5.
Bis wir die Rechnung bekamen, glaubten wir, dem Orden durch unsere Anreise in der öffentlichen Post Kosten zu sparen.

Blanche, (das sei zugegeben), war allerdings von Anfang an gegen diese Art der Bewegung nach Schildau gewesen. Wie im Körper eines Pestkranken die Lymphknoten schwollen und über die zu ihnen und von ihnen führenden Bahnen Feuer, Schmerz und Krankheit aufnahmen und weiter leiteten, so drückten sich die Stationen ins Land und die Welt. Groß und dunkel wie die Fahrpläne der Betuchteren seien die Augen der Kinder, die an diesen Orten herumlungerten, - in nicht einmal unbegründeter Hoffnung, sich an einen Älteren und das Wohl gepachtet Habenden ankoppeln zu können.

"Ich könnte morden in diesen Augenblicken", sagte Blanche, "oder schlimmer noch: ich würde gern die werden, die sie in mir ersehnen. Ganz ohne perverse Lust! Noch jeder Mensch hat sich aus Bequemlichkeit geträumt, einen anderen zu gewinnen, der ihm die Wohnung und ihn zwischen den Schenkeln putzt. Und der für diese Dienstleistung nichts als die Gelegenheit zu ihrer Wiederholung verlangt... Und eben das scheinen uns die Kinder auf den ersten Blick zu versprechen, daß wir sie nicht erst brechen und ducken müssen, sondern sie dazu aufwachsen lassen können, in ihrem natürlichen Aufwachsen. Wie du bin ich hierher gekommen, sagen sie mir ohne jedes Wort, um fortzufahren aus der gewohnten Umgebung, und du mußt uns nur noch die Fahrkarte kaufen an das gemeinsame Ziel."

Und wie von den mageren, unausgeschlafenen Jungen und Mädchen, so wurden die Stationen auch von den Verkäufern von Flugschriften und Programmen zur Seelenrettung belagert.

"Jene sind die zweite Instanz", fiel mir ein, "und nicht zufällig miteinander verquickt und bunt schillernd wie Darmschlingen. Sie leben vom Verdauen des Lebens, welches uns diese versprechen: von all den traurigen Schicksalen der Kleinen und den schlechten Gewissen und schlechten Träumen der Großen."

An unserem Reisetag schrien die Flugschriften-Händler das Urteil über ein Elternpaar heraus, dessen Junge nicht das Glück gehabt hatte, auf den Sklavenmarkt zu entkommen und in der heimischen Küche erschlagen worden war. Sie schrien vom barbarischen Beginnen der gut christlichen Serben, die nicht aus Bequemlichkeit, sondern zum Ruhm ihrer Nation über die Kinder einer anderen Nation hergefallen waren, und inmitten der Rufe zum Kauf der Berichte nahm sich die Frohe Botschaft bescheiden aus: düstere Ahnungen der Wirtschaftsweisen verhießen den Reisenden und den Serben aller Länder auch weiteren Nachschub an Kinderfleisch.

"Es ist ja nicht so", sagte Blanche, "daß all das nicht geschähe, wenn alle Menschen privat reisten, oder daß es nicht auch an den Kreuzungen und Rändern der Dorfstraßen geschehen würde. Es ist nur so, daß der Staat mit den Stationen große Märkte für die Anbahnung dieser Taten und den Austausch der dabei gemachten Erfahrungen unterhält. Und wie es im einzelnen Dorfe für unschicklich und ehrenrührig gälte, einen Knaben hinter den erstbesten Busch zu ziehen und ihn zur Hure zu machen, so gälte es an diesen Freistätten der Lust für unschicklich und ehrenrührig, den Anfängen solcher Taten zu wehren."

"Die Nachbarstaaten liegen dicht beisammen", zitierte ich ihr, unterwegs zur Abfahrtsstelle unserer Post. "Man hört die Hühner gackern und die Hunde bellen, Und doch verkehrt man bis zum Tode mit seinen Nachbarn nicht."

