Kapitel 4

Mit ebensolchem Ingrimm hatte meine Mutter ihre einzige schwache Nacht geleugnet.

Nicht mein Vater sei über sie gestiegen, in einer der verführerischen Frühlingsnächte von Nazareth, sondern ein Engel des Herrn sei ihr erschienen, behauptete jene Maria. Mit dieser Formel kündigten verheiratete Frauen ihre Schwangerschaften auch gewöhnlich an, doch mein Vater und meine Mutter waren Vater und Mutter, ehe sie geheiratet hatten. Auf ihre Liebe stand also die Steinigung, wäre jemandem eingefallen, sie zu fordern, und es war an einem der mörderischen Frühsommertage von Nazareth.

Schon kicherten die Nachbarn höhnisch und böse, als meine Mutter die alte Fabel fortsetzte, sogar mit veränderter Stimme.

"Ich gratuliere dir, Hochbegnadete", sang meine Mutter geradezu, den Engel imitierend. "Der Herr ist mit dir! Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, des Namen sollst du Jesus heißen. Der wird groß sein und ein Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird ein König seinüber das Haus Jakob ewiglich, und seines Reiches wird kein Ende sein."

"Und wie soll das gehen", keifte eine Nachbarin, "ohne Sünde, hej?"

"Der Heilige Geist wird über dich kommen", antwortete meine Mutter im Singsang des Engels, "und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das von dir geboren wird, Gottes Sohn genannt werden... Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich!"

Diese Geschichte, die mir mein Vater gegen künftigen Hochmut erzählte und wiederholte, hielt mich immer ab, in Mutters Gegenwart über ihre fixe Idee zu lachen. In doppeltem Sinn verdankte ich meiner Mutter mein Leben, und es war Grund zur Trauer, das sie nicht mehr aus der Traumwelt zurückfand.

Mutters Auftritt überzeugte nur einen Teil der Nazarener, und der Spott der übrigen veranlaßte meinen Vater schließlich, eine Arbeit in Opas Bethlehemer Filiale der Möbelfabrik anzunehmen. Für Mutter aber wurde daraus, daß sie ihrer göttlichen Begnadigung wegen angefeindet war, und sie nannte die um einiges bescheidenere Wohnung in Bethlehem Zeit ihres Lebens einen Stall.

Alles, was ihr, (und seit jenem Wintertag: uns), zustieß, sah Mutter nur noch durch den Schleier ihrer Notlüge. Daß Vaters Familie anreiste und die einer Sohnes-Geburt gebührenden Geschenke brachte, wurde ihr ein Besuch fremdländischer Könige. Vaters Jahre als Leiter des Zweigwerks in Ägypten erlebte Mutter als ein Exil, und als Herodes bei Bethlehem die erste Generation der ZAF-Genossen niedermetzeln konnte, verstand sie diese Nachricht als ein Attentat gegen mich.

Als Geliebte Gottes lag Mutter seitdem nur noch lieblos unter Vater, ganze sechs Mal, und selbst gegen meine Geschwister wandte sich ihre immer bizarrer werdende Geschichte. Obwohl die ererbte Möbelfabrik gegen die römischen Mitbewerber nicht mehr an kam, mußte alles irgendwie zu erübrigende Geld in meine Erziehung fließen. Alle aßen wir trockene Fladen; seit sie laufen konnten, waren meine Schwesterinnen meine Dienerinnen, und nur Jakobus wurde von Mutter noch geschätzt: glich und gleicht er mir doch auf 's Haar.

So hatte ich alle Chancen, zumindest dem Gemüt nach ein Tyrann in Judäa zu werden, wenn schon nicht der Erste Tyrann des Reiches, und daß ich es nicht wurde, verdanke ich meinem verleugneten Vater. Er erinnerte mir diese Geschichte, und er bat mich allezeit, gegen meine Geschwister die Großmut zu beweisen, die er gegenüber Mutters Krankheit aufbrachte. Auch forderte er mir nie königliches Verhalten ab, und wohl, weil er so direkt unter der religiösen Schwärmerei der Mutter und der dumpfen Gläubigkeit Nazareths litt, ermutigte er meine kindlichen Revolten gegen beides.

