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IsaNew LineVor allem brauchte Isabel die Friseuse gegen ihre Kopfschmerzen. Wahrscheinlich hätte ihr auch Aspirin geholfen, und die Tabletten wären sogar preiswerter gewesen, ungefährlicher für die schwarze Tönung und ganz ohne die Nebenwirkungen, die zwei wöchentliche Waschtage unvermeidlich haben mussten. Wie Isabel vor jedem Geschäftsbesuch durch die Scheiben des Vorwende-Salons sah, umschlichen sonst nur junge Inkasso-Hyänen ein siechendes Traditionsunternehmen, und wie sie dann auf dem Weg zum Sessel aus Kunstleder und Chromrohr tanzte, so balzten eigentlich nur die Truthähnchen der Existenzgründung um die Billigangestellten ihrer Mitbewerber. Obwohl sie die unanständige Rechnung jedes Mal bar bezahlte, rechnete Isabel jedes Mal mehr mit einem Platzverweis durch die Jeans-Madame des Freuden-Ladens. Beschweren würde sich Isabel darüber höchstens bei einer Krankenkasse können, denn sie wusste nur zu genau, dass kurz nach ihrem vierzigsten Geburtstag eine nette kleine Neurose ausgebrochen war. Ob die Neurose altersbedingt oder erblich angelegt war, erkannte sie nicht. Nur daran, dass ihre Mutter außer dem, was man damals für ein Auto gehalten hatte, auch eine eigene Friseuse besaß, erinnerte sich Isabel genau. Die Termine bei Frau Reinhardt musste ebenso lange wie die Termine in der “Trabant”- Werkstatt geplant und danach geheiligt werden, und Frau Reinhardt war der Geheimdienst, das Marktforschungsinstitut und das Kabarett ihrer Mutter gewesen. Lange vor dem Erscheinen der ersten regionalen BILD-Zeitung erstellte sie Horoskope, dozierte sie über die Vorzüge des Römertopfs und verbreitete sie die Hausmittel gegen die erwarteten Grippe-Viren. In ihrer Position traf Isabels Mutter ab und zu auch auf den Ersten Sekretär der Bezirksleitung, aber die Heldin der meisten Abendbrot-Nachrichten war doch ihre Friseuse: das Orakel auf einer kleinen Insel genossenschaftlichen Unternehmertums in einem Ozean aus Salböl und Duft- und Birkenhaarwasser, von Kurz- und Dauerwellen umtost. “Also ich werde wohl Stoiber wählen”, sagte Isabels Friseuse, und das war ein weiteres von Isabels Suchtproblemen. Ihre Friseuse war sehr blond, und zu dem mitten auf dem Kopf gebundenen und krausen Pferdeschwanz trug sie ein fein gezeichnetes Puppengesicht. Damit und mit ihrer Länge und Magerkeit glich sie den Feen alter illustrierter Märchenbücher, obwohl kein Kleinkind einer Frau Hofmann die Erfüllung auch nur eines Wunsches zugetraut hätte. Nach dem Plasteschild an ihrer raffiniert knappen Wickelbluse aus hellblauer Spitze hieß die hellblonde Friseusen-Puppe aber tatsächlich Frau Lena Hofmann. Nur einen Hauseingang und Laden weiter hätte Isabel die Löcher in ihrem Hirn mit mexikanischen Auberginen und israelischen Pampelmusen stopfen können. Dahinter lag die Tagesbar, aus deren Luftlöchern es nach Einbruch der Dunkelheit besänftigend süß dampfte, und im Eck-Boutique für Biologische Kosmetik wartete eine künstliche Rothaarige darauf, der Laufkundschaft gegen das dumpfe Kopfweh scharfe Tattoos in die Hintern zu stechen. Jenseits der Straßenbahn-Gleise versuchten zugereiste Investoren, zwischen Eck-Bank und Hotel-Eck eine fünfzig Meter lange Perlenkette des Aufschwungs zu spannen, aber diese Straßenseite