15.

Auf die Frage, ob sich Vertreter der verschiedenen unter dem Drachen-Regime legalen Parteien wohl noch aufspüren und vielleicht sogar sprechen ließen, sah mich unser Quartiergeber und Leibwächter, Herr Siegfried, verwundert an. Er suchte, in diesem Ansinnen ein geheimes Bestreben zu entdecken, doch als ich ihm arglos und ehrlich den möglichen Ertrag solcher Begegnungen auseinandergesetzt hatte, lachte er umso herzlicher.

"Die aufzufinden, brauchst du meine Unterstützung nun wirklich nicht", lachte er, und als seine Frau mit neuem Holz für den Herd in die Küche trat, stiftete er mit der Schilderung dieser Episode auch ihr ausgelassene Heiterkeit. "Diese Herren triffst du, wo sie immer saßen, und soviel Aufmerksamkeit wird sie ohne Zweifel sehr gesprächig werden lassen."

"Im Rathaus", fragte ich gleichwohl nach.

"Ja, dachtest du im Arbeitshaus", lachte die Hausfrau, "oder gar im Zuchthaus?"

"Anderenorts ist das nach Revolutionen gar nicht unüblich", sprang mir Blanche bei. "Zumindest vorübergehend... Und das sage ich wahrlich nicht, um etwas besser zu wissen!" Blanche wandte sich mir zu und stach mit der Gabel das in der Luft schwebende Problem an. "Es liegt sogar eine gewisse Rationalität in diesem Verfahren unserer neuenFreunde: der Gefängnis-Etat muß nicht erhöht werden, die Kosten für einen neuerlichen Machtmißbrauch und die Erneuerung des Korruptions-Netzes fallen geringer aus und die breite Masse erhält sich immerhin die Illusion, nach einem ganz neuartigen Umsturz könnten neue Leute auf noch nie gesehene Art Gebrauch von der Macht machen."

So suchten Blanche und ich das Ratshaus zur Zeit der nächsten Beratung auf, und wir lieferten uns ein erbittertes Wortgefecht mit dem Pförtner. Da noch niemand Gebrauch von diesem Recht gemacht hatte, wollte er uns nicht glauben, daß jedermann das Recht habe, einer Besprechung der eigenen Angelegenheiten wenn auch nur stumm beizuwohnen. Als der Lärm der Auseinandersetzung zu groß geworden war, erschien unser treuer Herr Siegfried in der Rathaus-Tür, um uns beizustehen, und sofort wurde der Pförtner nachgiebig. Die beiden Wächter kannten sich von früher, und während sie sich ihrer besseren Zeiten erinnerten, suchten wir uns den Weg zum Sitzungssaal. Auf der Tagesordnung standen wieder einmal Krawalle gegen die Zugereisten, und ich genoß zum zweiten Mal die brillante Argumentation des ersten frei gewählten Bürgermeisters.

"Natürlich mißbilligt die regierende Koalition diese jüngsten Übergriffe als Verstöße gegen das Gewaltmonopol der Stadt", erklärte er mit schneidender Stimme. "Aber wir müssen ebenso feststellen, daß wir ohne die Anwesenheit von in aller Öffentlichkeit urinierenden Ausländern auch keine Probleme mit einer wie auch immer gearteten Ausländerfeindlichkeit hätten. Wenn die Damen und Herren der Opposition also etwas für die Ausländer tun wollten, dann sollten sie schleunigst unseren Gesetzesvorlagen gegen die exzessive Einwanderung dieser Ausländer zustimmen."

Wir erfuhren von der Opposition, die durch frei wählbare Bürgermeister-Anwärter vertreten wurde, daß die Opposition durchaus nicht gegen neue Ausländergesetze sei. Nur lösten diese noch nicht das Hauptproblem Schildaus, daß sich die Stadtregierung zurückzutreten weigere, weshalb zu befürchten sei, daß das öffentliche Urinieren wie das öffentliche Verprügeln der Fremden fortdauern und eskalieren würde. Kaum waren diese Standpunkte vorgetragen, erhoben sich die meisten der Herren Abgeordneten und begaben sich vermutlich zum gemeinschaftlichen abgesonderten Urinieren.

Hinter das Rednerpult traten nun in schneller Folge Herren und Damen, die behaupteten, gleichfalls Opposition zu sein. Sie vertraten reizende Standpunkte wie das Menschenrecht, seinen Wohn- und Pinkelort frei zu wählen, oder jenen, daß vor allem die Übernahme der Toilettenordnung des Heiligen Römischen Reiches durch den Rat die Situation in der Stadt angeheizt habe. Auch erlebten wir noch einen parlamentarischen Auftritt von Frau Hohlfeld. Sie müsse den Rat, der inzwischen allerdings bis auf den amtierenden Versammlungsleiter vor der Abgeordneten-Toilette anstehen mußte, darauf hinweisen, daß ihr Vorredner nachweislich und bereits vor seinem achtzehnten Lebensjahr Gesprächskontakte mit der Inquisition gehabt habe. Wohl sei das nicht unmittelbar mit dem behandelten Thema verbunden, zu dem eine erfreuliche Übereinstimmung aller Demokraten zu konstatieren sei, doch habe die Stadt nun einmal das Anrecht auf solche lückenlose Aufklärung über ihre Vergangenheit. Für die Bewegung Neue Schwatzsucht läge nämlich auf der Hand, daß die Inquisition, die sich ja auch ihres Vorgehens gegen das öffentliche Urinieren rühme, einerseits vom extremistischen Ruf nach einem starken Toilettenwart und andererseits von der Zustimmung zur Ablehnung der Übergriffe auf Ausländer zu profitieren gedenke.