Eine solche Ordnung der Gesellschaft hätte uns Nachtmenschen und Langschläfer hart unter das Diktat der Jahreszeiten und der Klimafronten geworfen, und wir hätten in unserem Staat Wolfenwasser weder unsere unschönen Themen noch die wenigen Freunde und Gesprächspartner gefunden, von denen im ganzen Heiligen Römischen Reich kein Dutzend zusammenkam. Dennoch: als These taugte das chinesische Gedicht, und wir wären auf dieser unserer Fahrt bei einem ähnlichen angelangt, wäre es nicht schon geschrieben gewesen.

Selbst dieser eine Staat, und für einige der einzige, lag weit ausgewalzt über Bergen und Tälern, auf Wäldern und Feldern. Aus Wäldern, die uns in einem Augenblick noch gefielen, wuchsen hinter einer Kurve Wehrtürme. Scheppernd übten, zu den Seiten der Reisestraße, die Reißigen der Regierung, was sie nach allen Predigten und den meisten Flugschriften haßten: den Krieg. Was sie aber verteidigen zu wollen vorgaben, wurde allerorten niedergerissen und platt gewalzt: für neue private und Postwege, Kanäle und jene modernen Dome, in denen aufgegangene Krämer die freßbaren Segnungen der Zivilisation mit dem Ingrimm von Propheten zentnerweise auf unsere Landsleute schleudern konnten. Die Wundmale des Bodens kündigten Stunden zuvor an, daß wir uns einer Stadt näherten, und großflächige Schilder machten bekannt, in wessen Besitz dieser Acker und jene Erdanhäufung geraten und wozu jener Tümpel und dieser Felsen künftig bestimmt war.

Wir sahen auf unserer Reise ein Land, das nach dem Willen seiner Landes-Stiefväter verdammt war, bis zum Jüngsten Tag Kutschen zu kaufen, harte Bälle mit Stöcken und Kellen in kleine Löcher oder über grüne Netze zu schlagen und die Reihungen von Schmieden und Färbereien als einen Park zu durchwandern. Wir sahen Wohnhäuser, die sich mühten, den Schlössern der Reichen zu gleichen, und Wohnhäuser, die grauer und dürftiger als mein Schläfenhaar waren.

"Hierzu gehören zu wollen", wiederholte Blanche pro Stunde etliche Male, "ist nun der dümmste aller Schildbürger-Streiche."

Daß sich die öffentliche Post keiner vollen Beliebtheit erfreut, rächte sie an uns und unseren wenigen Mitreisenden durch ein Verbindungsnetz, das uns nach Sonnenuntergang in eine seiner Lücken stürzen ließ. Wir waren gezwungen, uns Obdach zu suchen, obgleich unsere Finanzen das im Prinzip verboten.

"Wo geht ihr hin", fragte mich ein betrunkener Bürger einer Stadt, deren Namen ich lieber verschweige. "Na, ich will auch auf die schwarze Kuh rauf, Mensch!"

Von einer Bank im Schatten der Stadtmauer vertrieben uns ähnlich gesinnte Gendarmen mit ähnlich klingenden Vorwürfen, und in unserer Zuflucht unterblieb die wörtliche Unterstellung nur, weil ich zum geforderten Zimmerpreis stöhnend nickte. Ich brachte die Koffer und Blanche in die dritte Etage und ging noch einmal auf die Straße, um uns erschwingliche Nährmittel zu suchen. Ich konnte sie in noch leidlichem Abstand vom Markt erwerben, und nachdem wir bäuerlich gegessen und hochherrschaftlich gebadet hatten, lagen wir noch wach und hörten in die schwingende Luft unserer Herberge. (Nur zu selten waren wir Zeugen bei den Vergnügungen der Leute, für die unsere Gesellschaft eingerichtet ist, aber davon vielleicht später.)

Am Morgen sprachen wir dem Frühstück zu, bis uns der Zimmerpreis nicht mehr reute, und in der Stunde des Sonntagsgebets verließen wir den Ort mit der Bummelpost in Richtung Süden.

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