fand Isabel noch deprimierender. Nobel-Italiener wurden von Sushi-Samurais abgelöst, Designer-IKEAs verdrängten Brillanten-ALDIs, das Studio für Einbauküchen in Dachgeschoss-Wohnungen das Café mit den Gesundheitsaufgüssen aus einzeln gerösteten Bohnen, aber die Gesichter über den Liftboy-Uniformen blieben immer dieselben. Es war den aus Altersgründen ausgemusterten Tennis-Profis auch nicht eindeutig anzusehen, ob sie die zufällige Passanten hinter die golden beschrifteten Scheiben ziehen oder in den selten gekehrten Rinnstein schubsen wollten, und die Adressen-Tafel des über allem ausgebreiteten Büro-Komplexes war gefährlich leer. Irgendeines Tages oder Abends hätte also ein Makler, den sie vielleicht noch als ehrlichen Dozenten oder Abschnittsbevollmächtigten kannte, Isabel in den Aufzug schleifen, in den fünften Stock entführen und ihr ein 120-Quadratmeter-Büro mit Zentrums-Blick vermieten können. Wenn Isabel auch noch den Slalom-Lauf über den Betriebs-Parkplatz von “Neuesten Nachrichten” und “Kurier” hinter sich, BILD nicht ihre Meinung gesagt und der Commerzbank die kalte rechte Schulter gezeigt hatte, war sie also über die ökonomische Lage und die Stimmung in der Stadt auf dem Laufenden. Sie lebte in der ersten Kolonie, die ihr Mutterland auszehrte, auch wenn etliche Unternehmen durch die dicken roten Zahlen fette Gewinne schrieben, und sie wollte eigentlich gern eine fröhliche weiße Negerin sein. Dass sie mit solchen Formulierungen besser vorsichtig war, wusste Isabel von Kassandra her und seit sie selbst zum ersten Mal den Untergang eines Staates prophezeit hatte. Ärgerlich war nur, dass sie im Grunde schon wieder für solche Reden bezahlt wurde. Dabei war es gar nicht so, dass sie gar nichts anderes konnte. Sie hatte zwei Kinder am Rand der Pubertät, rührte Knorr-Saucen für Gratins erstaunlich einfallsreich und glücklich zusammen und war in den Praktika eine beliebte Lehrer-Studentin gewesen, aber dafür gab es eben nicht genug Wohn-, Haushalts- und Friseur-Geld. Dass ihr Ehemaliger für die gescheiterte Ehe nicht noch bezahlen wollte, fand Isabel dagegen gerecht, und so ging sie eben zwei, drei Mal in der Woche auf Arbeit, um dort auf ihrer Zunge zu kauen. Isabel musste ja nicht zu Fuß gehen. Sie konnte das morgendliche Unbehagen auch mit dem Auto überholen oder, was noch öfter vorkam, unter Anden des Ärgers über Schlaglöcher, Ampelschaltungen, Straßenstrich-Zeichner und falsch parkende UPS-Wagen begraben. Besonders gut war ihr das im letzten Herbst gelungen, am ersten Tag, an dem in ihrem Haus der Heizungskessel, der seinen auf die Betriebskosten umgelegten Preis bei einem Design-Wettbewerb gewonnen haben musste, ausgefallen war. Der schrägere gläserne Himmel über ihr, dieses beschissen zu putzende Klappfenster, war schon mit Eis überzogen gewesen, und von jeder anderen Arbeit hätte sich Isabel telefonisch als krank abmelden können, um in die freie Betthälfte zu greifen und sich die überflüssige Zudecke auf den Bauch zu ziehen. Als professionelles Vorbild aber musste sie aufstehen und die Kinder zu einer Expedition in die wärmere Schule zu überreden. Bis die Liter-Kaffeetasse leer war, las sie in der elektrisch aufgeheizten Diskutier-Küche die Vortags-Angebote weniger modern sanierter Wohnungen, und darüber vergaß