21.

Dennoch waren wir zu gutgläubig. Obwohl Blanche längst kein Kind mehr war, hätte uns doch besorgen müssen, was die Schildbürger ihren eigenen Kindern antaten. Die Flugschriften meldeten immerhin täglich als vollzogen, was nur die teuflischste Phantasie gegen Kinder ausbrüten konnte. Störte Babygreinen die Skatrunde des im Grunde stolzen Vaters, wurde das Baby gegen eine Wand geschleudert. Kinder in verschmutzten Sachen wurden in kochendes Wasser gesetzt, und eine Flugschrift meldete die dreizehnte Mädchen-Entführung und Vergewaltigung: "Gott sei Dank! Melanie (8) geschändet, gequält, - doch laufen gelassen!"

Allein: daß wir bei einer Familie wohnten, die mit ihren Kindern liebevoll umging, schläferte unser Mißtrauen ein, und so nickte ich nur beiläufig, als Blanche mir sagte, daß sie mit Frau Adelheid und den Kleinen an den Badesee der Stadt fahren wollte. Ich war dabei, unsere bisherigen Erkenntnisse in einen Zwischenbericht an Herrn Norbert, Graf von Branntheim, zusammenzufassen, und ich rechnete so mit einem dringend benötigten störungsfreien Tag.

Herr Siegfried verabschiedete sich zur nämlichen Zeit zu seinem verordneten Besuch bei der Reichsanstalt für die Ruhigstellung erwerbsloser Gemeiner und Niederer Adeliger, und ich tauchte die Feder in die Tinte und bemühte mich, die verschnörkelten Buchstaben der Ordenskorrespondenz zu zeichnen. Ich verbrauchte einige Blatt Papier, ehe ich dieser Schrift wieder halbwegs mächtig war, doch ich war auch der Mühe dankbar. Sie würde mich zu Kürze zwingen.

Vorläufiger Zwischenbericht des Don Michael von Wolfenwasser an Seinen Verehrten Bruder im Orden der Ritter vom Heiligen Geiste, Herrn Norbert, Graf von Branntheim!

Verehrter Bruder!

Wiewohl ich seit meiner Ankunft zu Schildau täglich bemüht war, im Alltagsleben, im Gespräch und in Flugschriften Indizes für und wider die nunmehr beendete Existenz eines Drachen zu entdecken, stellt sich mir die Vergangenheit der Stadt immer noch äußerst kontradiktionär dar.

Leicht könnte ich von der dreisten und geldgierigen Lügenhaftigkeit der heute mächtigen Personen, die ihre Leiden unter dem Drachen am heftigsten ausmalen, auf dessen Nicht-Existenz schließen. Nur: gerade sie sind es, die ihre Treue zu unserem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und unserem Herrn Reichskanzler nicht minder oft und bunt im Munde führen. Umgekerht sind jene Leute, die mir eine Vergangenheit ohne Drachen berichten, (und damit im Sinne der ökonomischen Vernunft beichten), nicht selten dem HRR und seinem Herrn Reichskanzler gram. Auch will ich Dir nicht verschwweigen, daß ich mit etlichen Leuten sprach, die mir sagten, damals seien sie so sehr und so wenig von einem Drachen gezwungen und gedrückt worden wie heuer...


Ich, der ich den Einflußreichen noch nie nach Mund oder Sinn geredet und geschrieben hatte, hatte im Ernst vor, um die Vorschrift einer Meinung zu bitten! So sehr bestach das mäßige Gehalt, das uns ein bürgerliches Quartier, warmes Essen und immer genug Wein verbürgte, doch wurde dieses Schlimme durch Schlimmeres verhindert.

Außer Atem und heulend stürzte Frau Adelheid in die Wohnung, ihre heulenden und keuchenden Töchter an den Händen.

"Don Michael", schrie Frau Adelheid. "Lieber Don! Armer Don..."

