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TschekaNicht nur, dass sie selbst daraus desertiert war: irgendwo im Millionen-Heer gab es einen Arbeitslosen, an dem Isabel Krieger persönlich schuld war, und sie hätte ihn einem Privatdetektiv genau beschreiben können. Ihr Arbeitsloser war um die fünfzig, und nach zwei Jahrzehnten als beargwöhnter, ungedruckter und in Alkohol eingelegter Lyriker war er in den letzten zehn Jahren trotz der Essay-Lesungen und dank der Preis-Empfänge angeschwollen. Sein undiszipliniertes Haar protestierte nicht mehr gegen die Kurzsichtigkeit der Politbürokratie, sondern sollte kahle Stellen überdecken, und der ungetrimmte Bart ahmte nach Che und Jesus nicht einmal mehr Solshenyzin nach. Die angegrauten Fusseln waren nun ihre eigene peinliche Legende, und die kunstvolle Firmen-Bleiche der Jeans wurde von den Knie- und Hintern-Beulen egalisiert. Seine GMX-Mailbox wurde von keinem Verlag und keinem Leser gefüllt, und jeden Mittag stand Isabels Arbeitsloser im von den hängenden Schultern hängenden Cord-Jackett vor dem auf gebogenen Briefkasten. Wie der Oberst bei García Márquez, so hatte dieser Dissident keinen, der ihm schrieb, solange Isabel der Landesbeauftragten keinen Anlass gab, einen weiteren Unterlagen-Kopisten einzustellen. Auch wenn sie in irgendeinem behördlichen Stahlschrank stand, gehörte ihre Stasiakte Isabel, und sie wollte da sowenig hineinsehen wie in die Bedienungsanleitung des Autoradios, die ihr ja auch gehörte. Im Prinzip wusste jeder, wie ein Radio funktionierte, und geändert wurde auch bei Radios immer nur das Gehäuse darum. Außer im Kinderpolitischen stellten die Parlamentarier der Regierung Fragen, die ohne Geheimdienst-Erkenntnisse gar nicht zu beantworten waren, und außer im Wirtschaftspolitischen beantworteten die Minister diese Fragen auch zuverlässig. Die Frist für die Antworten war nur dank überquellender Geheimarchive einzuhalten, und dazu passend wurde die Form der Fragen von einer Geheimwissenschaft geregelt. Deren Paradigma war, dass mit keiner parlamentarischen Frage irgendetwas in Erfahrung gebracht werden konnte. Zu diesem Zweck las man die BILD-Zeitung oder lud man einen Professor ein, der das Problem zwar nicht kannte, aber gern über sich erzählte und einen Spesen-Porsche fuhr. Mit seiner Stundenfrage bewies der Abgeordnete aus Neu-Bärenstein in einer so genannten Fragestunde, dass der Verkehrsminister die Parkplatz-Probleme vor dem Neu-Bärensteiner ALDI-Markt nur ungefähr kannte. Die Kleinen Anfragen waren ein Mittel, auch den Hinterbänklern zu Redezeiten in der Plenartagung zu verhelfen, und Große Anfragen wurden eingereicht, damit die Regierung einen mittleren Skandal als großen Erfolg darstellen konnte. Bei größeren Skandalen erledigte das der verantwortliche Minister mit einer jederzeit möglichen Regierungserklärung von sich aus, und wenn die Zeitungen einen Riesen-Skandal in allen Facetten aufgeblättert hatten, setzte das Parlament einen Untersuchungsausschuss ein. Allerdings war es nicht die Kulturpolitische, sondern der technologiepolitische Sprecher, der Isabel auf den Zusammenhang von Tribüne und Bühne aufmerksam machte. „Ich denke, du hast ein Piercing“, begann Christoph die Lektion. „Oder ist das nur ein Gerücht?“ Isabel zog die Weste vor der Brust zusammen. „Nein. Und ja...