sie, ihr über der Wanne hängendes Vorzeige-Sweetshirt mit dem Föhn zu trocknen. Sie beschmierte die klammen Jeans am Bauschlamm auf der Autotür, schliff beim Links Einbiegen in die Hauptstraße zwei der zweihundert Bremsbeläge, die bei der letzten Durchsicht eingebaut worden waren, ab und kratzte in der Tiefgarage an einer der Betonsäulen, die den ungeheuren Bau des bürgerlichen Parlamentarismus trugen. An solchen Tagen konnte Isabel beim Kopfschütteln grinsen und unter den Drucksachen, Einladungen und Zeitschriften auf dem Computer-Schreibtisch beinahe neugierig nach dem Telefon suchen. Kurz vor dem Ausbruch ihrer Sucht war der ewig gleiche Anruf von Matthias gekommen. Matthias arbeitete beim “Kurier”, obwohl Isabel ihn immer für den dpa-Korrespondenten gehalten hatte. Vielleicht war es auch genau umgekehrt. Sie kannten sich ja kaum, und Isabel musste alles für ihn tun, solange er weder ihr verriet noch landesweit veröffentlichte, wieso sie sich seit dem Geburtstags-Empfang des Landtagspräsidenten duzten. “Die erschossenen Lehrer...” “Ich war das wirklich nicht”, sagte Isabel, klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter fest und wühlte unter dem umgeschichteten Papier nach Zigarettenschachtel und Feuerzeug. “War das nicht eine erstochene Lehrerin? Und ist das für euch Aasgeier nicht schon ein bisschen lange her?” “Klar, was könnte uninteressanter sein als eine gestern erstochene Lehrerin... Du weißt es nicht?” “Doch! Unsere letzte Sitzung war uninteressanter, zum Beispiel.” “Im Ernst”, sagte Matthias. “Das mit Erfurt... Dort hat ein Schüler zehn, zwölf Lehrer erschossen.” “Dass ich so was Gefährliches studiert habe, habe ich nie bedacht...” Isabel musste die Maus anschubsen, um den Monitor aufzuschrecken, den Internet Explorer doppelklicken und den dpa-Favoriten aufrufen, und dabei fiel ihr schon wieder Asche in die Tastatur. “Und warum erzählst du mir das?” Matthias lachte. “Nach meiner Liste bist du eure kinderpolitische Sprecherin!” “Das ja. Aber das war doch bestimmt einer jenseits der Pubertät? Und dann ist Erziehung bei uns Sache des Schulpolitischen. Neulich, als du das mit der falschen Erziehung zum Gehorsam gebracht hast, hat der mich vor allen so was von zur Schnecke gemacht...” “Verstehe, Nacktschnecke. Ich mache das mal gut, ehrlich! Aber einfach furchtbar... Furchtbar wirst du das doch finden dürfen?” “Wenn es zwölf Lehrer waren... Ja, furchtbar ist gut.” “Und ihr könntet.... Und du könntest auch mal wieder den Kapitalismus und die gesellschaftlichen Verhältnisse dafür verantwortlich machen!” “Nööö”, sagte Isabel entschieden. “Dann bin ich morgen in BILD und ‚Neueste Nachrichten‘ wieder die Neo-Stalinistin, und Florian schreibt doch nächste Woche eine Leistungskontrolle in Staatsbürgerkunde.” “Gesellschaftskunde”, berichtigte Matthias nachsichtig und überlegte einen Moment. “Vielleicht kommt so etwas vom Leistungsdruck und von der ungenügenden Werte-Vermittlung im Schulunterricht? Oder eher von zuviel Sex und Gewalt im Fernsehen?” “Nein, nein, vergiss es! Kein Wort zur Schule, Matthias! Und keins über die Medien!” “Und das Internet? Was ist mit dem Internet? Einen internetpolitischen Sprecher habt ihr nicht, wie ich in der Liste sehe.” “Das Internet ist ein sogenanntes ‚neues Medium‘! Obwohl...” Eine