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22.
Eine Flasche Branntwein würde genügen, vermutete
Herrn Siegfrieds Mutter, um nicht nur das Herz, sondern
auch die geheimsten Hirnkammern des Mannes zu öffnen,
der unter dem Statthalter des Drachens alle
Gewerbe-Arbeit Schildaus regiert hatte. Nach seinem
Sturz und einer kurzen Haft sei der einstige große Mann
ihr Nachbar geworden, und da sie ihn nach den Geboten
der einfachsten Höflichkeit weiter grüßte, könne sie mir
jederzeit eine Einladung verschaffen.
Es
widerstrebte mir durchaus, Blanche nach ihren Studien
zur Fremdenfeindlichkeit Schildaus allein zu lassen,
aber sie mochte den Weg in die Vorstadt weder in einer
Postkutsche noch im erzwungenen breitbeinigen Gang
machen. Lieber wolle sie aus den Flugschriften der
Wendezeit alle Reden Heidi Hohlfelds ausschneiden, sagte
Blanche.
Ich hatte dem einstmals mächtigen
Ratsherrn Herbert Stuhler sogar noch eine zweite Flasche
Branntwein verehrt, und dieser Zugabe wegen sah und
redete er mich nicht nur als interessierten Fremden,
sondern als einen unbelehrten Parteigänger seines
Drachen an.
"Du siehst, teurer Freund, einen
wahrhaft geläuterten Mann vor dir", sagte Herr Stuhler.
Seine Hände hielten einander fest und seine Lippen
bewegten sich wie die Wellen- ränder eines tiefen
Tümpels, aber er unterdrückte seinen Durst, bis ich
einladend mein Glas hob. (Allerdings hatte ich auch
keinen Grund, ihn über die nötige Anstandsfrist hinaus
zu quälen.) "Sehr gut weiß ich heute, daß wir zu
schwache Vertreter unserer Sache und des Herrn Drachen
waren", flüsterte Herr Stuhler, "und ich bereue das!
Wahrlich! Wir hätten unsere Sekretärinnen nicht
bespringen und unsere Besprungenen nicht zu
Stadtsekretärinnen befördern dürfen! Da wird von den
neuen Flugschriften viel übertrieben, wie du mir in
Ansehng meines Alters zugestehen wirst, aber daß jeder
einzelne Fall ein Sündenfall zuviel ist, ist unstrittig.
Auch hätten wir unsere schleimige Brut nicht über die
arbeitende Jugend der Stadt erheben dürfen, und wir
hätten uns insbesondere in punkto Gurken-Genuß dieselbe
Zurückerhaltung auferlegen müssen, zu der die
wirtschaftliche Lage unser liebes Stadtvolk zwang. Daß
wir uns dicke Gehälter zahlten, ist hingegen schlicht
unwahr, und auch unsere Gästehäuser in den schönsten
Winkeln der Stadt standen immer jedem Menschen offen,
der bestimmte Bedingungen erfüllte."
Herr Stuhler
schenkte uns immer nur kleine Portionen Branntwein ein,
doch auf eins von meinen Gläsern leerte er drei. Gegen
Ende seiner Reuerede zitterten seine Hände nicht mehr.
Die Winkel des Froschmundes verzogen sich ironisch nach
oben und sein rechtes rundes Auge schielte wieder
streitlustig.
"Jeder Besitzer eines Blumentopfes
sichert heutzutage diesen Grundbesitz juristisch
gnadenloser, als wir zu unserer Zeit mit den besten
Flächen der Stadt verfuhren! Trotzdem bereue ich
alles..."
Frau Stuhler, eine zierliche Greisin,
brachte uns süßes Gebäck, und außer den guten Tellern
aus chinesischem Porzellan holte sie aus dem
geschnitzten Buffet zwei dicke ledergebundene Bücher.
"Denkt nur", wandte sich Frau Stuhler an mich,
"diese Teller sind ein Geschenk des chinesischen
Amtsbruders von Herbi... Und seht nur, zu welchen Ehren
zu unserer Zeit ein einfacher Schlosser wie Herbi kommen
konnte!"
Mit zitternden Fingern öffnete sie den
ersten Buchdeckel und blätterte sie die mit Seidenpapier
bedeckten Bildseiten um.
Die ersten Stiche waren
grob und hatten dem Vergilben des Papiers nur deshalb
widerstehen können, und durch ihre ungelenken
Unterschriften vermochte ich, sie zu verstehen. Herbert
Stuhler hatte trotz seiner aus Uniformteilen
zusammengesetzten Kleidung von den siegreichen
russischen Generalen den Auftrag erhalten, eroberte
Taschen- und Tischuhren zu reparieren, und bei dieser
Arbeit hatte er sich mit den Feinden seines Vortages
versöhnt und verbrüdert. Auf einem späteren Bild trank
Herbert Stuhler bereits mit seinen Auftraggebern "auf
unser verehrtes Reptil, den Vorgänger aller aufrecht
gehenden Menschen, den Generalissimus Dino Saurus", und
noch später hatte er sich beim Studium der recht dünnen
Bücher des Generalissimus zeichnen lassen.