“ „Nein und ja? Also nur auf einer Seite?“ „Das sowieso... Aber insofern, dass mehr Leute darüber reden, als es schon gesehen haben und jemals sehen werden. Insofern ist es auch ein Gerücht... Und außerdem bedeutet das ja nichts Sexuelles!“ „Natürlich nicht! Klar“, sagte Christoph, überlegte ein paar Augenblicke lang und versuchte dann, das Rätsel aus dem Kopf zu schütteln. „Jedenfalls haben bestimmt die wenigstens von uns einen Ring in der Brust, und um den Ministerpräsidenten beim Neujahrsempfang mit dem Silberlöffel zu erschlagen, ist überhaupt niemand gewählt worden! Es ist den Wählern völlig egal, wo wir die Kreisgrenzen ziehen oder ausradieren, und dass wir ein paar Arbeitsplätze schaffen können, hoffen doch nur unsere arbeitslosen Kreisvorsitzenden. Es geht immer nur darum, dass genug von denen gewählt werden, die zu den Autobahnen und Chip-Fabriken, die die Wirtschaft bauen will, Ja sagen. Und genauso brauchen die anderen ein paar, die laut von dem reden, was dagegen spricht...“ „Uns“, sagte Isabel. „Na ja... Ja, beim letzten Mal waren das wir, und deshalb sollten wir das auch machen...“ Das Telefon klingelte, und gehorsam wie ein älterer Abgeordneter nahm Christoph den Hörer ab. „MdL Cremer.“ Er hörte eine Weile zu, legte dann die Hand auf die Sprechmuschel und sah Isabel mit gespielter Verlegenheit an. „Die bösen Clowns eben... Und erst wenn sich der Zirkusdirektor zum Clown macht und der Clown die Gehälter zuteilt, wird in der nächsten Saison alles durcheinander kommen.“ Es war eins der jugendlichen Abgeordneten-Büros, vollgestopft mit Fachzeitschriften, soziologischen Studien und kopierten Briefen und dadurch unaufräumbar. Boulevard-Artikel über auffällige Christophs waren mit misslungenen Fotos und sexistischen Werbeanzeigen zu witzigen Tapeten montiert, und so ärgerte sich Isabel gleich mehrfach. Obwohl er seine Politikerrente fast schon sicher hatte, war der Technologiepolitische ja noch ein bisschen jünger als sie, aber wenn ihn eine mögliche Karriere anrief, konnte ihn nicht einmal ein und ihr Zitzenring ablenken. Trotzdem fing Isabel den angestoßenen und rutschenden Zeitungsstapel auf, und sie fühlte sich von da an wie ein böser und sehr trauriger Clown, der in ein Trauerspiel geraten war. Davon abgesehen, dass sich jeder Abgeordnete den Medien gegenüber nur zu seinem Bereich äußern durfte, waren noch etliche andere Abgeordnete falsch eingeteilt worden. Die Medienpolitische ließ gern durchblicken, dass der finanzpolitische Sprecher nichts von seinem Metier verstand, der Tourismuspolitische referierte leidenschaftlich über Absurditäten im Landesrecht, und der Wohnungspolitische konkurrierte mit der Europapolitischen in der konstruktiven Kritik an Brüssel. In einer Fraktion mit mehr Doktoren, als die anderen Fraktionen und alle Abteilungen der Landtags-Verwaltung zusammen beschafft hatten, war das freilich kein Wunder und der Grund für die ausgedehnten Sitzungen. Auch die Doktoren, die als Berater, Werbefuzzi und Leibeigene der Abgeordneten anwesend sein mussten, wollten gehört werden, und die letzten Worte gehörten immer den ehemaligen Parteisekretären. „Aber das sind sie doch gewöhnt, und was anderes haben sie ja gar nicht gelernt“, versuchte Schreiber, der Fraktionsvorsitzende, den Aufstand der Jungen abzuwiegeln. „Dafür führen sie unsere Dienst-Kalender, besorgen das Briefpapier und regeln alles Finanzielle. Möchte das jemand von euch erledigen?