Vater küßte mich, als ich ihm das Manuskript meiner ersten Thora-Deutung vorlegte, weil er es allen Hörern abgeschrieben mit auf den Weg geben wollte. Ich hatte Jesaja zum Helfer gewählt, um aus dem familienumspannenden Kerker auszubrechen, ohne meine Mutter direkt zu verletzen. In feinem Gewandt las ich in der Oberstadt-Synagoge mit zitternder Stimme, doch fest im Gemüt: "Der Geist des Herrn ist bei mir, darum weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen Frohe Botschaft den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, das sie los sein sollen, und den Blinden, daß sie sehend werden, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen..."

Wer immer in Nazareth Theologie studierte, kannte auch diesen Text, und wie soviele Passagen der Thora war wohl auch Dieses ungezählte Male vorgetragen worden, ohne jemals an den Säulen des Tempels und den Toren der Stadtmauer gerüttelt zu haben. Und einigermaßen arglos folgerte ich mit allem theologischen Ernst: "Denn wer die Niedrigen schuf und zu anderem als zum Aufstehen bestimmte, der wäre kein Gott, sondern eine Mißgeburt aus Caesar, General und Händler..." 

Ich meinte damals durchaus, auch meiner wohlhabenden Gemeinde Frohe Botschaft zu überbringen, da ich oft genug hörte, das Slum von Nazareth sei ein Schandfleck im Antlitz der Nation. Beklagt wurde die Sittenlosigkeit der Vorstadtweiber. Der das Taglicht nicht mehr scheuende Raub war der Stoff, aus dem die Zeitungen waren, und an den Feiertagen sammelte der Tempel Geld für die Brotsuppen und den Speck der religiösen Unterrichtung der armen Kinder, die als bedauernswerte Heiden angesehen wurden. Deshalb, so dachte ich, müßte auch meine Nachbarn freuen, daß der Herr aufräumen wollte mit dem Elend, anstatt auf Polizeiart mit den Elenden.

"Wissen wir doch, daß geschrieben steht: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen", untermauerte ich meine These. "Nicht: Viele sollen schwitzen im Feld und etliche im Fieber, das vom Schmutz kommt, damit einige wenige beim fetten Essen schwitzen und in all jenen Adam auslachen..."

Vielleicht war es der naive Ernst meines Vortrags, vielleicht tat Mutters starrsinnig verteidigter Traum seine Wirkung und ließ mich eine tatsächliche Drohung scheinen. Jedenfalls schrie die Synagoge wie eine Kneipe bei einer plötzlichen Erhöhung der Alkoholsteuer, und selbst die zur stummen Anteilnahmeme verpflichteten Frauen auf den Balkonen riefen Gottes Zorn und die Steine ihrer Gatten auf mein damals noch dichtes, noch pechschwarzes Haar herab.

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Grund, Menschen zu fliehen, aber ich lernte auch in nur einer Sekunde eine lebenswichtige Geheimsprache deuten. Selbst mein Vater brüllte mir mit haßverzerrtem Gesicht entgegen, doch er drückte dabei die rechte Hand ans Herz: natürlich halte ich dich nicht auf! Nur eine Winzigkeit schneller, als es die Etikette verlangte, öffnete der Fahrer des Senators für Erziehung und Moral die Kutschentür. Es sah aus, als halte er die Gebetsstunde für ordentlich beendet und erwarte seinen Fladengeber, aber tatsächlich zeigte er mir den einzigen Ausweg: die der besseren Gesellschaft widerliche Gasse mit der Abwasserrinne.

Ich sprang in samtenes Dunkele, kroch an der anderen Seite aus dem Gefährt und hastete nach der Unterstadt. Immer entfernter, auf dem Platz vor der Synagoge, wütete die Menge der Honoratioren, als ihre Söhne von der vergeblichen Jagd durch die besseren Straßen zurückkehrten...

So geriet ich arglos auf meine Bahn, und es hätte meiner Mutter Maria nicht gefallen, daß sie mir in einer wiederum bedrohlichen Kurve dieses Weges einfiel, in meiner Hure Maria auferstand.

"Natürlich kann ich stricken", log Maria noch unverschämter. "Was meinst denn du, was wir in diesem verdammten Puff gemacht haben?"

"Zwischendurch", sagte ich. "Ja, ja, ich erinnere mich.

Jeschua

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Isa

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