19.

Am Freitag darauf erwarben wir das erste Porträt des Mannes, der im Herbst des Umsturzes an die Stelle des Statthalters des behaupteten Drachen getreten war.

Genauer gesagt: wir erhielten das Bild dieses längst vergessenen Mannes als Dreingabe zu unserem frisch geschlachteten und noch am See ausgenommenen Karpfen, - als sein Einwickelpapier. Es verging sogar einige Zeit, in der Blanche die Schuppen des Fisches abrieb und die Kiemenfedern herausriß, bis ich feststellte, daß ich auf dem Tisch zwei Paar Fischaugen vor mir hatte. Das eine Paar stand nahe einem ohnmächtig knorpeligen Maul, das andere glotzte über einem in einer Art Lächeln gefletschten Gebiß. Erst in jenem Moment, in dem Blanche die Ecken der Flugschrift faßte und über den Fischabfällen zu falten begann, begriff ich die Bedeutung unseres Fundes.

Wohl hatte uns niemand abgestritten, daß auch unter der Regierung des Drachen und der Schildauer Eingetragenen Dinofreunde Flugschriften erschienen waren. "Und zwar ganz abscheuliche", hatte man uns dies stets bestätigt, doch schien in ganz Schildau niemand auch nur ein Exemplar dieser Druckerzeugnisse aufbewahrt zu haben. Die Bibiothek des Ortes aber war seit dem Umsturz geschlossen, - zunächst wegen der nötigen Auswechselung der Bestände, später wegen der andauernden Überprüfung und ungüsntigen Beurteilung ihres Personals durch Hochwürden Jockel Auerhahn und schließlich wegen des permanenten Rückgangs ihrer Leser-Zahl und den notwendigen Einsparungen bei den Gehältern von Stadtangestellten. Kurz: eine alte Zeitung, die nach einem alten Spruch uninteressanter als alles sonst sein sollte, hatte in Schildau und zumindest für uns einen ganz unüberschätzbaren Wert.

Dieweil der Karpfen gar zog und allmählich zerkochte, gingen Blanche und ich daran, das sorgsam abgelöste und wieder glattgestrichene Papier zu entziffern, und da das mißlungene Essen dies ohnehin nahelegte, machte sich Blanche noch einmal auf den Weg zu unserem Fischhändler. Als sie zurückkehrte, schwer atmend von ihrer Flucht vor den selbsternannten Schildauer Sitten- und Toiletten-Wächtern, hatte Blanche den zweiten Karpfen verloren. Ihre Bluse war auf dem Rücken eingerissen und ihre Ohren brannten von der Wucht und Vielzahl obszöner Angebote und Ankündigungen, aber sie hatte uns einen großen Flugschriften-Stapel gerettet.

Wie wir es geahnt hatten, roch die letzte große Zeit Schildaus stark nach Fisch. Wir hatten eine durchweichte, schrumpelig getrocknete, zusammengepappte und nur mühsam aufzublätternde und zu entziffernde Zeit vor Augen, auf der altes Blut oder Fäulnis braune Flecken hinterlassen hatte.

Staunend lasen wir, daß die früheren Freunde des Statthalters diesen nicht wirklich entthront hatten. Höchstselbst hatte dieser sie beauflagt, die Stadt Schildau in seinem Geist neue Wege zu führen, und sich diesem Vertauen zu empfehlen, hatte den Verschworenen großen Mut abverlangt. Gerade in ihrer widerspruchslosen Treue, versicherten der pferdezähnige und ein bulldoggengesichtiger Thronfolger, hätten sie sich als die künftigen Hoffnungsträger der Stadt erkannt und könten sich selbiger nunmehr umso überzeugender als solche vorstellen. Auch sie hätten sich in ihrem verblendeten Dienst unablässig gefürchtet, gaben die beiden nur Tage später zu Protokoll, und wir, Blanche und ich, mühten uns redlichuns den Anlaß für die Furcht und das Zaudern der Unerschrockenen vorzustellen. Erst gegen Mitternacht kamen wir darauf, daß es wohl gerade das diffuse Gefühl gewesen sein mußte, nach einem schrägen Blick des verblödenden Statthalters eine vorab gar nicht beschreibliche Strafe erleiden zu müssen, was den alten Herrn durch seine Stiefellecker unangreiflich gemacht hatte.

"Wahrscheinlich unterschätzen wir Ausländer und Bauchmenschen die Qual, die ein solches Leben war", sinnierte Blanche nach unserer Entdeckung. Wir lagen bereits im Bett, doch gedachten wir einzig des Glücksumstandes, ganz zufällig ein offenes Tor in die Geschichte Schildaus gefunden zu haben. "Ich meine: wenn unsere Männer auf Löwenjagd gehen, wissen sie, daß ihnen dabei der Kopf oder das Kernstück ihrer Männlichkeit abgreissen werden kann. Wer an der Selbstlosigkeit der Allein Seligmachenden Kirche zweifeln will, den zwacken die glühenden Zangen der Inquisition schon vor dem ersten Wort, und immer wieder sind die Völker nur gegen ihre oder gegen fremde Fürsten aufgestanden, wenn sie auch als brave Untertanen ausgeraubt, vergewaltigt und zerstückelt wurden. Derlei Tun war, bei aller atemberaubenden Tapferkeit im Einzelfall, im Prinzip nur die Einlösung einer nüchternen Rechnung!"