Stunde, nachdem Isabel nach einem Projekttag Mitschülerinnen-Foltern das Internet beschuldigt hatte, war die Medienpolitische am Beschwerde-Telefon gewesen, ein bisschen beleidigt und ein bisschen beleidigend. Allerdings war Isabel nach diesem fernmündlichen Krach der fraktionsoffizielle Scheiterhaufen aus den skandalösen beiden Zeitungsausschnitten erspart geblieben. “Wenn du einen Satz von mir brauchst und wirklich was gutmachen willst, kannst du schreiben, dass ich das Internet gern filtern würde... Wenn auch nur gegen Nazipropaganda, Kinderpornographie, Sodomie und ähnliches...” “Sodomie? Du meinst diesen geilen Sex mit Tieren? Was habt ihr denn da dagegen?” “Das weiß ich doch nicht! Bitte, Matthias! Leg mich nicht rein, ja, und frage das die Landwirtschaftspolitische! Jedenfalls haben wir da sehr verschiedene Positionen...” “Zum Sex mit Tieren? Über so etwas diskutiert ihr in den Fraktionssitzungen? Ehrlich? Und damit darf ich dich zitieren?” “Nur zur Zensur im Internet”, berichtigte Isabel. “Eigentlich haben wir zu fast allem sehr unterschiedliche Positionen, aber das mit dem Internet ginge eventuell. Du zitierst mich, und dann fragst du die Medienpolitische, was sie davon hält. Aber das, das müsstest du unbedingt machen! Oder ich sage wieder ‚Sie‘ zu dir!” Das Trompeten im Hörer überraschte sie, und Isabel machte instinktiv Fingergymnastik über der Taste für die Amtsvorwahl. Sie erinnerte sich, was nach einem Interview ein wenig beunruhigend war, an keinen zitierbaren Satz, aber trotz seines Buch-Formats war ihr Picasso-Kalender mit den Telefonnummern unter den vergänglicheren Papieren verschwunden. Isabel nahm die Zigarette aus der Aschehalde, machte zwei hastige Züge und ergab sich der mysteriösen Macht, die den angegrauten Ewigen Ministerpräsidenten und die gelegentliche Sozialhilfe-Betrügerin, den verunglückten Taxifahrer und die heiratende Edel-Prostituierte unterschiedslos im Auge und in der Hand hatte. Isabel hatte einige viel ältere Kollegen, die noch nie in eine solche Klemme geraten waren, und um auf dieselbe Zahl von Erwähnungen zu kommen, hatte die Sozialpolitische Sprecherin einen sibirischen Wald morden, herankarren, zerschroten, verfilzen und waschen lassen, hatte sie die in Tausender-Kartons gelieferten Blätter mit der Hand beschrieben und der Computer-Sekretärin vorgelegt und die ausgedruckten Großen und Kleinen Anfragen, Initiativ- und Änderungsanträge, Konzepte und Gesetzentwürfe im Fax verhundertfacht. In diesen Papieren ging es um Kindergeld und Altersrente, Mindestlöhne und Luxussteuern, Wohn- und Sterbegeld, Kindergartenbeiträge und Schulbuch-Beihilfen, aber nur gestapelt und der Journaille nachgetragen wogen sie die Themen auf, zu denen Isabel eigentlich nie mehr als das Wort “furchtbar” einfiel, einfallen durfte und einfallen musste. Dass die Mehrheit der wenig gefragten Sprecherinnen und Sprecher gegen diese Ungerechtigkeit die Statistik bemühte, wie die nie gesprochenen Sätze veröffentlicht wurden, als seriöse “Neueste Nachrichten” oder nur als Botschaften des “Kuriers”, hielt Isabel für eine gute Idee. Sie störte das nicht, weil sie ja weder die Zeitungsausschnitte sammelte noch eine Strichliste führte, aber sich von der Aufstellung entspanntere Presseschauen erhoffte, und doch war der kleine