"Tatsächlich war ich es, die die Uhren der Freunde
wieder ingang setzte", seufzte Frau Stuhler. "Und auch
seine Belegarbeiten mußte immer ich schreiben... War ich
doch die Tochter des besten Uhrmachers der Stadt und
Herbi nur Gehilfe beim Grobschmied gewesen... Aber zu
dieser Zeit war ich halt mit Felix gesegnet!"
"Mit dieser verdammten Schlange, ja", polterte Herbert
Stuhler. "Die Reptilien mögen mir verzeihen, aber es
gibt für ihn kein Bild außer diesem: eine Schlange, die
wir an Lottis Busen genährt haben!"
"Überall war
Felix der Liebling unserer Freunde", widersprach Frau
Huber leise und mit dem Öffnen des zweiten Albums.
"Felix mit Nikofor Saurusli, als Herbi in Moskau
Arbeitsverwaltung studierte... Felix auf den Knien
unseres verehrten Freundes Tao Saulus Jang, dessen
Erfahrungen im Straßenbau wir vor Ort studieren
durften... Und immer wollte er einmal wie Ramon Sauro
Ruz werden, auf dessen glücklicher Insel wir häufig
unsere Urlaube verbrachten... Aber leider wuchs ihm nie
ein Bart!"
"Nach innen wuchs ihm der Bart und hat
sein ganzes Hirn verfilzt", schimpfte Herbert Stuhler
und setzte die noch halbvolle Branntwein-Flasche an den
Mund. "Nur noch halbe Sätze brachte er heraus, und die
haben sie ihm zu Bonn und Mainz als Gedichte gefeiert,
bis er von einer Preisverleihung nicht mehr
zurückkehrte! Nicht einmal mehr geschrieben hat er uns
danach noch!" Herbert Stuhler warf die geleerte Flasche
nach dem Papierkorb.
"Selbst hast du seine Briefe
und ungeöffnet der Inquisition gebracht", widersprach
Lotti Stuhler und faßt nach meiner Hand. "Denkt nur!"
"Sonst wäre ja ich zur Inquisition gekommen! Ganz
genau weißt du doch, daß von dieser Art Briefen nur jene
ankamen, die ankommen und den Empfänger umbringen
sollten!" Herbert Stuhlers Blick suchte nach der
fortgeworfenen Flasche und wurde traurig, und der ganze
Greis schrumpfte wie ein austrocknender Schwamm. "Jaja,
so war es, lieber, teurer Freund! Unsere Brut hegten wir
mit Liebe, unser Volk mit Gewissenhaftigkeit, doch hat
uns jene ins Glas gekackt und hat uns dieses zum Dank in
den Arsch getreten! Und die Inquisition, der wir sogar
die Briefe unserer Kinder opferten, hat uns am Ende
nicht nur nicht geschützt, sondern sogar zum Gaudi des
Pöbels in die für ganz andere Leute unterhaltenen Kerker
abgeführt! Aber..."
Plötzlich stemmte sích
Herbert Stuhler an der Tischkante, mit der rechten Hand
auf dem chinesischenPorzellanteller, hoch und sein Kopf
drehte sich zwischen den Wänden der kleinen, durch
Samtgardinen wohnlichen Kammer hin und her, in der
Erwartung von Beifall.
"Aber all das spricht
nicht gegen die Idee des Drachentums, nach der alle
Menschen Abkömmlinge eines aufrecht gehenden Drachens
sind und wir mithin sehr bald im Reich der Gleichheit
ankommen können", kollerte Herbert Stuhler. "Wir Ersten
waren zu schwach und nicht nur mit uns zu nachsichtig,
doch schon..."
"Schnell, lieber Freund",
flüsterte Lotti Stuhler. "Solange er spricht, ist er wie
taub und blind. Dann aber wird er verlangen, daß du
seine Rede auswendig lernst, mit früheren vergleichst
und eine schriftliche Erklärung gegen das Heilige
Römische Reich abgibst..." Sie zog mich zur Zimmertür
hinaus, ließ mich im Korridor warten und gab mir eine
Tüte mit ihren selbst gebackenen Plätzchen mit. "Auch
den russischen Schnaps hätte ich für ihn trinken
müssen", seufzte sie. "Das hat ihn kaputt gemacht, diese
reine Drachenmilch... Und vielleicht beschreibt Ihr ihn
um meinetwillen mit Nachsicht..."
"Es leben die
Schildauer Eingetragene Dinofreunde", schrie Herbert
Stuhler bereits die Schlußformeln seiner Rede. "Hoch
lebe unser Verehrtes Reptil, der Vorgänger aller
aufrecht gehenden Schildauer, unser Herr Drache!
Vorwärts immer, rückwärts nimmer!"
Von unten und
von nebenan klang das Besenstiel-Klopfen der aus dem
Schlaf geschreckten Nachbarn, und als ich auf die
nachtdunkle und kalte Straße trat, mußte ich erste
einmal kräftig den Kopf schütteln. Wenn es auch keine
Logik war, so gab es doch einen festen Zusammenhang
zwischen allen Erinnerungen, Beschwörungen und
Spitzendeckchen, und das Geschenk des Gebäcks hatte mich
eigenartig gerührt. Nirgends sonst in Schildau hatten
Blanche und ich etwas erhalten, ohne dafür bezahlen zu
müssen...
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