“ „Ich möchte nicht, dass sie schon wieder das letzte Wort über meine Arbeit haben“, sagte Isabel nach einigen Verlegenheits-Sekunden. „Wieder?“ Schreiber lachte. „Sie haben damit doch nie aufgehört!“ „Ja, genau das meinte ich ja!“ „Der Unterschied ist nur, dass sie jetzt nichts mehr zu sagen habe.“ „Hm, das finde ich allerdings auch“, sagte Christoph. „Dass sie gar nichts zu sagen haben...“ „Kinder“, sagte Schreiber und stöhnte. Er schüttelte den Kopf, hob den Arm und wackelte mit der Hand, um bei der Kellnerin Bier für sich und seine vier jungen Wilden zu bestellen. „Ohne diese Gelegenheit hätten sie doch längst eine eigene Partei gegründet, und jeder von uns hätte seine Wahlplakate selbst aufhängen müssen.“ „So gesehen“, sagte Christoph. „Aber das haben wir doch gemacht“, behauptete die Verkehrspolitische. „Ich bin damals selber, mit Martin...“ „Martin, ja“, sagte Schreiber und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, damit die Kellnerin an seinem Bauch vorbei langen konnte. „Eigentlich müssten dir diese unerbittlichen Stalinisten vom Präsidenten ausrichten, dass du deinen Partner nicht als Persönlichen Mitarbeiter anstellen darfst.“ „Als sehr persönlichen Mitarbeiter sozusagen“, witzelte Christoph. „Sie denken sich für euch die phantastischsten Krankheiten aus, wenn ihr eure Termine mit Besuchergruppen versaubeutelt habt...“ Der Fraktionsvorsitzende hob sein Glas auffordernd. „...und sie erklären dem Rechnungshof, warum wir unsere Klausuren gerade in der Sauna des Hotels von Simones Bruder abhalten müssen.“ „Doch wohl, weil der Sitzungssaal nicht extra gemietet werden musste“, sagte die Kreislaufpolitische. „Und ich habe den Brief ja vor allem unterschrieben, weil ich gut verstehe, wenn...“ „Und der Jugendpolitische hat offenbar gar keine Probleme mit dem alten Eisen“, triumphierte Schreiber. „Was nun bestimmt nicht heißen soll, dass es diese Probleme nicht gäbe und ich euch gar nicht verstehen könnte... Im Gegenteil! Als ich so alt war wie ihr, und angenommen, es hätte damals schon eine Beschwerde-Adresse gegeben, da hätte ich noch ganz andere Sache über unsere verantwortlichen Genossen geschrieben! So verständnisvoll, wie sie sich heute auch geben, waren doch gerade sie unsere Kreis- und Bezirks-Honeckers. Da sind wir uns völlig einig!“ „Aber“, sagte die Verkehrspolitische, zwinkerte Isabel zu und verdrehte die Augen. „Aber heute und auf ihre verquere Art mögen sie uns eben“, sagte Schreiber zuverlässig und lachte. „Weil jetzt wir das Sagen haben, natürlich. Und sie nur noch das letzte Wort... Isa?“ „Also ich gehe immer zu meinen Terminen, schlafe nicht mit meinem Persönlichen und habe keinen Bruder“, sagte Isabel. „Und ich habe mal angefangen, über die Groteske zu promovieren...“ „Angefangen, ja“, sagte Schreiber. „Ich weiß. Und?