Wettbewerb in der Woche nach der Kompromiss-Sitzung weiter eskaliert. Beim letzten Sommer-Empfang des Landtagspräsidenten war Isabel vom Ellenbogen des Finanz-Staatssekretärs getroffen worden, leicht, aber doch heftig genug, um genug von ihrem Mojito über die rechte Brust zu kippen. Dieses Sujet hatte sich der BILD-Fotograf nicht entgehen lassen, und seitdem konkurrierte auch noch der Fraktionsvorsitzende, der bis dahin die meisten illustrierten Aussprüche verbuchten konnte, mit ihr. Manchmal, wenn sie sich in der nächsten Zeitung wusste, überlegte Isabel also schon, ob sie nicht ihre sensationsträchtige Position zum Tausch gegen die verantwortungsvollere, aber fast geheime Mittelstandspolitik anbieten sollte. Als gelernte Deutsch-Lehrerin war sie für die Schul- oder Kulturpolitik qualifiziert, und sie galt so sehr als Umweltschützerin, dass der Gesundheitspolitische Sprecher misstrauisch war, als sie ihm nach einer späten Sondersitzung eine Autofahrt zum Bahnhof angeboten hatte. Die Arbeitsmarktpolitische war gegenüber Isabel im Nachteil, weil sie die Arbeitslosigkeit nur aus der Statistik kannte, und wahrscheinlich fühlte sich nur der verfassungspolitische Rechtsanwalt, der sie nach einem Auffahr-Unfall vertreten hatte, nicht von ihr bedroht. Selbst dieses Beziehungsgeflecht musste immer wieder geflickt und gebügelt werden, und schon deshalb war Isabel auch als Kinderpolitische Sprecherin eine Schwerarbeiterin, obwohl die Kindergärten zur Jugendhilfe-, die Kinderschuhe zur Sozial- und das Kinderfernsehen zur Medienpolitik gehörten. Außerdem mussten alle Abgeordneten Besuchergruppen Antworten auf gar nicht gestellte Frage geben und lernen, bei Expertenanhörungen die Antworten der feindlichen Professoren zu ignorieren. Das war ein nicht billiges Ritual und war kein besonders angenehmer Aspekt von politischer Arbeit, aber es kam die Steuerzahler ja auch nicht billig und war für die Politiker nicht angenehm, wenn sie später im Rund der Landtags-Arena in taube Ohren predigten. Wie zum Ausgleich waren in den Fraktionssitzungen schon Zwischentöne und Andeutungen wichtig. Bei solchen Arbeitsaufgaben verstand es sich von selbst, dass die Arbeitsräume der Abgeordneten ein wenig an Gummizellen erinnerten. Die überall gleichen und gleich aufgestellten Möbel waren, einmal von den Haushandwerkern zusammengeschraubt, nicht mehr zu bewegen. Sie waren so schwer und sperrig, dass sie durch einen einzelnen Parlamentarier weder in einem Wutanfall aus dem Fenster zu werfen noch bei einem paranoiden Schub unter die Türklinke zu klemmen waren. Die Zivildienstleistenden mit den Zwangsjacken konnten diese Türen außerdem nach außen aufreißen, obwohl das den ansonsten konsequenten Vorkehrungen zum Überleben kleinerer Revolutionen widersprach. In jedem Büro gab es, von einer Wandschrank-Tür getarnt, ein Waschbecken mit kaltem Wasser und einen kleinen Kühlschrank, und wenn die nötigen Erklärungen verfasst und an die Anhänger gemailt waren, konnten die widerständischen Politiker vom Schreibtischstuhl in einen gut gefederten Liegesessel wechseln. In diesen Fragen machte die Verwaltung des Hohen Hauses auch keinen Unterschied zwischen den Mehrheitsbeschaffern und den störenden Oppositionellen, und im Prinzip ließ sie nicht einmal das Aufhängen privater