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11.(Bericht über eine Unterredung mit Hochwürden Jockel Auerhahn, amtierender Stadtchronist)Als sie einen Pfarrer über das Archiv der Stadt-Inquisition einsetzten, trafen die Revolutionäre von Schildau eine durchaus weise Entscheidung. Haben wir es doch bei dieser Berufsgruppe für gewöhnlich mit Menschen zu tun, die gewohnt sind, die nicht eben deutliche Zeichen ihres schwer faßbaren und nur noch schwerer begreifbaren Chefs zu lesen und in Unnachgiebigkeit zu übersetzen. Hinundher gerissen zwischen dem biblischen Auftrag, den Reichen die Verschlossenheit der Himmelspforte anzudrohen, sie aber auch zu Spenden für neue Kirchentüren zu gewinnen, gelüstet es Pastoren desweiteren nicht selten nach prinzipielleren und einfacher zu besorgenden Tätigkeiten. So betrachtet sind Pastoren nicht, wie die atheistische Propaganda uns glauben machen will, Betrüger der Massen und Zungenlanger des Bestehenden, sondern vielmehr die Avantgarde des massenhaften Selbstbetruges und die schlimmsten Finger aller weltlichen Revolution. (Nach allgemein unbestrittenen Informationen war auch der Vater des gar nicht feststehenden Schildauer Drachens einst Priesterschüler.)Jockel Auerhahn freilich war selbst solcher Aktivitäten unverdächtig, denn obgleich es den Drachen zutiefst erbost hätte, daß er von der Hochwürden Auerhahns Nord-Kirche mitleidslos ignoriert wurde, hatte der konsequente Pfarrer das dem Drachen nie mitgeteilt. Als also Heidi Hohlfeld und das tapfere Dutzend von der Bewegung Neue Schwatzsucht einen Aktenverwalter suchten, der mit dem Drachen in keinster Weise in Kontakt gewesen und über jeden Verdacht der Ambition und Kompetenz erhaben war, mußten sie geradezu auf Jockel Auerhahn verfallen. Daß seine erste Amtshandlung war, sich mit dem Schlüssel zum Archiv der Stadt-Inquisition dortselbst einzuschließen und alle ihn betreffenden Akten zu durchforsten, verziehen die Revolutionäre von Schildau ihrem Erwählten so großherzig wie weise: wäre es doch nicht angegangen, jenes Amt einem Mann anzuvertrauen, auf den später ein Schatten des Argwohns oder gar ein gefüllter Schnellhefter hätten fallen können. (Bis heute ist das denn auch nicht geschehen, was uns lehrt, daß Nachsicht mitunter die beste Form der Vorsicht ist.) Auch darüber, daß Jockel Auerhahn in seinem neuen Amt schnell zu Ambitionen und zu Kompetenz gelangte, kann kein Zweifel mehr bestehen. Seit zwei Jahren läßt Hochwürden dies vierteljährlich durch seinen Persönlichen Referenten bekannt machen, und gewöhnlich zu diesem Anlaß verlautet auch, daß Hochwürden gleichwohl weiter an sich arbeitet. Zu klären, weshalb immer wieder größere und eben die heftigst nachgefragten Aktenteile aus dem gut verschlossenen Archiv in öffentliche Flugschriften gelangen, ist dem Herrn Stadtchronisten nämlich bislang noch nicht gelungen. Ist das wieder einmal der Fall, pflegt der Herr Persönliche Referent ebenfalls, die Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit Herrn Jockel Auerhahns zu betonen, was nun auch dem mißtrauischsten Leser meines Berichtes der Beweise genug sein dürfte. Daß ich diesen Abschnitt "Unterredung" überschrieben habe, ist bei genauer Betrachtung unkorrekt. Ich hatte nicht die Ehre, dem Herrn Amtierenden Stadtchronisten, der überdies den Titel Regierungsbeauftragter für das Regiment über die Akten der verbrecherischen Regierung führen darf und von den Flugschriften zärtlich »Der Regisseur« genannt wird, persönlich gegenüberzutreten. Auch wurde mir versichert, von einer solchen Audienz ohnehin nur fünf Sätze mitnehmen zu können, und zwar: 1.) "Nach dem gegenwärtigen Stand unserer Erkenntnisse sind unsere Erkenntnisse nur das gegenwärtig Erkannte." 2.) "Wenn ich das lese, bin ich so erschüttert, daß ich nur erschüttert weiterlesen kann." 3.) "Die Akten sind bei mir, wie ja auf der letzten Flug- schriften-Instruktion betont wurde, in meinen besten Händen." 4.) "Ich tue, wie ja auf der letzten Flugschriften-Instruktion betont wurde, alles mir mögliche, um die Akten vor mißbräuchlicher Verwendung zu bewahren." 