“ Isabel winkte ab, und sie schaute nicht in das geschenkte Bier, sondern trank es aus und holte tief Luft. An solchen Tagen stand für sie alles auf der Kippe. Isabel vergaß nicht, dass der Erfolg der Sozialdemokratie mit den Leichen von Karl und Rosa gedüngt war, und ein schlechter Geiger und betrügerischer Häusle-Bauer hatten ihr Land an den christlichen Fettkloß der Einheit verschenkt. Wenn Isabel einmal im Plenarsaal zu Wort kam, tarnten die Christdemokraten ihre Zoten als Zwischenfragen, und der Bonner Langsam-Stotterer hatte ihr ungeliebtes neues Land wahnsinnig schnell kriegsverwendungsfähig gelogen. Die Schwarzen hatten ihr keine Arbeit gegeben, und die Rosanen hatten ihre Rentenaussichten geschmälert, aber zum Aussteigen tief neigte sich nur der Beton-Blumenkübel am einsamen, rostigen, gebrochenen und absolut genieteten Arm dieser Dreier-Waage. Den toten Zaren und die Berliner Mauer wog Isabel noch nicht einmal mit, nicht die in Kronstadt und Barcelona abgeknallten Matrosen und Anarchisten, weder die an Hitler ausgelieferten Antifaschisten noch den in Sibirien verhungerten Dichter Ossip Mandelstam. Der Fortschritt trank seinen Wein eben aus den Schädeln Erschlagener, und in allen Sackgassen aller Zeiten hatten sich fragwürdige Fortschritte besonders feucht gefeiert. Für sie wog schwer genug, dass Isabel keine internationale Wundergeigerin geworden war, obwohl sie für die Bespannung des Bogens eine Faustvoll ihrer Pferdehaare geopfert hätte. Die Bretter für die neuen Stradivaris trug ein Politbüro vor dem Kopf, das die Instrumentenbauer in Klingenthal lieber für den OTTO-Katalog leimen statt für die eigenen Philharmonien schaffen ließ, und gegen die Nobelpreise für Medizin und Literatur sprach Chruschtschows Ärger um Pasternaks „Doktor Schiwago“. Nur die Mädchenhändler der Kinder- und Jugend-Sportschule durften in Isabels Klasse. Sie zogen unter dem Walter-Ulbricht-Bild in der Turnhalle eine rote Linie, wie die Spanier im Palast des Inca, und wer die Linie überragte, musste ins Hormon-Bad, was darunter blieb, wurde in den Stufenbarren geflochten. So logen die in der Wirtschaft siegreichen nassen Säcke in Stadion, Eiskanal und Sporthalle später. Man maß und wog die Kinder natürlich, hatte Tabellen mit Wachstumsnormen dabei und ließ sich vorturnen, das schon. Aber keines der Kinder träumte von feinen Trainingsanzügen, Auto-Präsenten oder Fluchtgelegenheiten. Man sah ihnen beim Sport zu, sah ihnen in den Hals und ins Zeugnis, und den gelenkigen, gesunden und fleißigen Talenten versprachen die strengen Trainer-Kumpels den Olympia-Sieg. Und aus der Zeitung und dem Fernsehen wussten Eltern und Kinder: wenn manches auch beschönigt wurde, diese Sätze stimmten immer. Isabel hätte lieber international gegeigt oder notfalls dem schwedischen König die Hand geschüttelt, aber sie jammerte deshalb nicht. Ein bisschen alt zwar, mit achtzehn, würde sie in Moskau Olympiasiegerin am Stufenbarren sein, und das war ja nicht nichts. Bis zum 4. April 1976 gab es in Isabels Leben also keinen Tag und kein Urteil, die sich von dem abhoben, was jedem Kind in ihrem Land passierten konnte: Zufälligkeiten, nichts Dramatisches und nur, was ihrer schulischen und großen Obrigkeit das Gute schien. Selbst dass Isabel anfing, einmal im Monat wie eine überreife Tomate auszulaufen, ärgerte nur ihren Trainer. An diesem Tag 4. April 1976 aber, genau um 15.41 Uhr, brach der Holm, gegen den sie rückwärts federte, und Isabel war so gespannt und so heftig unterwegs nach Moskau, dass sie über alle Matten der Vorsicht flog und in den Rippen der alten Turnhallen-Heizung landete. Die Eisen teilten ihren Schädel in drei Teile, und alles was an Isabel noch ganz war, hing an einer letzten Nervenfaser an diesen Trümmern. „Ruft man da noch den Krankenwagen“, fragte jemand, und jemand anderes sagte: „Fünfzehn wirst du eh nicht mehr. Da feiern wir die Jugendweihe, Weihnachten und Silvester gleich mit.