7.
Das Rathaus von Schildau ist in Deutschland zu einiger Bekanntheit gekommen, weil es ganz in dem Stil errichtet wurde, den die Stadt auch allgemein pflegte.

Daß eine Fußkrankheit des allbeherrschenden Drachen, zur Zeit seiner Schreckensherrschaft allgemein »Echschen« oder (vor allem von den mittleren Entscheidungsträgern) »unser verehrter Dino« genannt, der Anlaß zur Errichtung eines Rathauses mit Aufzügen und Rollsessel-Rampen gewesen sei, ist wohl eine späte Erfindung. Auch nach den Begriffen menschlich regierter Städte und Staaten waren die Arbeitsbedingungen der gewählten und berufenen Verwalter von Schildau schlicht unzumutbar. An Markt- und Volksfesttagen tauchten vor den Fenstern des alten Kasernen-Speisesaals, in dem die Stadtobrigkeit zu beraten pflegte, grimassierende oder mit Feuer spielende Seiltänzer auf. In die Büroräume des Amtsleiters für Versorgung wehten bei Westwind die Ablüfte und fettigen Düfte eines Bockwurst-Stan- des, in die unter dem Kasernendach gelegenen Amtsräume der Wohnungsverwaltung regnete es wie in eine beliebige ihrer verwalteten Wohnungen, und ganz gegen seinen Willen hörte der Amtsleiter für Innere Ordnung von seinem Schreibtisch aus die Gespräche und anderen Aktivitäten auf der an das Büro grenzenden Herrentoilette.

Kurz: einige sachliche Gründe sprechen für die Annahme, daß die Flugschrift »Neues Schildau« mit ihrem Bericht nur ein wenig übertrieb. Nach diesem Bericht habe "unser verehrtes Reptil und Vorgänger aller aufrecht gehenden Schildauer, der Herr Drache", (und immer hypothetisch angenommen, es habe ihn tatsächlich gegeben!), auf einer Festsitzung aus Anlaß des fünfundzwanzigsten Jahrestages seiner ersten Stadtjungfern-Besteigung erklärt:

"Alle unsere Dächer instandzusetzen, reichen unsere Kräfte und Mittel in der angespannten nationalen und internationalen Wirtschaftslage noch nicht aus. Umso dringender scheint es uns daher geboten, unseren Mitbürgern einen unbezweifelbaren Fortschritt zu präsentieren, - in Gestalt eines Hauses der Ratschlüsse mit dichten Dächern, freundlichen Warteräumen und ausländischen Gästen vorzeigbaren Büros. (Stürmischer und lang anhaltender Beifall. Hochrufe auf unser verehrtes Reptil und den Vorgänger aller aufrecht gehenden Schildauer, unseren Herrn Drachen.)"

So seltsam der Bericht Außenstehenden und den Nachgeborenen anmuten muß, enthielt er doch alles, was der geborene und gelernte Schildauer zu jenem Projekt wissen mußte. Jedermann (und natürlich auch jede Frau) wußte, daß ihm rasch der Aufruf zu einer die ganze Stadt und die angeschlossenen Gemeinden einspannenden Initiative folgen würde. Absehbar war allen, daß der Rathaus-Neubau zu Beginn des IX. Kongresses der Schildauer Eingetragenen Dinofreunde übergeben würde, und daß deshalb jedermann und jeder Frau außerordentliche Anstrengungen abverlangt werden würden. Daum zögerte auch niemand, dem Rat oder dem verehrten Reptil persönlich die Zustimmung zum Beschluß zu bekunden und auf diese Weise Art und Größe der eigenen Mitwirkungs-Möglichkeit festzuschreiben. (Objektiv war also, was sich wie papierne Speichelleckerei und ökonomischer Größenwahn liest, eine Geste der Verweigerung. So jedenfalls erklären sich die Schildauer heute, und wer das entstandene Rathaus besieht, muß vor der Vorstellung schaudern, welche Dimensionen es ohne diese kühne Beschneidung der drachenhochfliegenden Pläne erreicht hätte.)

