9.

Welchen Umständen wir unsere Stadtführung und unsere schnell gefundene Gast-Wohnung verdankten, entschlüsselte sich Blanche und mir erst allmählich. Daß es außerordentliche Umstände gewesen waren, begriff ich jedoch schon am ersten Morgen unseres Aufenthalts.

Eine halbe Stunde vor meinem Termin mit Herrn Norbert, Graf von Branntheim, stand ich vor der verrammelten Tür des Rathauses, und fast ebenso lange konnte ich keinen der Vorübergehenden um eine Erklärung bitten. Mir schien geradezu eine Schildauer Sitte, jede Person, die irgendeiner Hilfe bedurfte, in weitem Bogen zu umgehen. Selbst ältere Leute scheuten weder den Umweg auf die gegenüberliegende Straßenseite noch die Gefahr, auf diesem Umweg von den nie abbremsenden Pferdewagen überrollt zu werden.

Schließlich nahm ich in einer List Zuflucht. Ich zog mich einige Schritte zurück und schlenderte dann am Portal des Rathauses vorbei, bis ich einem beleibten älteren Herrn begegnete.

"Bitte", begann ich erst dann, und Gott, den es nicht gibt, erhörte meinen Satz als ein Gebet. Einige klappernde Kutschen verwehrten meinem Opfer die Ausflucht, und hastig brachte ich meine Frage und mein Begehr an.

"Das Rathaus wird abgerissen", erklärte der beleibte Spaziergänger und blies sich zu noch größerer Körperfülle auf. "Ja, sieht es denn nicht scheußlich aus?" Es war mein Schulterzucken, denn noch in jeder Stadt hatte ich ähnliche Bauten gesehen, was den Mann nunmehr bei mir verweilen ließ. "Dieses gläserne Abbild der Drachenhöhle verärgert aber die Abgesandten des Reiches! Und bedenkt nur, wieviele Bratwurst-Stände, Schreib- und Reisebüros auf der mißbrauchten Filet-Fläche unseres Stadtzentrums errichtet werden könnten! Auch würde der Abriß dieses Schandbaus hunderte Arbeitsplätze schaffen un somit deutlich den Beginn der schon lange fälligen fetten Jahre unserer Stadt signalisieren."

"Der Abriß würde auch einiges Geld kosten", verteidigte ich meine arglos ausgegebene Unterschrift.

"Wieso", staunte der Mann. "Die damit befaßten Baubetriebe und jeder ihrer Angestellten würde doch daran verdienen! Ihr seid offenbar nicht von hier, stimmt's?"

"Selbst nicht von hier", riefen drei schwarz gekleidete Jungen, die sich uns während des kurzen Gesprächs genähert hatten. Sie drängten sich so um uns, daß sie den beleibten Mann mit den Ellenbogen in den Bauch stießen, und sie waren sichtlich enttäuscht, daß er sich zu keiner Abwehrbewegung verleiten ließ. "Friede den Hütten und dem Rathaus", riefen sie dazu. "Reich, uns reicht's!" "Abriß-Gewinnler!"

"Drachenbrut", schimpfte der dicke Mann zurück und hakte mich unter, um zu zeigen, daß er gegen die Drei nicht allein war. "Erlaubt, daß ich Euch den neuen Sitz des Rates weise: im alten Rathaus, welches von der Firma meines Schwagers in erstaunlich kurzer Zeit den Bedürfnissen des erstaunlich großzügigen Rates angepaßt wurde."

"Erlaubt", rief einer der Jungen. "Wir haben was gegen Pfeffersäcke und Immobilienwölfe, nix gegen Schwule!" Die Drei johlten, während mich der dicke Mann mit immer schnelleren Schritten quer über den Platz und hinter eine Kirche aus roten Ziegeln abführte.

"Das ist übelste Drachenbrut", schimpfte der dicke Mann schnaufend. "Söhne von Inquisitoren... Aus den Kloaken des Heiligen Römischen Reiches zugewandert... Was wissen denn die von unseren Leiden unter dem Drachen und der Mühe, die sein Betrieb meinem Schwager verursacht! Sie suchen jeden möglichen Streit mit unsereinem, den ehrlichen Nachtklubbesitzern und den Gästen unseres endlich befreiten Schildau! Und damit seid ihr an Euerm Ziel! Gehabt Euch wohl und Dank für Euern Beistand und das sehr anregende und lehrreiche Gespräch! Oh, wieviel wir zu lernen haben! Oh, wie wenig wir doch von der Welt wußten!"

