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18.
Das Gerücht kam wie einer jener belächelten alten
Männer daher, die noch die Ruinen ihrer Werkstätten
heimsuchen: täglich und pünktlich, ächzend und
schlürfend. Auch Blanche und ich nickten, wenn es die
Gasse heimsuchte, wie wir zum Meß-Läuten nickten, zu den
Essensrufen unserer Wirtsleute und den nächtlichen
Gesängen der Kneipenrückkehrer. Endlich, besagte das
Gerücht, habe der neue russische Zar dem Ansinnen des
Reichskanzlers und der Stadt Schildau nachgegeben und
den in die Mauern Moskaus geflohenen Statthalter von
Schildau der deutschen Gerichtsbarkeit überstellt.
"Dann muß es dort verdammt schlecht stehen", sagte
Herr Siegfried, der nach Jahren der Übung darin noch
immer Mitgefühl mit diesem Volk zu bekunden pflegte.
"Denn wäre ihnen schon die Gastfreundschaft nicht mehr
heilig, so müßten sie doch fürchten, daß sich der alte
Mann vor Gericht auf ihre Kosten zu entlasten versucht.
Dann brauchen sie dringend etwas..."
"Wie ich das
sehe", sagte ich ebenso regelmäßig, "wird der neue Zar
ihn um eine Flasche deutschen Branntwein verkaufen. Ich,
hörte ich, daß einer meiner Freunde zu nennenswerter
Macht gekommen sei, würde mich jedenfalls beeilen, in
die Urwälder Boliviens zu entkommen. Und dabei dächte
ich noch nicht einmal an Rache für Kränkungen, wie sie
bei jeder dauernden Freundschaft vorkommen, sondern nur
an die Unlust des Freundes, einen Kenner seiner
Katerreden, Beichtvater seiner Ejakulationsprobleme und
Mitlacher seiner Witze über die vor ihm Mächtigen
unkontrolliert zu wissen und zu lassen."
"Und
warum wollen ihn die Leute eigentlich zurück",
erkundigte sich Blanche, ein wenig hinterlistig. "Alt
wie er ist, wird er doch nicht mehr besonders schmecken,
und wer bekommt in einer Demokratie eigentlich seine
Hauptfrau?"
"Schmecken? Und wer...?" Herr
Siegried sah Blanche, die er gern umshmeichelte, mit
großen Augen an, als fiele ihm zum ersten Mal auf, daß
sie eine sehr andersfarbige und andersartige Ausländerin
war.
"Aber ja", beharrte Blanche. "In meiner
Heimat gibt es sogar ein besonderes Rezept für gestürzte
Häuptlinge. Und nach dem Essen bespringt der neue
Häuptling vor allen Augen die Witwe seines
Amtsvorgängers. Wenn wir den Typen aber nicht erwischen,
wird auf dem Fest mehr getrunken: um ihn zu vergessen,
nämlich. Dann will sich mein Stamm nicht einen Tag
länger an ihn erinnern."
"Und die Frauen, Kinder,
Neffen und Großnichten seiner Opfer", fragte Frau
Adelheid ungläubig. "Sollten die tatsächlich leer
ausgehen?"
"Die bekommen natürlich die besten
Stücke von ihm: Zunge, Augen und Hoden."
"Aber
die Geschichte muß man doch aufarbeiten", preßte Frau
Adelehied ziwschen ihren auf den Mund gepreßten Fingern
hervor. "Sie wiederholt sich sonst..."
"Wer
aufgegessen ist, kommt nicht wieder", antwortete Blanche
ihr überzeugt. "Und ist ein Häuptling davongekommen,
wird er doch nicht freiwillig zurückkommen und mit einer
Zitrone im Mund in den Erdofen kriechen!"
Nachdem
wir Herrn Siegfried geholfen hatten, das Erbrochene
seiner Ehefrau aufzuwischen, zogen wir uns für diesen
Abend zurück. Dennoch fuhr Blanche fort, über den Umgang
der Deutschen mit ihren endlich beendeten Geschichten zu
spotten.
"Einmal wollte es ja auch mein Stamm mit
der Demokratie versuchen", erinnerte sich Blanche oder
erfand sie mir eben. "Aber da haben sich die
Oppositionsführer schon über ihre Reihenfolge auf der
Witwe zerstritten... Gut, einen besonders fiesen
Häuptling haben sie mal lebendig gebraten und
angeknabbert, das schon. Aber nie würden wir einfachen
Wilden so weit gehen, unseren Heidi Hohlfelds freiwillig
zuzuhören! Und keiner von uns armen Analphabeten würde
ernsthaft verlangen, die Löwenfährten-Leser des alten
Häuptlings durch Leute zu ersetzen, die jahrelang im
Schatten ihrer Ziegen gemeckert haben, nur um nicht mit
auf Großwildjagd genommen zu werden! Und all eure
Philosophen, mein lieber Michael, und dich gar nicht
ausgenommen: sie leben, ihr lebt doch nur von der
Verschleierung der einzigen Ursache für jede Form von
Knechtschaft: der Feigheit, die paar Offiziere,
Politzisten und Spitzel einer schlechten Regierung
hinter die nächststehenden Hütten zu ziehen und
revolutionsreif zu hauen!"
"Also das kann man nun
wirklich", versuchte ich einen Einwand, aber da war
Blanche schon dabei, beidhändig in meiner Hose zu
suchen.
"Dabei haben wir das Wort Aufarbeiten
auch! So sagen wir, wenn wir einen alten Speer flicken
oder unsere Jungs dazu bringen, uns zum zehnten Mal
hintereinander zu ficken!"
An einem
Spätsommerabend aber erschien das Gerücht nicht wie
gewohnt, und statt seiner wehten die wechselnden Winde
die Stimmfetzen von Marktschreiern und Kneipern durch
die Gassen. In den nächsten fünfzig, in den nächsten
dreißig Minuten würde der Statthalter des Drachen wieder
in der Stadt weilen, in ihrem bekanntesten Kerker, wurde
gerufen. Blanche ließ den grünen Faden einer
Taschentuch-Kante unverschlungen, stopfte die Handarbeit
für die nächsten vier Jahre zwischen die Bände unser
Reisebibliothek und trat langsam und gähnend ans
Fenster.
"Die alte Sau ist da", grölte ein
Besoffener durch die Gasse, um gleich darauf, von einem
Pißtopf getroffen, zu jammern: "Schweine, ihr Schweine!"
Weiter geschah nichts. Weder gab sich der Werfer des
Nachtgeschirrs zu erkennen noch hob eine Freudenfeier
an. Nach und nach wurden die fernen Marktschreier
heiser, und nur wenig danach drang aus den umliegenden
Kneipen der übliche Streit um die falsch berechneten
Biere zu uns herauf.
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