"Genau", nahm ich ihren Gedanken auf. "Und nun stelle dir einmal die Lage dieser Männer vor! Sie haben ihre Zeugungsfähigkeit über dem Schuhputzer-Dienst am Statthalter des Drachen verloren; nicht nur an der Ehrlichkeit des Papstes hätten sie zweifeln müssen, sondern selbst Ehrlichkeit beweisen! Nicht sie waren ausgeraubt, vergewaltigt oder zerstückelt worden, und so hatten sie gut argwöhnen, gerade die Stiefeltritte ihres kleine, vergreisenden Gottes auf die Finger und Zungen und zwischen die Beine der Stadt hätten sie vor solchem Schicksal bewahrt!"

"Doch, doch", lachte Blanche. "Giordano Bruno hatte auf seinem Scheiterhaufen gut lachen! Wußte er doch die Sonnen zahlloser und glaubte er doch die Vernunft unsterblich! Diese beiden Männer aber wären vielleicht damit bestraft worden, nie wieder einen Stiefel vor die Lippen zu bekommen! Ja, nenne mir unter den Märtyrern, Männern und Frauen, aller Religionen und Länder nur ein Beispiel ähnlicher Kühnheit!"
Ganz routiniert nannte ich Blanche Jesus Christus, den man getrost nennen darf, wenn nach dem Beispiel eines überschwänglichen, ein wenig unpraktischen und extem unvorsichtigen Menschen gefragt wird.

"Aber dem hatte doch seine verklemmte Mutter eingeredet, daß er nur so eine Idee des Herrgotts war", wehrte Blanche ab. "Und außerdem vermute ich, daß Jesus gar nicht mehr weiterleben wollte, nachdem er sich mit seiner Lyrik derart vergriffen hatte: 'Wer aber unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!' Schade um die Kirsche, würde ich sagen. Immerhin war Jesus ja nicht Jockel Auerhahn, der den Leuten ihre Sünden schwarz auf weiß und ordentlich abgeheftet an den Kopf hätte schmeißen können. Da müßtest du schon jemand anderen bemühen! Die Jungfrau von Orleans vielleicht..."

"Die war doch nur Jungfrau, weil sie es im Französischen trieb", giftete nun ich. "Und bei Franz von Assisi weiß auch niemand, ob er in Wirklichkeit nicht nur die Brathähnchen und die Schmorgemüse geliebt hat. Ja, wenn es damals schon Flugschriften gegeben hätte, Flugschriften und so sparsame Fischhändler..."

Wir brachten noch ein, zwei Stunden damit zu, uns die Flugschriften-Instruktionen anderer bedeutender Helden vorzustellen. So ließen wir etwa Alexander von Macedonien seine Politik der Freundschaft und guten Nachbarschaft verkünden, und über Deutschland, wo die Niederlagen seit den Depeschen des Varus 'strategische Frontverkürzungen' hießen, fanden wir schließlich ins Traumreich.

Wir lagen beieinander wie ein weiß polierter und ein schwarz angelaufener Silberlöffel, und bei dem rasch zwischen die Flugschriften geholten späten Frühstück erzählten wir uns unsere Träume und sahen sie endlich gedruckt.

Einige Flugschriften lang war es in Schildau Brauch gewesen, daß die bedeutsamsten Reden von Dichtern gehalten wurden, und den Dichtern folgte Heidi Hohlfelds bekannte Uniformschneiderin. Weder das Stadtoberhaupt noch ein Schreiberling dürfe mehr verdienen als sie, verlangte die Schneiderin unter großem Beifall sogar der Dichter, und die Schildauer Eingetragenen Dinofreunde ernteten für ihr Lob der neu entdekten Vielfalt der Tierwelt Zustimmung. Die Flugschriften vermeldeten, daß sich Inquisition und Opposition, Polizei und Unterwelt auf einen vertrauensvollen und gewaltfreien Umgang aller mit allen geeinigt hätten, und als ihnen statt blutiger Rache eine ordentliche Rente verprochen wurde, übergaben der Pferdegezahnte und der Kampfhundgesichtige die Schlüssel und das Siegel der Stadt an das tapfere Dutzend der Bewegung Neue Schwatzsucht.

Blanche und ich lasen einander vor, als erzählten wir uns unsere größten Träume, und wir vergaßen dabei, daß wir in eben jener Stadt weilten und die in jenem Herbst gepflanzten Obstbäume noch keine Äpfel tragen konnten.

Caput 1
Caput 2
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