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6.
(Die genaue Lage und die allgemeine Geschichte
Schildaus, widergegeben, um die Einfahrt in das
Weichbild der Stadt nachempfindbar darzustellen.)
Eine Gegend, in der die Winter nur selten wirklich
kalt und die Sommer nur kurz wirklich heiß sind, in der
Sümpfe wie Sandflächen ignorierbare Extreme sind und
zwischen wenig schroffen Bergen und trägen Flüssen
aufbuckelnde Ebenen liegen, heißt in der Wetter- und
Landschaftswissenschaft eine »gemäßigte Zone«. Auf den
politischen Karten Europas finden wir sie mit
»Deutschland« bezeichnet, und gleichermaßen von den
Meeres- und Gebirgsrändern dieses Landes entfernt liegen
Schildau und die der Stadt verbundenen Gemeinden. Wer
Schildau nicht kennt, kann also getrost auf einen Besuch
daselbst verzichten und sich stattdessen eine
Ansiedelung von Menschen vorstellen, die in ihrem ganzen
Wesen von diesem Mangel an besonderen Herausforderungen
geprägt sind.
Die frostige Abneigung gegen
aberwitzige Pläne ist bei diesen Menschen sowenig
dauerhaft wie die Hitze von Liebe und Zorn, und nicht
die Notwendigkeiten der Gefechte mit der Natur, sondern
die allgemeine Ereignislosigkeit ihrer Nächte lassen die
Schildauer früh aufstehen. Aus purer Gewohnheit gehen
sie an ihre Arbeiten, von denen sie wenig Äußeres oder
Inneres abhält, und sie arbeiten so, daß sie noch Kräfte
für die geringen Mühen über behalten, die die Bestellung
ihrer Gemüsegärten verlangt.
Es könnte ein Wunder
heißen, daß dieser kaum aufregende und aufregbare
Menschenschlag in der Geschichte des Kontinents und des
Landes nicht selten als ein gefürchtetes Kriegsvolk
aufgetreten ist, aber ich möchte es eher die seelische
Veranlagung aller Germanen nennen.
Gerade ihre
und ihrer Ländereien Mäßigkeit haben die Germanen immer
wieder dazu verführt, der Abneigung gegen die
vögellustigen Franzosen oder die bärentraurigen Russen
nachzugeben und diese Abneigung mit der Nachbildung der
entbehrten Vulkan- und Erdbeben-Katastrophen zu
verbinden, mit dem Krieg. Ob nun das eine oder das
andere Nachbarvolk sie belästigte oder ob sie der Welt
die eigenen Maßstäbe auferlegen wollten, waren
wechselnde Begründungen. Stetig blieb, daß die Germanen
zu Zeiten aus der angeborenen und dazu gelernten
Besonnenheit feurig ausbrachen, wie es ihre Berge seit
Urzeiten nicht mehr getan haben. Alsdann verheerten sie
die Nachbarländer bis vor deren Hauptstädte und kehrten
hernach, zumeist ge-, aber immer niedergeschlagen
zurück, um sich die Wunden zu lecken, sich der
verkommenen eigenen Stadt anzunehmen und sich ihrer
Wildheit auf ewig zu schämen und zu erinnern. In diesen
Perioden ihrer Geschichte gelang ihnen in Bau- und
Buchkunst, in Wissenschaft und Technik einfach alles,
und immer wenn die Welt eben staunend und neidisch auf
ihr Land blickte, sahen die Deutschen die Welt als eine
abscheuliche an, neideten sie dem Ausland dies oder
jenes und stiegen erneut in die Harnische.
Was
aber Schildau von den übrigen deutschen Staaten abhob,
war der Umstand, daß es nach dem letzten großen Krieg
der Deutschen von den Russen besetzt wurde, die, - nach
Auskunft der Schildauer an Seine Herrlichkeit und
Allmacht -, ihrerseits einen Verwaltungsdrachen
einsetzten.
Dadurch, so meinen abseits von
Schildau viele, seien die Stammeseigenheiten der
Deutschen bei den Schildauern gleichsam konserviert
worden: Rußland hatte nicht soviel Wodka über wie die
Angelsachsen und Franzosen Whisky und Cognac, und die
russische Eigenart, sich im Rausch die Schädel
einzuschlagen und sie im Kater zu umkränzen, war weniger
gewinnend als der Brauch, fühllose Gitarren zu dreschen
und sich öffentlich zu entblättern. Da es nun aber den
Russen, (den zu untersuchenden Drachen einmal außer Acht
gelassen), so wenig gelang, den Schildauern Maßstäbe aus
sibirischem Holz zu verpassen, gestanden sie ihren
Untertanen unter der Hand das eigene Maß zu und
schnitten von allem danach Gefertigten nach Möglichkeit
oder Unmöglichkeit ab. Während also die Deutschen in den
westlichen Ländern bald begannen, ihre Eigenheit nach
dem internationalen Maß zu messen, blieben die
Schildauer bei ihrem Leisten und hoben ihn trotzig und
unerschrocken, sobald auch ihnen klar war, daß die
Russen den Rückzug aus ihrer Gegend ernsthaft erwogen.
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Caput 1
Caput 2
Caput 3
Caput 4
Caput 5
Caput 6
Caput 7
Caput 8
Caput 9
Caput 10
Caput 11
Caput 12
Caput 13
Caput 14
Caput 15
Caput 16
Caput 17
Caput 18
Caput 19
Caput 20
Caput 21
Caput 22
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