken wir ihm, und er möge mir vergeben, daß ich erst jetzt selbst auf den Teller packe, was ich zu essen gedenke! Die Versuchung, sich faul zurückzulehnen, ist freilich groß, aber..."

"Jeshua", mahnte Mutter. "Du plapperst statt zu beten!" Sie murmelte Worte, die ich auf meinen Wanderungen längst vergessen hatte und die wohl auch niemand außer ihrem Gott verstehen sollte. "Und bedenke", wandte sie sich noch vor dem ersten Löffel Suppe wieder an mich, "daß du ihnen ihr Brot nimmst: der Magd, indem du den Kellner mimst, und der H... hä Äm, der Negerin, indem du sie mit dir herumschleppst!"

Maria senkte den Blick, als forsche sie in den Händen, ob der dunkele Titel sie meinen konnte oder nur beleidigen sollte.

"Das soll es ja geben", verhöhnte uns Jose, "reisende Freudenhäuser! Und in Jerusalem, da steht die Sorte Frauen schon auf den Straßen herum..."

"Vergiß nicht, wer dein Bruder ist", herrschte Mutter Jose an. "Und daß Satan ihn versuchen wird, steht geschrieben! Und warum sollte er das nicht in der Form einer Buhlerin tun?"

"Gnädige Frau", wollte sich Maria zumindest von unserem Tisch verabschieden.

"Du darfst zu meiner Mutter ruhig 'Mutter' sagen", hielt ich dagegen. Auch unsere Abendessen haßte ich seit Vaters Tod, weil in ihnen alle Heuchelei Nazareths auf den Tisch kam.

Wir waren nur nie arm, aber die Familie brauchte zum Brechen des Brotes und Auflegen der Kalbsleberwürste eine Magd, und unser Senf war die Selbstgerechtigkeit und unser Ketchup die Schadenfreude. Mehr als der dünne Wein machte alle besoffen, daß die Unterstadt nach dem Zusammenbruch der Wasserleitungen nun mit unserem Spülwasser kochte, und das Dessert war irgendeine neu eingeführte römische Mode.

"Wir werden nämlich heiraten", entschloß ich mich in diesem Augenblick. "Obwohl ihr Vater Neger und sie das bestbezahlte Fleischstück im Puff von Magdala war..."

"Nein, nein", widersprach Maria schnell. "Aus Aithiopien war Opa, und ich bin erst drei Jahre im Geschäft! War... Ich war es, ehrlich!"

"Sehr schade", höhnte Jose. "Aber vielleicht hast du ja wenigstens Jeshuas Geschäftssinn geweckt, und er übernimmt nun Vaters Laden..." Daß ich nach Nazareth kam, um meine Rechte als Erstgeborener durchzusetzen, war Joses ständige Sorge. "Dann könnte ja ich ein bißchen rumziehen und mir auch eine passende Frau suchen..."

Daß ich nicht durch Judäa zog, um den Frieden zu bringen, war ein Satz, der mir bei dieser Heimkehr einfiel. Und: Ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater und die Tochter wider ihre Mutter und die Schwiegertochter wider ihre Schwiegermutter. Trotzdem machte ich es mir nicht leicht, Petrus' werbliche Pointierung dessen abzuzeichnen: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.

Schwerter hatte es in unserem Land schließlich seit Menschengedenken übergenug gegeben, und sogar die Heiligen Schriften predigten vor allem dieses Werkzeug zur Lösung zwischenmenschlicher Konflikte. Mehr noch als Pergamente, die seine Taten verherrlichten, versammelte Herodes Schwerter und Schwertmänner um sich, während uns erst Judas bewaffnet hatte und ich alles andere als ein Meister des Schwertkampfes war.

Genausowenig war mein Wille, daß des Menschen Feind seine Hausgenossen

sein werden, da mich schon die Geringschätzung meiner Familie für Maria verletzte.

