16.

Wolfenwasser liegt, wie eben beiläufig erwähnt, westwärts von Schildau, ohne daß es darum im in der untergehenden Sonne glänzenden Westen Germaniens zu orten wäre. Vielmehr war es unseren Ahnen gelungen, die Ansiedelung aus der sich zerreißenden Welt zu halten, und uns Eingeborene in der Philosophie des Ortes heimisch sein zu lassen.

Entgegen der landläufigen Meinung gibt es wenige Tiere, deren Umgänglichkeit und Zusammenhalt so entwickelt sind, wie dies den Wölfen nachzurühmen ist. Wohl fressen sie alles zwischen Maus und Schaf und schlingen nach der Stellung in Kraft und Geschick, doch ist der Zugang eines jeden zum Fraß weder Gnade noch Trägheit der Satten. Es ist das Erfolgsrezept für die nächsten Jagden, die in der Hauptsache auch nur das Kranke oder Schwache aus Wäldern und Gehegen reißen. Vom Wasser aber geht ein weit bekannter Spruch, daß es als weichester der Stoffe alle Härteren besiege, und diesem Spruch fügten unsere Ahnen an: wie nur noch die Luft sei das Wasser überall und könne nirgends anhalten, und in ihm reiste selbst Fels vom Gebirge ins Flachland, Ost nach West und Süd nach Nord und umgekehrt.

Mehr in den Studien- als in Grundbüchern eingetragen und nur selten auf den Wanderkarten der Handwerksgesellen vermerkt, blieb Wolfenwasser ein Ort mit heftig schwankender Bevölkerungszahl. Es schien der Kriege zu bedurfen, um es im Gegensatz zu aller Welt zu füllen, und während jenes letzten langen Friedens für Europa entnahm ich Briefen und sah ich schließlich mit an, wie es leerlief und ausstarb.

In Schildau jedoch einen Landsmann zu treffen, hatte ich sowenig vermutet wie dort auf einen leibhaftigen Drachen zu stoßen, und das Wunder vollendete sich, weil dieser Landsmann mich gleichfalls erkennen wollte. Bernhard, der Köhler von Wolfenwasser, überquerte die Gasse und stellte sich in unseren Weg, obwohl der Götter einer heftig sauer auf die verhurte Stadt schiffte.

"Von uns beiden bin nicht ich der Verräter", grüßte Bernhard.

"Und daß er es nicht ist", sagte Blanche, "bin ich wohl Beweis genug."

"Dann ist noch Hoffnung für die Stadt und die Welt", scherzte der Freund. "Tja, so bescheiden bin ich. Und gut schriftgelehrt, inzwischen. Es hat uns etwas zu bedeuten, daß Evas Sünde nicht im Kahlfraß einer Plantage versinnbildlicht wurde, sondern mit ihrem flüchtigen Biß in eine Frucht eines einzigen Baumes."

"Noch von der trübesten Funzel könnten wir lernen", ließ sich Blanche auf den Austausch von Gleichnissen ein. "Je dunkler die Nacht, umso unentbehrlicher, greller und weitreichender wird sie. Und so ist, gerade wenn die Fröste am ausdauerndsten und bittersten sind, die Sonne schon wieder dabei, steilere Bahnen zu ziehen. Es stünde den Krämern an, da sie volle Geldkasten in ihre Zählstube tragen, das nahe Ende der fetten Jahre zubeklagen, wie uns der Selbsttrost der Niedergeschlagenen ansteht: endlich können wir nicht tiefer sinken."

"Allerdings könnten wir zu unserer Niederlage einen Schnupfen dazu bekommen", warnte ich die beiden, jedweder Übertreibung abgeneigt.

Das Haus, in das uns Bernhard führte, machte seine verschämte Erinnerung an Wolfenwasser begreiflich. Dort waren uns die vier gerissenen Wände unter undichten Dächern wenigstens nicht teuer gekommen, und das einzige Privileg der Obdach-Zuteiler war gewesen, daß sie ein Jährchen früher als ihresgleichen in gleiche Behausungen eingezogen waren. In Schildau aber fuhren diese Leute mit teuren Kutschen an ihre kostbaren Arbeitsplätze, und obwohl sie mittels neuer Formulare nicht einen Dachziegel ersetzt und nicht ein mustergültiges Haus errichtet hatten, forderten sie zum Ausgleich erhöhter Aufwendungen ständig höheren Mietzins.