Fotos und Plakate zu. Hätte Isabel nicht trotzdem Fotos von Florian und Linda Krieger und ein gedrucktes Foto von Ulrike Marie Meinhof an die Wand über ihrem Schreibtisch geklebt, und hätte sie nicht einen Teil ihrer privaten Bibliothek eingeschmuggelt und einige psychologische und alternative Zeitschriften abonniert und auf Schreibtisch und Ruhesessel verteilt, wäre auch ihr Büro jederzeit von jedem anderen Abgeordneten jeder anderen Parteien zu nutzen gewesen. Dazu gab es die Legende vom falsch aus dem Fahrstuhl gesprungenen Regierungs-Kampfhund, der sich arglos an den Schreibtisch des Antifapolitischen Sprechers gesetzt und in die schon aufgeblätterte Große Anfrage seine eigenen Anmerkungen eingetragen hatte. Isabel wusste vom Antifapolitischen, dass es in Wirklichkeit bei einem freundlichen Wortwechsel geblieben war, wer im falschen Zimmer saß und in der Tür stand, aber die Legende war eben das Lehrbeispiel für die Notwendigkeit, das Büro während jeder Abwesenheit abzuschließen. Anweisen durfte sie das niemand, denn abgesehen von den Fraktionsbeschlüssen zum Stimmverhalten, von der Ohnmacht gegenüber dem Innenarchitekten und vom Kleingedruckten in der Geschäfts- und Hausordnung war Isabel nur ihrem eigenen Gewissen unterworfen und rechenschaftspflichtig. Es gab zwar Schriftführer, die in allen Fraktionen Frauen waren und die Anwesenheitslisten der Landtagssitzungen führten, es gab eine Fraktions-Sekretärin, der ihre Arbeitgeber Rechenschaft über die täglichen Aufenthalte und Wege schuldeten, und es gab die freiwillige gegenseitige Selbstkontrolle, aber tatsächlich konnte Isabel noch für zweieinhalb Jahre kommen und gehen, wann immer sie Lust dazu hatte. Das mochte ein Privileg scheinen, wie es nicht einmal dem Chef des Landesarbeitsamtes zustand, aber es war die Mindestvoraussetzung dafür, dass eine alleinerziehende Politikerin zur Kopfschmerz-Behandlung bei ihrer Friseuse gehen konnte. “Das sind die Abgase”, sagte Frau Lena Hofmann, weil sie ihrer neuen Stammkundin beim besten bösesten Willen keinen Wirbel in das zwei Tage vorher gefärbte Pferdehaar schwatzen konnte. “Das wirkt wie ein Tanker-Unfall in der Luft. Da werden die Haare eben schnell fettig.” “Was, ich habe fettige Haare?” “...und spröde, ja! Doch... Richtiges Mischhaar haben Sie davon gekriegt. Das kennen Sie doch aus der Werbung!” “Klar, es ist halt nicht alles erfunden, was sie da behaupten”, sagte Isabel und reckte den Hals wie ein geborenes Opferlamm über das Waschbecken. Lena kicherte und drehte das Wasser auf. “Im Unterschied zu den Nachrichten, ja.” Das Wasser war angenehm kühl, und Isabel musste die Augen zukneifen, aber vor allem war das das Nasenzucken nach einer freudigen Überraschung. Ihre Friseuse war bei aller Vorsicht auch witzig, und Isabel konnte der Chefin außer den fälligen Scheinen nun notfalls noch die Auskunft geben, dass sie Lena weder heiraten noch abwerben wollte. Sie diskutierte eben gern und rein beruflich mit einer Philosophin mit dem Föhn. “Bloß das mit der Bundestagswahl wird stimmen”, flüsterte Isabel unter dem Schaum-Knistern und den kleinen Elektroschocks aus Lenas Fingerkuppen. Es war Small-Talk. “Hmmm... Also ich werde wohl Stoiber wählen.” “Häää? Also das mache ich garantiert nicht! Stoiber... Nein, danke!” “Ja, das verstehe