“ Wach wurde Isabel an einem furchtbar heißen Tag, von einem Klappern aus dem Nebensarg. Weil sie den Kopf nicht drehen oder heben, keinen Arm und kein Bein bewegen konnte, dachte sie für einen Moment an einen Sarg. „Schwester“, riet Isabel, weil Ärzte immer gleich fragten, was ihnen gemeinsam fehlte. „Das juckt so fürchterlich!“ „Wenn’s weiter nichts ist, Kleines“, sagte eine über Isabels Gesicht strahlende Ober-Oberschwester. „Es dürfte wehtun Schreien dürftest du doch...“ „Es juckt mich aber nur...“ „In Ordnung“, sagte die Ober-Oberschwester und schwamm davon. Dann drückte etwas auf Isabels rechtes Auge, und ein Verhörlicht ging an. „Wo juckt es uns denn?“ „Mir... Die Beine... Zwischen den Beinen...“ „Wenn sie da was spüren würde, wäre das ein Wunder“, frohlockte der Krankenhaus-Geistliche. „Ja, das ist nur ein Phantom-Reiz“, diagnostizierte der Psychiater. „Großer Gott“, betete der Medizinmann. „Das sieht wie Tripper aus... Ich bin da zwar kein Spezialist, aber... Doch...“ Es war wie bei einem der Wettkämpfe, bei denen es für jedes Vorturnen so viele Noten gab, wie Schiedsrichter, Trainer und Sportsfreundinnen dabei waren. Isabel kannte das, aber sie wollte es nicht diskutieren, in den Minuten, in denen ihr jemand ohne Betäubung zwischen rechtem und linkem Ohr eine Schweißnaht zog. „Die gute Nachricht: es war kein Phantomschmerz. Du wirst vielleicht nicht gelähmt sein“, sagte dann ein Arzt mit einem grauen Lenin-Bart und kam so nahe, dass kein Stalin Isabels Antwort mithören konnte. „Aber, Mädchen, du, in deinem Alter... Wo hast du diese Krankheit bloß her?“ „Ich bin vom Stufenbarren gefallen“, erinnerte Isabel ihn. Er lächelte ironisch. „Tripper holt man sich aber auf keinem Stufenbarren! Und auf keiner Toilette, Kindchen!“ Isabel versuchte trotz der Schweißarbeiten dieselbe Grimasse. „Und wie können wir alten Jungfern dann so etwas bekommen?“ „Jungfrau... Alt...“ Lenin schüttelte den Kopf erst souverän, bevor er die Oktoberrevolution absagte und als Tattergreis nur noch ins Kloster wollte. „Also das... Das kann doch nicht sein!“ Isabels Problem war nicht ihr erstes Tscheka-Verhör. Die Genossen fragten vorsichtig und gaben sich mit dem einzigen erinnerten Satz zufrieden, und ein anderes Mal ließen die roten Matrosen vor der Zimmertür Isabels Mutter herein. Sie brachte Freudentränen, einen Strauß roter Rosen und einen Karton halbbittere Katzenzungen mit. „Und diese andere Sache... Das kann doch gar nicht sein! Das ist hier immerhin die Uni-Klinik, Kleines! Hier wirst du von international geachteten Kapazitäten und Genossen Professoren betreut!“ „Sonst würde die letzte Nervenfaser auch nicht reichen...“ „Eben, ja!“ „Und da werden die Genossen doch ein paar Tripper-Viren erkennen...“ Die Mutter schüttelte den Kopf und lächelte nachsichtig. „Das bestreitet ja auch niemand! Aber die Geschichte dazu... Sieh mal: es ist doch gar nichts dabei, dass du ein bisschen frühreif bist! Das liegt an Urgroßmutters Genen, denke ich. Und ich habe bestimmt keine Vorurteile über..., gegen bestimmte Praktiken. Ich kenne das nur aus der Literatur, natürlich! Und das war ja mal richtig Mode, bei den alten Griechen.