Ich fand meinen Helfer ein wenig bizarr, da ich kaum zu Wort gekommen war und überdies ein Namensschildchen in der Hand hielt, das in keine Tasche meiner leinernen Jacke passen wollte.

"Erlaubt", sagte ein breitschulteriger Türsteher und nahm mir das Schild ab. "Herr Hartmut Kirchner also, vom Klub Paris: Entkleidungstänze, Deutsche Massage und mehr... Wen wünscht Ihr zu sprechen?"

Die Höflichkeit des Türstehers verwandelte sich in Ehrfurcht, als ich ihm den Namen Herrn Norberts nannte, den Namen aber mit der im Orden üblichen Anrede versah.

"Der Graf Euer Bruder", keuchte der Türsteher. Seine Hand, die er schon zur Wegweisung gehoben hatte, klatschte an den Oberschenkel, und wiewohl der bestallte Knochenbrecher des Rates eilig vor mir herlief, hielt er die ganze Zeit den Oberkörper nach vorn geknickt. "Der Gaf Euer Bruder... Wie konnte ich das wissen, Hochwohlgeboren! Nein, nein! Ich hätte es wissen, ich hätte es auf den ersten Blick erkennen können!"

Ich gelangte in ein Zimmer, in dem sich ein Dutzend Schreiber und Botengänger drängten, doch da ich persönlich geleitet wurde, wagte niemand, mich nach Namen und Absichten zu fragen. Herr Norbert, Graf von Branntheim, unterbrach sein Gespräch über dickleibige und ledergebundene Bücher sofort, als er mic in der lautlos geöffneten Tür gewahrte. Mit einem Kopfnicken schickte Herr Norbert den Türsteher auf seinen Posten zurück, und seinem Gesprächspartner wandte er den Rücken zu.

"Bruder Michael", begrüßte er mich mit nicht einmal falscher Freundlichkeit. "Und ich hätte gegen deine Pünktlichkeit gewettet, angesichts des Zustandes der Straßen. Der Straßen nur zum Beispiel..."

Er nötigte mir ein Gespräch über die Regelung meiner Angelegenheiten in Wolfenwasser, die Beschwernisse einer Reise in der öffentlichen Post und die ganz und gar geistlose Untertänigkeit der Schildbürger auf, bevor er sich in seiner Schimpfrede des dritten Anwesenden besann.

"Ihr Erster Frei Gewählter Bürgermeister", sagte Herr Norbert und neigte den Kopf unwillig in Richtung des Mannes. "Don Michael von Wolfenwasser! Einer der brillantesten und doch unabhängigsten Köpfe des Ordens... Nicht einmal der Unmut der Massen bringt ihn dazu, seine Frau nach Afrika zurückzuschicken oder doch unter Verschluß zu halten. Auch hat er im immer ein wenig aufmüpfigen * * * studiert und seine selbst dort nicht unumstrittene Aufnahme in den Orden der Ritter vom Heiligen Geist erzwungen. Ein mithin zumindest nicht gegen die Stadt voreingenommener Mann also."

"Willkommen", sagte der Bürgermeister und hielt den Kopf ein wenig schräg. "Ich hoffe, Ihr hattet keine Schwierigkeiten wegen Eurer Frau Gemahlin?"

Ich hörte einen Harz von seinem ohne Zweifel arg verfetteten Herz rutschen, als ich stumm verneinte.

"Schildau ist auch immer eine allen Menschen freundliche Stadt gewesen", begann der Bürgermeister nun zu monologisieren. "Aber gewiß kennt Ihr ja unser kleines Problem schon! Unter der Schreckensherrschaft des Drachen gab es hier einfach gar nichts: keine Meinungsfreiheit und nicht einmal Ausländer, und nun müssen unsere Menschen den Umgang mit beidem erst einmal üben. Und Gottlob ist die Meinungsfreiheit ja beständiger als jener Neger, der neulich mit einem Dutzend Jugendlicher zusammengestoßen ist... Denn nur unter der Meinungsfreiheit haben wir auch die Freiheit, zu meinen, daß wir den einen oder anderenFarbigen hier leben lassen sollten. Das macht eine Stadt ja bunter, habe ich nicht Recht?"

Norbert, Graf von Branntheim, grinste während dieser Rede zufrieden, und um den Bürgermeister durch nichts zu unterbrechen, unternahm er es selbst, uns Wein in Zinnbecher zu gießen.