ich gut”, sagte Lena. “Wo Sie doch Jüdin sind...” “Frau Hofmann!” Selbst durch das Knistern des Schaums bekam Isabel mit, dass in der Stimme der Chefin die fristlose Kündigung mit klang. “Keine Politik! Und Sie können die Kundin doch nicht einfach als Jüdin...” “Oh, das macht mir gar nichts aus”, sagte Isabel in Richtung des Nebenstuhls mit der erschrockenen Seniorin, der die fleischigen Hände der Chefin Lockenwickler in die dünnen weißen Haare drehten. “Aber ich habe doch gar nichts gegen die Juden”, sagte Lena kleinlaut. “Ich dachte doch nur... Bei den Haaren und dieser Nase...” “Denken können Sie nach Feierabend, Frau Hofmann! Und dann können Sie auch denken, was Sie wollen!” Die Chefin schob sich zwischen den Frisierstuhl und den Spiegel, und ihre schwarz ummalten Augen forschten in Isabels nassem Gesicht. “Aber Sie werden diese Kundin genauso bedienen wie eine normale Deutsche! Vielleicht einen Espresso, Frau...” “Krieger”, sagte Isabel artig, um sich Lena ihrerseits vorzustellen. “Isabel Krieger.” “Bitte! Da hören Sie es”, triumphierte die Chefin. “Die Dame ist eindeutig...” Als leite sie einen Herren-Salon, bewegte sie den Hintern, der ihre Dienst-Jeans mehr zwangsläufig als provozierend spannte, in Richtung des Büros mit der Espressomaschine. Isabel bog den Kopf in den Nacken. “Und außerdem bin ich auch noch eine Art Kommunistin”, sagte Isabel tollkühn. “Aua”, sagte Lena und schielte zur halb fertigen Seniorin. “Aber was soll’s? Da gibt es wahrlich Schlimmeres!” “Tatsächlich? Was denn?” Für einen Augenblick sah Lena auf dem Umweg über den großen Spiegel in Isabels Kohle-Augen, während Isabel in hellblauen Gebirgsseen badete. “Na... Zum Beispiel bin ich fast naturblond”, sagte Lena, beugte sich zu einem Fitz neben Isabels Ohr und flüsterte. “Und Öl-Catchen ist doch auch schlimmer, oder?” “Öl-Catchen?” “Ja, so auf Plastefolie und nur im Tanga! Das mache ich manchmal... Ganz harmlos, in ganz normalen Diskos. Sonnabends...” “Nur sonnabends? Dann ist das nicht nur moderner, sondern auch weniger zeitaufwändig als der Kommunismus, und ich sollte vielleicht mal das probieren?” “Vielleicht...” Die Chefin stellte die Espresso-Tasse auf den Rand des Waschbeckens, und Lena musste sowieso erst nach dem Föhn gehen, auf dem Isabel vom ersten Termin an bestand. Nach den Krimi-Parodien in ihrem Fernsehen waren Friseur-Trockenhauben die häufigste Todesursache älterer englischer Damen, und die dazu passenden Illustrierten mochte Isabel auch nicht. “Ihre Haare würden schon gefallen, in der Diskothek”, sagte Lena und stemmte einen dicken nassen Trauerflor. “In zwei, drei Jahren, ja! Wenn meine Tochter ihr Taschengeld... Also, ich meine: wenn sie es in irgendwelchen Diskotheken lässt.” “Ich verstehe schon...” Isabel drückte die Kaninchenzähne in die zu dicke Unterlippe, um sich mit ihrem Spiegelbild gehörig zu bestrafen. Sie wollte weder erwachsen scheinen noch wie überlastetes Knäckebrot klingen, und eigentlich würgten sie die Lianen der grünen Neugier: welches Öl nahm Lena, was hielt ihr Mann von dieser Sportart, und auf welchen Rang der Stadtliga war sie gerutscht? Psychoanalytisch mochte das ja erheblich komplizierter sein, aber nach einem Schulanfang als Langhaarigster in den harmlosen Jungen-Banden wollte Isabel am Rand des Alters