Doch Judas hatte darin recht, daß nur diejenigen aufrichtige Liebe zu den Mitmenschen und zu übermenschlicher Gerechtigkeit bewiesen, die auch den härtesten Kampf gegen den Haß und die Herrschaft nicht scheuten, und Petrus konnte meinen entsprechenden Artikel in fast allen überregionalen Zeitungen plazieren:

Wir sind nicht die harte Felswand, die jeden gegen uns geworfenen Brocken zurückschleudert, aber auch der alles schluckende See sind wir nicht mehr. Wir sind Menschen geworden, die Menschen sein wollen: nicht länger Steinschleuder oder demütige Zielscheibe von Steinigungen, unter kein Gesetz und vor keinem Herrn gebeugt. So ist das Schwert zuerst ein Bild: gerade und scharf wollen wir auf die verschlungensten und wolkigsten Apologien der guten alten Sitten antworten, und ebenso gerade und leuchtend wollen wir uns erheben. Aber jedes Bild hat einen realen Kern, und wenn wir beten, daß Ihr unsere derzeitige Form nicht knackt, um uns diesen Kern zu enteignen, so beten wir auch um die Kraft und das Geschick, Euch in einem solchen Fall begegnen zu können: wie David dem Goliath.

Noch am selben Tag, an dem die Nazarether Allgemeine Zeitung diese Sätze aus dem Tagesblatt zitiert hatte, stieg meine Mutter die Stufen zu meinem Kinderzimmer. "Jose hat mir vorgelesen", schnaufte sie. "Jose liest mir alles über dich vor, und ich bin nicht wenig stolz: das ist die Röhre Moses, Löwengebrüll und Adlerschrei, des Größten der Propheten würdig!" Und Mutter seufzte tief. "Wenn du das doch nur nicht wegen dieses Menschs geschrieben hättest..."

"Was der geringsten meiner Schwestern getan und nachgeschrien wird", sagte ich und schüttelte traurig den Kopf, "wird mir getan und nachgeschrien."

"Aber du, du bist nach Adam der zweite Mensch, den Gott selbst erschaffen hat", trompetete meine Mutter.

"Du vergißt Eva, und die Theologen meinen außerdem, daß auch Abel Gottes Sohn war... Aber selbst wenn du recht hättest: von Adam und Eva her wären wir alle Brüder und Schwestern, und willst du wirklich, daß jemand deine Schwester Elisabeth..."

Mutter seufzte wieder, und weil die Stiege unter Marias Füßen knarrte, wandte sie sich zum Gehen. Grußlos schob sich meine Mutter Maria an meiner Hure Maria vorbei, und während des Abendessens saß sie stumm und vermied, uns Zwei im Glück anzusehen.

"Die Rechnung, die ich gestern geschrieben habe, war kein Zehntel so lang und hat zehn mal mehr gebracht", suchte Jose neuen Streit. "Jede Wette!"

Nun schnaufte Mutter. "Rechnungen kann jeder Trottel schreiben", sagte sie nach einer letzten Bedenkzeit. "Und ich sehe in dir, was ich sehe, kleine Negerin, mit aller Erfahrung! Was mein Sohn in dir sieht, sehe ich nicht, in meinem Alter, meiner Dummheit und Blindheit... Und ich werde dich wohl nie be-

sonders mögen können... Aber wenn du gut für ihn bist, will ich gut zu dir sein: Töchterchen..."

Petrus, den wir am nächsten Morgen in der Kneipe trafen, war von dieser Wendung unserer Geschichte so begeistert, daß er unter dem Stichwort Anfeindung um J. willen notierte: Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf... Und wer einen dieser Geringen nur mit einem Becher kalten Wassers tränkt darum, daß er mir folgt: es wird ihm nicht unbelohnt bleiben.

Maria und ich aber konnten, nachdem Mutter mir meinen baren Erbteil ausgehändigt hatte, nach dieser Wendung das Häuschen in Jerusalem kaufen: genau auf der Grenze zwischen Unter- und Vorstadt.

 

Jeschua

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