Obwohl ich dem Fahrer der Mietkutsche das doppelte Honorar und obendrein Schläge versprach, brauchten wir eine gute halbe Stunde bis wir im Vorwort Grauwald anlangten. Also mußte mehr als eine Stunde vergangen sein, seit die Hüter des deutschen Blutes Frau Adelheid und ihre blonden Töchter nach Hause geschickt hatten, um ungestört über Blanche herfallen zu können. Was ich am Ort der Tat vorhatte, wußte ich nicht, aber ich war fest entschlossen, selbst und mit Ingrimm jede feststellbare Spur zu verfolgen. Daß selbst Schildau eine Gendarmerie hatte, fiel mir sowenig ein wie Frau Adelheid.

Als ich am Rand des kleinen Postplatzes aus der Kutsche sprang, lenkte eine nicht sehr große, aber doch beträchtliche Menschenansammlung meine Gedanken in die düsterste Richtung. Ich keilte mich in die Reihen der Neugierigen, drohte einem Widerstrebenden mit dem Hirschfänger und stand endlich der überfallenen Stadt-Postkut- sche gegenüber.

Die Tür des Gefährts war aus den Angeln gerissen, und aus der Öffnung stachen Blanches gespreizte Beine. Aus dem Lauf heraus stieß ich die Faust mit dem Messerknauf in die Nierengegend des Kahlkopfes, der Blanches Mund benutzte. Er taumelte und schlich sofort davon, als er das nun auf ihn gerichtete Messer sah, und nur ein wenig langsamer zog sich der zwischen Blanches Beine stoßende kahle Jüngling ins Innere der Kutsche zurück. Blanche bewegte ihre Knie aufeinander zu, und erst als sie das als erlaubt begriff, versteifte sie den Hals und öffntete sie die Augen.
"Laß gut sein, Michael", warnte mich Blanche vor einer Verfolgung. "Ist ja vorbei..."

Die Zuschauer der letzten Stunde kamen zu demselben Eindruck, und als ich Blanche die Reste ihres Kleides übergezogen hatte, war auf dem ganzen Platz niemand mehr, den wir als Zeugen zur Genarmerie mitnehmen konnten.

"Ich will eine Vergewaltigung anzeigen", sagte ich in der nur drei Straßen weiter untergebrachten Gendarmerie und bückte mich, um einen Stapel Handzettel beiseite zu räumen, damit Blanche sich setzen konnte.

"Doch nicht etwa sie", fragte der Gendarm, zuckte mit den Schultern und kicherte kurz. "Eine Negerin..."

"Wieso? Darf man bei euch Negerinnen vergewaltigen", fragte ich scharf.

"Micha", stöhnte Blanche.

"Natürlich nicht", sagte der Gendarm und kicherte wieder. "Es könnte doch aber sein, daß sie einfach ein bißchen Spaß wollte. Negerinnen sind bekanntlich heißblütig, wissen Sie!"

"Ich weiß", sagte ich. "Ich bin zufällig mit einer verheiratet."

"Na, dann wißt Ihr ja Bescheid!" Der Gendarm zwinkerte mir zu, trat vor Blanche hin und reckte den Bauch, als wolle auch er noch über sie herfallen. "Du bums machen? Auf Straße oder in Haus? Wollen Geld? Bekommen Geld? Lizenz zeigen! Dein Bockschein!" Blanche antwortete nicht. Sie rührte sich nicht einmal, und der Gendarm wandte sich wieder mir zu und zuckte noch einmal die Schultern. "Wer die anrührt, weiß sowieso nie, welche Krätze er sich fängt!"

Trotz allem diktierte ich dem Schreiber des Reviers die Anzeige, und als ich meinen Nierenschlag und das Verschwinden der Zeugen erwähnte, pfiff der Gendarm durch die Zähne.

"Keine Zeugen außer einer schwarzen Möse", zischelte er. "Dann seid froh, guter Don, wenn nicht Ihr angezeigt werdet: tätlicher Angriff, Körperverletzung..."

Als wollten sie das Desinteresse der Schildauer Gendarmerie ausgleichen, vermeldeten alle Flugschriften des nächsten Morgens den Vorfall. "ACHT MÄNNER NAHMEN SIE! UND ACHTZIG SAHEN ZU", war der Artikel des größten Blattes überschrieben, das mit der Unterzeile fragte: "Sind wir wirklich fremdenfeidlich?"

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