ganz mädchenhaft die beste und Kontrast-Freundin ihrer Friseuse sein dürfen. Mit einer glitschigen Barbie, die wohl Stoiber wählte, konnte Isabel in den Politdiskussionen gegen ihre von emeritierten Professoren beratene Kollegen antreten, und vielleicht erlaubte Lena einer Freundin sogar einmal, dass sie ihr die Haare wusch. Isabel bog den Kopf in den Nacken, ließ sich den heißen Wind über das Gesicht wehen und freute sich an den schönen schmalen Händen ihrer Gladiatorin. Dann schielte sie zu der Trockenhauben-Seniorin. “Ich habe doch gar nichts gegen Nackttänzerinnen”, sagte Isabel leise und atmete auf, weil hoch über ihr Lenas rechter Mundwinkel leicht nach oben zuckte. “Ich habe mal richtig geturnt, und davon abgesehen, dass wir da flach wie Stullenbretter sein mussten, ist das doch fast dasselbe.” “Und ich kriege einfach nicht raus, was mit Ihren Haaren los ist”, sagte Lena versöhnt. “Aber es sind bestimmt die Abgase...” An der Kasse, unter dem strengen Blick der Chefin, verzichtete Isabel auf zwei Euro Wechselgeld, und sie trat mit offener Lederjacke auf die Straße. Es war ein schöner, aber kühler Nachmittag, und sie wollte den Wind, der ihre Haare sofort alltäglich ordnete, erst einmal bis auf den Körper lassen. Genau genommen hätte sie einen Friseur-Salon mit Sportmassage gebraucht, damit außer dem Hirn auch die Schultern entspannten und außer den so leicht zu färbenden Haaren auch die müden Brüste wieder ein bisschen aufstanden. Hinter der Kreuzung und nach dem Bahntunnel war vom Wohnpark „Residence Sanssouci“ nur die Werbe-Tafel gewachsen, aber an trockenen Tagen und vor Sonnenuntergang konnte Isabel ihren Heimweg dort um zehn Minuten abkürzen. „Materialausgabe“ und „Straße der Besten“ bedeuteten für sie keinen düsteren Voodoo-Zauber, und ein bisschen fühlte sie sich wie die Schwester der Industrie-Baracken. In deren Spanplatten und Rahmen fraßen sich Fäulnis und Rost wie der Krebs in ihre Raucherlunge, und die Fenster waren wie ihre Augen. Sie spiegelten nur noch Splitter des persil-gewaschenen Himmels, und das Dunkel dahinter war geheimnisvoll still wie ein Archiv früherer Aufregungen. Aus dem Fenster der halb eingefallenen Gewerkschafts-Bibliothek streckte sich eine junge Birke, und Isabel bog und knickte einen Zweig Heine, bis die Haut platzte und die ersten Fasern rissen. Sie drehte ihn ab, nahm sich den Brecht-Zweig vor und wählte auch noch Majakowski, García Márquez und die Politische Ökonomie für Brigaden der Tauchsieder-Endfertigung. Auch im vorigen Frühjahr hatte Isabel von der klügsten Birke der Stadt geerntet, sich vor der Umweltpolitischen Sprecherin und der Natur schuldig fühlend und doch zur mörderischen Rache für die Pollen-Allergie entschlossen. Isabel kroch mit dieser Handvoll Frühling durch den Spalt im Maschendrahtzaun, und dabei schielte sie zu den Fenstern im zweiten Stock. Wenn die ehemalige Oberschwester, die sich selbst am Qualm auf fremden Balkonen störte, die Rabatten-Frevlerin als Wiederholungstäterin enttarnte, war Isabel eine Vorladung zum Schauprozess sicher. Trotzdem lachte sie. Florian würde wissen, um wie viel Geld der nächste Blumenladen betrogen worden war, und Linda würde versuchen, den Strauß zu zeichnen.
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Jeschua
Kapitel 1 Isa |