“ „Na, die Literatur kannst du mir jetzt ja mal borgen!“ „Aber du bist erst hier drin vierzehn geworden, Isa! Das musste der Schuft doch sehen! Der Verbrecher, der dich auch noch infiziert hat... Oder... War es... War es eine Bande?“ „Ich weiß nicht.“ Isabels Mutter atmete auf. „Ach, du warst also betrunken? Ist es so gewesen?“ Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte Isabel an diesem April- oder Mai-Nachmittag die Augen für immer geschlossen. Es war nicht nur so, dass sie der Kriminalpolizei die Statistik aufgeklärter Verbrechen verdarb und den Ärzten und Schwestern nicht garantieren konnte, dass ihr Kopf und Schultern wieder zusammen wuchsen. Sie taugte auch nicht mehr für den Olympiakader, passte in die heile Welt ihrer Gebärerin wie das Erdbeben zu Sodom und sah nichts außer den Rissen in der gelblichen Zimmerdecke. Die Peinlichkeiten einer gewöhnlichen Entjungferung waren ihr zwar erspart geblieben, aber es entging ihr trotz der regelmäßigen Drogen-Rationen nicht, dass in ihrem Gips-Kokon die knospenden Brüste zu ziemlichen Möpsen weiter schwollen. Nichts gelang und alles geschah ihr, lernte Isabel für ihr Insektenleben nach Verkehr, Verkehrs-Unfall und Tod. Schließlich lebte die übergroße Mehrzahl aller Tierarten und aller Individuen mit einem äußerlichen Skelett, und sie musste sich nur durch die Schul-, Stadt- und Staatsbibliotheken arbeiten. Dann würde ihr in einem längeren Schlaf Flügel aus bedrucktem Papier wachsen, und mit denen würde sie schneller als mit Invaliden-Rädern oder Sportlerinnen-Füßen über die Weltgrenze hinweg kommen. Vom Krankenhaus weg war die Schildkröten-Schale mit Isabel in das Industrie-Dorf ihrer Scheidungs-Kindheit gebracht worden, wo der Großvater den Dachboden der ehemaligen Werks-Wohnung um ein gebrauchtes Erwachsensen-Gitterbett ausbaute und nach jedem Feierabend kam, um staunend Marx und Engels vorzulesen. Mit den noch ausreichend trainierten Unterarmen hielt Isabel zwischendurch fast den ganzen Brecht aus, Heine und Shakespeare, und während die Gebärerin von sich aus nur Teddybären mitbrachte, opferte der Vater das ziemlich neu erschienene, eigene „Der Meister und Margarita“. Der Teufel kam nach Moskau, das war die Vision gewesen. Bulgakow hätte auch, die aktuellen Bücher lagen ja auf dem alten Riesen-Radio, „Biermann“ schreiben können, fiel Isabel auf. Wolf Biermann kam nach Moskau, um zu singen, was der Obrigkeit eigentlich gefallen musste: Wo das Volk Schluss mit der Not macht... Und freilich war ein Teufel sogar dabei böse: ...vom Schreibtisch aus den Held spielt / In feiner Kluft mit alten Orden... Da mussten sie natürlich durchdrehen, all die Türsteher, Geheimpolizisten und Kabarett-Direktoren, während Biermann, Iwan Hauslos und Margarita Krieger im Roman von Meister Michail entdeckten: Der rote Stern an der Jacke / Im schwarzen Barte die Zigarre / Jesus Christus mit der Knarre / So führt dein Bild uns zur Attacke... Comandante Che Guevara! Das lag für Isabel auf der Hand, die, wenn alles doch einmal zu schwer wurde, auf eine immer dickere Titte sank. Wer mit solchen Gedanken herumlaufen konnte, konnte genau damit und bei einigem Pech in die Klauen ihres Vaters und in die Aktendeckel geraten, die eichhörnchen-fleißige Pontiusse und Pilaten schon immer für die Spätwerke dicklicher