5.) "Akten lügen nicht, wie ja auf der letzten..." So sind die weiterführenden Bemerkungen Jockel Auerhahns tatsächlich nur Vorträgen und Unterredungen entnommen und von mir mit gebotener Behutsamkeit in die hier wiedergegebene Form gebracht worden. Ich: Hochwürden Auerhahn, von einem einfachen Pfarrer sind Sie zu einer der umstrittensten Persönlichkeiten Schildaus geworden. Wie finden Sie das? Auerhahn: Es ist doch großartig, von den richtigen Leuten anerkannt und unterstützt zu werden unund von den anderen abgelehnt zu werden. Ich, nach einem verlegenen Hüsteln: Aber nicht wenige nicht ganz dumme Leute sehen in Ihnen den neuen Großinquisitor und in Ihrer Dienststelle ein undurchschaubares mechanisches Ungeheuer. Auerhahn: Das ist kompletter Unsinn. Wer so redet ist entweder dumm oder bösartig. Ich: Aber ist es nicht vielleicht doch ein bißchen so, daß Sie aus einem uns Außenstehenden unbekannten Akten-Labyrinth Papiere und Schlußfolgerungen ziehen, die über die berufliche Zukunft vieler Menschen entscheiden? Auerhahn: Die Behauptung ist falsch und wird durch Wiederholung nicht richtiger. Wir erteilen lediglich Auskünfte, mit deren Hilfe andere die Entscheidungen treffen. Ich: In einem Fall hat ein Gericht entschieden, daß die von Ihnen verwalteten Akten nicht die letzte Instanz der Wahrheit sein müssen. Auerhahn: Ich möchte keine Urteilsschelte betreiben, aber wir brauchen unsere Aussage deshalb nicht zurückzunehmen. Akten lügen nicht, wie ja auf der letzten Flugschriften-Instruktion betont wurde. Ich: Hochwürden, daß die Menschen Ihrer Stadt inzwischen andere und drückendere Sorgen haben, ficht Sie nicht an? Auerhahn: Diesen Eindruck teile ich selbstverständlich nicht. Und denken Sie nur an unsere neuen phantastischen Möglichkeiten: bisher war es nicht möglich, wirtschaftsleitende Kader, wie wir früher sagten, zu überprüfen, so daß alle Beschäftigten in unserem Schildau weiter in den Seilen des Drachennetzes zittern mußten. Ich: Ich logiere zufällig bei einem Schlosser, der in keiner Werkstatt mehr schließen und zittern darf. Auerhahn: Das ist bedauerlich, denn das frage ich mich schon: was brütet er wohl in seinem Kopf, wenn er nun in der Kneipe sitzt? Wohl nicht, was ich mir wünsche. Ich: In einem jüngst in großer Auflage erschienen Text heißt es, in einem auf unser Thema bezüglichen Dialog. »Warum isset euer Lehrer mit den Sündern und Zöllnern?« Und "Zöllner" benennt in diesem Text die Vertreter der örtlichen Inquisition, und der Text zitiert zustimmend die Antwort des Lehrers: »Gehet aber hin und lernet was das ist: 'Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.' Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.« Auerhahn: Ja, da müßte ich wohl erst einmal in unserer Decknamen-Kartei nachsehen... Aber ja, darin haben Sie Recht, das ist die für einen Zuträger der Iquisition typische Argumentationsweise, doch. Wie war gleich der Name? Ich: Der des Autors? Auerhahn: Ach, das ist nur so eine Formulierung, die versucht, schön im Zeitgeist liegend, die Hirne meiner Mitmenschen zu verkleistern. Wie dieser ohne Zweifel noch nicht überprüfte Lehrer heißt! Und wie war noch einmal Ihr Name? Ich hatte, die Antworten aus den Flugschriften »Der Zerrspiegel« und »Schildauer Zeitung« herauslesend, bereits Luft geholt, meinem nur gedachten Gegenüber zu antworten, doch schreckte ich gerade noch rechtzeitig zurück. Nicht einmal im Traum, schwor ich mir, allenfalls auf der Folter. Blanche lachte von Herzen, als sie das ausgedachte Gespräch las, aber ich bekam sie ernst und stumm, indem ich ihr Antwort um Antwort in den Flugschriften aufzeigte. "Der wird dir nicht helfen", resümierte sie dann, "denn der braucht ja einen Drachen, um sich erträglich zu machen." Und dann kicherte Blanche doch noch einmal. "Aber den Bibeltext würde er bestimmt noch erkennen... Erkennen und irgendwie anders widerlegen."
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Caput 1 |