"Ihr dürft also ohne Zögern zu mir kommen, wenn jemand Eurer Frau Gemahlin ein Haar, sozusagen ein Löckchen krümmen will. Ein Scherz, Ihr versteht? Ich war weiland unter dem seli..., unseligen Herrn Drachen gezwungen, meine Brötchen..., Brötchenkrümel, als Hausnarr des Stadt-Inquisitors zu verdienen. Furchtbar, ganz furchtbar..."

Ich nickte besonders mitfühlend, weil ich den Mann sowenig komisch fand, daß ich mutmaßen mußte, der Herr Stadt-Inqui- sitor habe ihn einfach als Hausschwein gehalten oder ihn gar in perverser Lust zu Tode füttern wollen. Jedenfalls sah der Erste Frei Gewählte Bürgermeister von Schildau nicht nur wie ein Mann aus, den ich nie gewählt hätte, sondern auch nicht wie ein vergangenes Leiden.

Das Äußere konnte täuschen, sagte ich mir gleichwohl, und ich hörte mir an, wie er sich die Zukunft der Stadt vorstellte. Er rechnete fest mit den Kisten voller Großer Reichsverdienst-Kreuze am Khaki-Band und den dazu gehörigen Kästen voll materieller Zuwendung, und diese waren so fest verplant wie die Wagenladungen goldener Entwicklungshilfe. Das Gespräch war mithin nützlich, meinen Auftrag zu erhellen, denn ich begann die Unlust des Grafen von Branntheim und Seiner Herrlichkeit und Allmacht zu verstehen, der Stadt zu willfahren. Schildau wollte sich mit Turnierplätzen und Spielstätten für das Kellen-Ballspiel umgeben, war bereits beim Umbau des ehemaligen Inquisitions-Verlieses zu einer Drei-Kreuze-Herberge und baute vor allem auf einen Reichsbeschluß über die Verlegung der Leipziger Messe auf den Schildauer Untermarkt.

"Denn das kann nicht angehen", schloß der Bürgermeister mit der Stimme einer zitternden Trompete, "daß wir den gräßlichen roten Drachen erschlagen haben und hierfür nichts anderes bekommen als ein neues Wappen, zuwenig neues Geld, gute Worte und ein bißchen Freiheit!"

"Auch eure Geldsorgen versteht Don Michael voll und ganz", höhnte Herr Norbert, "und ich kann wohl Seiner Herrlichkeit und Allmacht berichten, daß die Stadt Don Michael bei seiner Prüfung ihrer Ansprüche alle nötige Hilfe zuteil werden läßt?"

"Natürlich", sagte der erste frei gewählte Bürgermeister hastig. "Das sollt Ihr berichten, nach der ausdrücklichen und ausgiebigen Bestellung unserer besten Wünsche und der üblichen innigen Versicherung unserer Hochachtung und Dankbarkeit! Seine Herrlichkeit und Allmacht..."

Ich erfuhr nicht mehr, was der Kanzler der Stadt genehmigt hatte oder von ihr zu gewärtigen hatte, denn in plötzlicher Ungeduld stand Herr Norbert, Graf von Branntheim, auf und winkte mir, ihm in die Gänge des Rathauses zu folgen.

"Du verstehst jetzt wohl, wie nötig deine unvoreingenommene Untersuchung für das Heilige Römische Reich ist", fragte mich Herr Norbert, ohne die Stimme zu senken. "Aber ohne deren Ergebnis vorgreifen zu wollen", mußte ich ihm meine Bejahung verbittern, "scheint mir, daß sie wirklich einen Drachen gehabt haben. Wie sonst willst du mir seine Unterwürfigkeit erklären, die nur noch in seiner Falschheit und Unverschämtheit Vergleich findet?"

"Wir kennen den Menschen an sich noch zuwenig, bester Don... Auch mir ist, und nicht zuletzt, ganz unverständlich, warum Gott außer uns weißen auch gelbe und schwarze Menschen geschaffen hat. Wenn nicht für die Anfertigung gewisser winziger Spielzeuge und die Erledigung aller groberen Arbeiten..."

"Nach einigen Gelehrten, verehrter Herr Norbert, sind gerade wir die auf der Nordwanderung ausgebleichten ersten Menschen..."

Norbert, Graf von Branntheim, blieb stehen, und für einige Augenblicke ließ allein sein heftiges Atmen seine Rüstung klirren. "Keine mir angenehme Theorie", sagte er schließlich und wies mir mit eiserner Hand die Treppe zum »Ratskeller«. "Obwohl sie da unten ja Mordsschwänze und einen Mordsappetit haben sollen, andererseits."

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