Protest-Pfarrer und untalentierter Lyriker und Malerinnen füllten. Ob ihre Akte schon mit der politisch unmöglichen Vergewaltigung und der unsozialen Krankheit begonnen hatte beziehungsweise seit wann sie ansonsten als Sicherheitsrisiko für den Arbeiter- und Bauernstaat eingestuft worden war, hätte Isabel schon einmal interessiert. Und wie hatte Wolfgang, wenn er nicht auf sie angesetzt worden war, seine Beziehung zu einer Dissidenten-Witwe zu Protokoll gegeben? Wolfgang war ja der Gitarrist der Stasi-Singegruppe gewesen, die sich ohne Heimlichkeit am Brecht-Friedensprojekt des Hochschul-Theaters beteiligt hatte, aber deshalb hätte er noch nicht als erster Gast in der nicht ungemütlichen Klapsmühle auftauchen müssen. Wieso war Isabel plötzlich darauf verfallen, sich an einem und gerade an Wolfgangs Stengel aus dem gärenden Sumpf von depressiven, paranoiden und schizoiden Schüben zu ziehen? Dass das auch mit der Zeigerstellung ihrer biologischen Uhr zu tun gehabt hatte, konnte Isabel so wenig bestreiten, wie sie sich von ihrem Mann und späteren Ex einreden ließ, dass ihre Tochter mehr als das glückliche Ergebnis gemeiner Notzucht gewesen sei. Wolfgangs Chefs hatten sich auch in seinem vierten Jahr nicht mit Isabels Gorbatschow versöhnt, aus Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei entkamen immer wieder Leute ihrer Kontrolle, und die Bleibenden machten sich nicht einmal mehr die Mühe, ihre Ansichten und ihre Flugblätter zu verstecken. Um Florian zu füttern, musste Isabel nur noch die Krusten von den Leberwurst-Broten schneiden, und es sollte kein Jahr mehr dauern, bis sie ihn für die täglichen paar Stunden eigenen Lebens im Kindergarten abgeben konnte. Sie freute sich rundum auf das, was der Mann in der anderen Betthälfte fürchtete, aber zum letzten Jahrestags-Empfang waren noch einmal die unverdienten Verdienstnadeln ausgeteilt worden, und der kleine Hauptmann fühlte sich davon aufgestachelt. Er segelte für eine letzte Nacht auf dem Oberwasser des „Radeberger Export“, und keinen Monat, bevor sich sogar für diese Art Vergewaltigung Richter gefunden hätten, hörte Isabel nach zwei Ohrfeigen auf, sich zu wehren. „Bisschen schmutzig und ein bisschen hart: so magst du das doch“, staunte Wolfgang über den Heulkrampf neben sich. „Hey, du... Du hast die Pille vergessen, ja?“ „Das auch! Und gehauen, gehauen hast du noch nie!“ „Eben! Wenn ich mal zuhauen würde, dann...“ „Du denkst dabei an eure Verhöre, wie?“ „Also jetzt bist du echt pervers“, protestierte Wolfgang. „Und was beschwerst du dich überhaupt? Das kannst du doch glauben, dass mir deine Geschichten bei der Karriere nicht gerade helfen!“ „Was für Geschichten, du Arsch?“ Wolfgang knipste die Nachttischlampe an, stellte den Aschenbecher in die Bett-Mitte und rauchte die erste Zigarette für Isabel an. „Du, tut mir Leid... Und die haben dich doch überprüfen müssen, vor der Hochzeit. Aber das ist so üblich!“ „Ja, wenn es weiter nichts ist! Wenn das so üblich ist...“ Isabel setzte sich auf, dehnte das Nachthemd und versuchte, allen Schleim aus seinem Kampflatz für den Frieden zu wischen. „Und was für Geschichten also?“ „Das weißt du doch genau! Für deinen ersten Mann: für den hast du mit dem halben Schriftstellerverband...“ „Idiot! Der Schriftstellerverband ist doch kaum kleiner als euer Verein! Und ich...