Da es nun soweit war, der Plan öffentlich und die Zustimmung gewaltig, strichen der Rat (oder eben »Echschen«) alle die für die Erneuerung der Schmiede- und Tuchmacher-Betriebe vorgesehenen harten deutschen Taler und legten das auf wunderbare Weise ersparte Geld in erlesenen Baumaterialien an. Erworben wurden karelischer Gips, österreichischer Kies und französische Farben, aus denen die Schildauer ein vorzügliches Marmor-Imitat herzustellen vermochten. Aus Mähren wurde grünes Glas gekauft, wohingegen das pro Tonne einen Pfennig billigere braune Glas aus Schweden kam, und die Künstler der Stadt erhielten niederländische Ölfarben, um das Rathaus mit rembrandtesken Gemälden ausstatten zu können. (Als später einer der Maler, dessen Frau nach einem Kreuzottern-Biß dahinsiechte, die Eigenart annahm, die Abstammung des Menschen vom Affen zu predigen und jedes ihm erreichbar Kriechtier zu bespeien und zu treten, enthüllte das »Neue Schildau«: "Ungeheuerlicher Vertrauensmißbrauch! Wie das Amt für Innere Ordnung mitteilte, haben Ermittlungen seiner Organe ergeben, daß der mehrfach wegen pornographischer Darstellungen und Tendenzen verwarnte 'Maler' W.M. die ihm für die Ausgestaltung des Hauses der Ratschlüsse zugeteilten hochwertigen Ölfarben für seine von 'Sammlern' hochbezahlten Genrebildchen verwendet hat. Den städtischen Auftrag führte der 'Maler' mit minderwertigem Material aus. Wie die zuständigen Organe weiterhin feststellten, handelte es sich bei diesem Betrug um einen Einzelfall. Die Fälschung wurde inzwischen aus der Galerie des Hauses der Ratschlüsse entfernt; die Malerzunft der Stadt hat inzwischen das Ausschlußverfahren gegen W.M. eröffnet.")

Da solchermaßen die hochwertigsten Materialien zusammengetragen wurden, beschloß die Zunft der Projektanten, ein den ökonomischen Anstrengungen kongeniales Gebäude zu entwerfen. Der nach einem von weit beschickten Wettbewerb ausgewählte Vorschlag des Zunft-Vorsitzen- den und Stellvertretenden Amtsleiters Kultur gab der Stadt Schildau ein Ensemble der erlesensten architektonischen Elemente aller Länder und Zeiten. Weder fehlten die ausladenden Treppen des Zeus-Altares zu Pergamon noch die den Gängen ägyptischer Pyramiden nachempfundenen Verbindungswege zwischen den Sälen und Büros. Im Inneren des Gebäudes blühten böhmische Glasblumen, und Versailler Spiegel würden die Menge der begeisterten Bürger und Ratsherren vervielfachen, - ob sie nun »Echschen« oder den Gesangsdarbietungen in einer gleichsam antiken Arena zujubeln würden. Selbst die Toiletten sollten jedem internationalen Vergleich standhalten, weshalb sie mit Fliesen aus Schildau ausgestattet werden sollten, die gewöhnlich für ein großes Hamburger Handelshaus produziert wurden.

Entgegen den damals eifrigst kolportierten Gerüchten hatte der Projektant keineswegs vergessen, daß ein Gebäude jener Dimension und Bestimmung auch großartiger Fenster bedurfte. Es war einfach so, daß die zum Bau abkommandierte Stadtgarde von Schildau militärisch exakt nach den Anweisungen eines Obristen baute, der keine Bauzeichnungen lesen konnte. So geschah es, daß das Haus der Beschlüsse fast fertig war, als das Fehlen der Fenster bemerkt wurde, und nachdem die entsprechenden Öffnungen im Nachhinein gebrochen waren, mußte der Rat feststellen, daß die geplante und beschaffte Glasmenge nicht für die Verglasung ausreichen würde. (Wer zu jener Zeit durch Schildau ging, konnte es in den Fenstern einiger weniger Privathäuser, Gartenlauben und Toilettenhäuschen grün oder braun blinken sehen.) So disponierte »Echschen« oder der Rat kurzfristig um. Das für die Überdachung der gleichsam antiken Arena zurückgelegte Glas wurde in die von außen auffälligeren Fensterfronten eingesetzt, und das Haus der Ratschlüsse konnte wie geplant einer illustren Öffentlichkeit übergeben werden.

Ruhmessprüche auf das neue Gebäude, das seinerseits die Tatkraft und den gewachsenen Reichtum der Stadt und der Gemeinden von Schildau lobe, waren neben den Ruhmesworten über das "verehrte Reptil und den Vorgänger aller aufrecht gehenden Schildauer" das zweite Drittel aller auf dem IX. Kongreß der Schildauer Eingetragenen Dinofreunde gesprochenen Worte. Die Erwähnung, daß es während der gesamten Tagung eiskalt in die Arena goß, wurde den Tagungsteilnehmern vom Präsidium untersagt, und die während der vier Tage entstandenen Stiche von Rednern und Zuhörern wurden in allen Schildauer Flugschriften kommentiert: "Tränen der Rührung, der Freude und der Erleichterung über die erneute Wahl des verehrten Reptils..."

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