"Immerhin begreife ich jetzt, warum in den Kneipen von einem Scheiß-Parlamentarismus geredet wird", sagte Blanche und erhob sich. "Laß auch uns erledigen, was wir vorhatten!"

Im Sekretariat der Christlichen Deutschen Union wurde uns angesichts Blanches frostig mitgeteilt, daß wir die strikte parlamentarische Absage an die Fremdenfeindlichkeit nicht als Einladung mißverstehen dürften, die Partei stehe für Ausnahmeregelungen bei der Gewährung von Aufenthaltserlaubnissen.

"Das sein furchtbar, dein Land, ja ", erklärte die Sekretärin Blanche, nicht einmal ohne jenes Hohlfeldsche Mitgefühl. "Fremde Stamm reißen Frauen auf, Flüchtlinge machen hammhamm andere Mensch... Aber Boot sein voll, du verstehen? Uns reichen Hammhamm nur für uns, und darum..."

"Wir wollten um ein Gespräch zu einem historischen Thema bitten", sagte Blanche lächelnd, und dieser Überraschungsangriff trieb die Sekretärin sofort an die Klinke des Chefzimmers.

Ich allerdings verdarb uns den Erfolg wieder. "Wir haben ein paar Fragen zum Verhalten Ihrer Union während der Drachen-Herrschaft", gab ich voreilig Auskunft.

"Oh, da müssen Sie sich für einen Termin anmelden", schaltete die Sekretärin blitzschnell um. "Und den bekommen Sie sicher nicht vor der Lösung der leidigen Ausländerfrage..."

Ins Amtszimmer des Oppositionsführers gelangten wir, indem wir unseren Hinauswurf durch die Regierungsfraktion hervorkehrten, doch war der Oppositionsführer ein zugewanderter Hamburger. Er gestand uns freimütig, weder eine Ahnung von der Geschichte der Stadt noch in der Stadt genug Parteimitglieder zu haben, um alle der Opposition zustehenden Ämter zu besetzen.

"Wolfenwasser", überlegte er eine Weile. "Das gehört nicht zu Schildau, liegt doch..."

"Ein Stück westlich", half ich aus.

"Ja, genau!" Der Oppositionsführer stand auf und holte aus dem mit Schnitzwerk verzierten Aktenschrank eine Karaffe mit Rosé-Wein und drei filligrane Gläser. "Ich könnte Sie nicht zufällig überreden, unserer Parteiung beizutreten und hier die Positionen einer Ausländerbeauftragten und unseres Flugschriften-Instrukteurs zu übernehmen?"

Blanche schüttelte entschieden den Kopf.

Seit sie nicht mehr in den Kontakthof ihres Beiruter Bordells gemußt hatte, hatte Blanches Auftritt keine solche Begeisterung mehr ausgelöst wie im Büro der Bewegung Neue Schwatzsucht. Heidi Hohlfelds Mitstreiter planten eben eine Reihe kleiner Versammlungen gegen die Ausländerfeindlichkeit, und sie hätten Blanche gern in den Kneipen der Stadt vorgeführt und das Wort erteilt.

"Ihr Stamm pflegt Ausländer sogar zu verzehren", lehnte nun ich das Angebot ab, von dem sich Blanche geschmeichelt fühlte.

"Dann ist sie doch sicher deshalb hier", frohlockte ein bärtiger Abgeordneter,"also ganz ohne Zweifel ein politischer Flüchtling. Eine politische Flüchtlingin, Verzeihung! Das ist..."

"Ungesalzen und noch halb roh", schmückte ich meine Auslassung weiter, bevor ich auf den Zauberspruch kam. "Und sie hat der Inquisition geholfen, nicht freiwillig zwar, aber..."

"Oh, ja, das kennen wir", sagte der Enthusiast daraufhin frostig. "Dann haben wir tatsächlich nicht miteinander zu reden!"

"Aber wenn sie vielleicht öffentlich bereuen will", machte Frau Hohlfeld ein Kompromißangebot. "Und ich sage 'bereuen', nicht als Tausendste versichern, keinem von uns geschadet zu haben..."

Blanche schniefte böse. "Und hier sind Sie es, die ihre Mitmenschen ungesalzen und halb roh essen..." Sie verließ das Büro türschlagend, und so blieb mir keine Wahl, als meine Fragen an die Aktivisten der Bewegung zu unterdrücken und Blanche schnell zu folgen.

Daß uns die Gespräche des Tages dem Drachen nicht näher gebracht hätten, mußten wir am Abend dennoch nicht feststellen. Vom Fenster unseres Zimmers aus sahen wir zu, wie ein Kommando junger Leute Steine in die Fenster eines griechischen Restaurants warf und in die Blumenkübel seiner Terrasse pißte.

"Wenn es nicht wie eine Entschuldigung klänge und ich nicht so verdammt ausländisch aussehen würde", stöhnte Blanche, "dann würde ich sagen, daß ich die Jungs ein bißchen verstehe. Warum sollen wieder nur irgendwelche Ratsherren mit uns spielen dürfen, nicht?"

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