“ „Und du würdest staunen, wer das alles aufgeschrieben hat“, triumphierte Wolfgang. „Und wie genau!“ „Warte mal!“ Isabel gab ihm die Zigarette zum Halten und rieb sich mit den Daumenballen die Augen. „Du hast einen Aktenordner, in dem steht, was ich mit wem und wann und wie getrieben habe? So eine Art Zucht-Buch? Wie bei ganz seltenen Affen?“ „Ehrlich, Isa...“ Er wollte, dass sie einen Lungenzug machte. „Mir wäre..., mir ist das auch immer egal gewesen! Aber das ist eben so üblich. Wegen der Sicherheitsrisikos und so. Und das machen auch alle Nachrichtendienste!“ „Nachrichten...“ Isabel schniefte verächtlich. „Überhaupt nichts kriegst du doch mit!“ Beim Frühstück hatte Isabel ihm versprochen, dass er nach dem nächsten Hautkontakt zwei Porzellanbecher mit seinen Eiern darin neben dem Teller finden würde, und ein Jahr später war von Wolfgangs Dreieinigkeit aus Sozialismus, Staatssicherheit und glücklicher Familie nur noch die Heiratsurkunde übrig gewesen. Statt einer Wieder-Anstellung hatte Isabel ihr zweites Kind bekommen, und danach konnte sie ja nicht mehr auf eine juristische Regelung ihrer klaren Verhältnisse drängen. Immerhin war Wolfgang ohne den allgemein verlangten Umweg über die Produktion mit seinem direkten Vorgesetzten in den Immobilien-Handel gewechselt, und sie verkauften den siegreichen Bürgerrechtlern die neuen Parteibüros unter dem Hintern weg und versicherten nebenbei Bäcker- und Klempnermeister gegen alles außer Zahlungsunfähigkeit. Farbfernseher und Trabant waren zu ersetzen, und danach dauerte es noch ein bisschen, bis Wolfgang eine frei vermietete Wohnung fand und sich an eine Boutique-Gründerin verschenkte, von der er nur die für die Lebensversicherung relevanten Daten kannte. Auch eine Scheidung musste sich inzwischen rechnen, und der Kinder wegen rechneten sie vorsichtig und zu dritt, und Isabel tauschte den Familien-Passat gegen die Fahrschule und Monikas Citroen AX. Nichts in Isabels Leben taugte also als Körnchen Wahrheit für die Gerüchte, die aufkamen, als Isabel schuldlos erst auf der KandidatInnen-Liste landete und dann sicher in den Landtag einzog. Es wäre umgekehrt viel eher ihr Recht und ihr Beruf gewesen, den Fraktionsvorsitzenden Doktor Schreiber zu verhören, wer ihm wann und warum das Gewinde geschnitten hatte, mit dem er als Dozenten-Schräubchen in den Partei-, Staats- und Hochschulapparat gepasst hatte. Wieso hatte er das große Aussortieren der fähigen und anständigen Universitäts-Konkurrenten überstanden, und was, wenn ihn gleich zwei Scheißstaaten als unschädlichen und harmlosen Konformisten eingestuft hatten, prädestinierte ihn zum Oppositionsführer und Herausforderer des Ministerpräsidenten? „A propos Groteske“, sagte der Fraktionsvorsitzende und holte ein dreifach längs gefaltetes Blatt aus der Innentasche seines Zuhälter-Jacketts. „Ich soll über die letzte Etappe des Wahlkampfs referieren, habe aber schon einen anderen Termin...“ Die kreislaufpolitische Sprecherin straffte den Rücken, und die Verkehrspolitische schnitt ihr Leider-fahren-nach-Cuba-keine-Vorortzüge-Gesicht, aber Schreiber hielt die Einladung eindeutig Isabel hin. Isabel faltete den Brief auf, holte tief Luft und beschloss, ihren persönlichen Arbeitslosen noch ein wenig zu behalten.
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Jeschua
Kapitel 1 Isa |