"Man glaubt als einfacher Bürger gar nicht, was ein Bürokrat frißt und wo der Papierpreis inzwischen klettert", höhnte Bernhard bitter. "Aber die einfachen Bürger hoffen, daß nach der Verzehnfachung ihres Tributs nun wenigstens genug übrig bleibt, um ihnen Auffangschüsseln für das Regenwasser zu stellen."

"Und natürlich irren sich die einfachen Bürger schon wieder", sagte Bernhards Frau, mit dem Schaukeln des dritten Kindes beschäftigt.

"Deshalb hieß im alten Griechenland der einfache Bürger auch einfach 'Idiot", stimmte ich zu.

"Und so rede ich wie die Krümelpicker des Drachen daher", beklagte sich Bernhard, "daß wir außerhalb des Heiligen Römischen Reiches so schlecht nicht lebten. Dabei weiß ich noch genau, Michael, daß wir redeten, um nicht zu stöhnen. Wir haben für verzichtbar erklärt, was unerreichbar war, und wir lebten in Wolfenwasser nicht auf geistigem Grund, sondern wie ein zwischen Kanzlern und Drachen hinundher gestoßener Ball mit einem dicken ledernen Fell."

"Und wie sie es neulich in Ulm erlebten undvom Bischof erklärt bekamen", ergänzte Bernhards Frau: "Es wird nie ein Mensch fliegen! Dafür ist er nicht geschaffen. Oder geboren, jaja..."

"Ich glaube, daß wir geboren wurden, um es trotzdem zu versuchen", widersprach Blanche und streckte die Arme nach Bernhards drittem Kind aus, eben darin gefühlig. "Kein Mensch ist geboren, wie eine Hyäne oder Natter über andere herzufallen: er sähe sonst aus wie sie. Nicht einmal der Papst kam ohne Büchsenöffner auf die Welt, und der Kanzler sogar: er mag mit seiner Promotion ein dünnes Brett gebohrt oder sie aus zwölf anderen zusammengeschrieben haben, aber sie beweist gleichwohl, daß er nicht von vornherein zu gedankenloser Geschäftigkeit verurteilt war! Nein, ich frage dich, Mädchen: zehn Finger haben selbst die Fugger, die damit für zehn Millionen raffen können, oder? Und sechzehn Millionen Menschen haben sechzehn Millionen Köpfe und Stimmen, mit denen sie nichts als ein einiges Schafsblöken hervorbringen, oder? Und geht nicht das am harmlosesten gezahnte und gekrallte, das am wenigsten gepanzerte Tier, geht nicht der Mensch, allerorten um wie eine Kreuzung aus Kobra, Tiger und Elefant? Da nun aber der Mensch trotz seiner Geburt Aasfresser, Giftspritze, Herdentier und sogar Papst oder Kanzler werden kann, sollte er gerade das eine nicht vermögen, - sollte er nie fliegen können?" Durch das Lendentuch des kleinen Kindes sickerte es braun auf Blanches dunkele Hand, und wir belachten diese niedere Beendigung ihrer hochschwingenden Rede. Wir belachten Bernhards Zustimmung, er habe an fliegende Schneider bisher nur geglaubt, weil sie jenen Bischof verstimmt und widerlegt hätten, und dieses Lachen gab uns das alte Gefühl von Wolfenwasser zurück, mit feinen stählernen Kanten auf alle Mächtigen der Welt zu zu jagen.

Und als wir spät nach Hause gingen, durch das abblätternde und triefende Schildau, das wimmerte und uns stank, ging Blanche ohne Not unter meinem Arm, den Kopf unbequem vor meiner Brust.

"Das war ein Tag, an dessen Abend ich die armen Schweine echt verfluche, die mir das Nötigste zerstoßen, den Schoß voll Hornhaut gerieben oder mich zum Sumpf überschwemmt haben, in dem kein Kind gedeiht", sagte Blanche. "Und ich weiß mit aller Vernunft, wie die Chancen eines kleinen Scheißerleins stehen, noch zum Herkules im Augias-Stall aufzuwachsen, aber das ist eben auch kein unvernünftiger, ist eben ein hoch philosophischer Gedanke: daß eines Mädchens Mäusezähne, an der richtigen Stelle angesetzt, eine göttlich perfekte Welt platzen lassen. Und Kinder sind eigentlich niemals mutlos, und wenn sie doch einmal Angst haben, dann wachsen sie im Unterschied zu uns trotzdem."

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