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20.
Daß wir den täglichen Flugschriften nicht zu sehr
trauen sollten, hätte uns Herr Siegfried nicht jedes Mal
wiederholen müssen, wenn er uns den morgendlichen Stapel
ans Bett servierte.
"Wie kann ich glauben, daß
die Schildbürger Tag für Tag nach Werkschluß der
Manufakturen und Ämter zusammenkamen, um für die
Freiheit zu demonstrieren", argwöhnte Blanche und holte
tief Luft. "Nach dem, wie wir sie heute erleben, werden
die Männer an einem Bierstand geklemmt haben, bis ihre
Frauen zu Hause waren, die Hausaufgaben der Kinder
kontrolliert und das Abendbrot auf den Tisch gestellt
hatten!"
Allerdings hielten sich die
Flugschriften mit erstaunlicher Ausdauer dabei auf, die
Zunahme der Zahl der abendlichen Rathaus-Umwanderer zu
vermelden und zu kommentieren. Aus einer kleinen Gruppe
randalierender Jugendlicher wurden Kreise der
Bevölkerung, die der leicht erneuerten regierung
Schildaus ihre Sympathie bekunden wollten, und
schließlich war die Rede von einer gewaltigen Kundgebung
der Bewegung Neue Schwatzsucht.
Wir lassen, wie
ganz Schildau Heidi Hohlfeld begrüßt und ihrer Rede
zugejubelt hatte, eine Stadt aus zugigen Häusern, mit
heimlicher Sympathie für die schlangenfressenden Igel
und und scheußlich naßkalten Herbst- und Wintermonaten
könne sich der Liebe zu den wechselwarmen Reptilien
nicht aufrichtig rühmen. Herr Pfarrer Reinhard Apfelböck
assistierte Frau Hohlfeld, indem er aus der
Schöpfungsgeschichte ableitete, daß die Beziehung
zwischen Mensch und Reptil wohl innig sein, aber die
Beachtung der in einen freien Himmel wachsenden Gemüse
und Obstbäume einschließen müsse. Der neue
bulldoggengesichtige Stellvertretende Statthalter wurde
von den Flugschriften gelobt, er habe sich ohne
Begleitung seiner Trompeter und Leibgendarmen von den
Anhängern der Neuen Schwatzsucht niederbrüllen lassen,
und alle Redner jenes Herbstes sollten dem Prinzip der
Drachenherrschaft und dem brüderlichen Russischen Reich
ihre innigste Liebe und Verbundenheit versichert haben.
Sprachen wir schläfrig über diese Ereignisse, nahmen
wir sie gleichwohl für Tagträume, da sie auf eine
grausame Pointe hinliefen, die die Flugschriften als
einen weiteren großen Sieg der Revolution darstellten:
in der Nacht, bevor sie die Schlüssel und das Siegel der
Stadt an die Abendspaziergänger übergaben, hatten das
Schindmähren- und das Kötergesicht einen letzten
Gebrauch von ihrer Schlüsselgewalt gemacht und die seit
fast dreißig Jahre verrammelten Stadttore aufgesperrt.
So erreichten die beiden, was die Polizei von
Schildau nicht vermocht oder gewagt hatte. Sie fegten
die Plätze und Gassen um das Rathaus von Protestanten,
und als Heidi Hohlfeld am nächsten Morgen wie bereits
gewohnt zur Großen Schwatzfeier gewollt hatte, war sie
von den stadtauswärts strömenden Schildbürgern beiseite
gestoßen und mit unanständigen Worten bedacht worden.
Von jenem 9. November an verzeichneten die an das
Schildauer Weichbild grenzenden Herzogtümer des Heiligen
Römischen Reiches einen staunenswerten wirtschaftlichen
Aufschwung. In ihrem seit Jahrzehnten nie ganz und gar
gestillten Heißhunger auf grüne Gurken zahlten die in
die Freiheit entlassenen Schildbürger nicht nur jeden
schnell überhöhten Preis. Sogar noch grüne Mohrrüben
erwarben und zerschroteten sie mit verzückten
Gesichtern, und unter den Augen des Drachen
tugendverhaftete Männer redeten, (falls solche
Aufforderung überhaupt nötig war), auf ihre
sittenstrengen Gemahlinnen ein, sich den glücklicheren
Nachbarn für einen Nachlaß auf den Preis verrosteter
Kutschen hinzugeben. Die Bordelle der umliegenden
Residenzstädte konnten rasch ihre orientalen Matratzen
gegen rasch lernende weißhäutige Schulmädchen aus
Schildau tauschen, und die Liga der Moslemischen Reiche
protestierte beim Papst und den Monarchen Europas gegen
einen gänzlich unabgesprochenen Kreuzzug, der in
Wirklichkeit nur der Ausbruch der lange zurückgehaltenen
Reiselust der Schildbürger war.
So glücklich
waren die Schildbürger ob ihrer ihnen leicht
zugefallenen Freiheiten und der Segnungen der begüterten
Nachbarschaft, daß sie auch die angekündigte Visite des
überall sonst in Verschiß geratenen Herrn Reichskanzlers
für eine Segnung hielten. Geübt im chorischen
Sprechenund im Ausstoßen von Hochrufen wußten sie den
Herrn reichskanzler mit einem so gewaltigen und
langgezogenen Huuuubeeeerdl! zu begrüßen, daß Seine
Exzellenz großmütig und breitwangig über die plump
vertrauliche Anrede hinwegsah. Huuuubeeeerdl nimm uns an
der Hand / Und führ uns in dein Honigland, blühte die
einst von den Frischen Jungen Kriechtieren geförderte
Volksdichter-Bewegung nun gleich massenhaft: Kommt der
Taler nicht hier rin / Gehen wir ganz schnell zu imm!
Obwohl die Huuuubeeeerdl-Rufe an das Brunftgeheul
betrunkener alter Wolfsrüden erinnerten, regten sie den
Herrn Reichs kanzler zu dem eiligen Versprechen an, die
Schildauer noch vor der nächsten Reichstagswahl ins
Heilige Römische Reich heimzuholen, und tatsächlich ging
die Rechnung Seiner exzellenz auf. In den angrenzenden
Herzogtümern spülten die Wellen der Begeisterung
Huuuubeeeerdls politische Gegner in die akademischen
Lamentierstuben zurück, und auf den nämlichen Wellen
ritt der Herr Reichskanzler zu jenem Wahlsieg, der
seinem umso härterem Sturz vorausging.
Der
wirtschaftliche Aufschwung des Schildauer Umlandes
erwies sich als ebenso kurzer wie hoher Aufsprung, und
in Schildaus engen und holperigen Gassen rammten und
verkeilten sich die für die letzten Ersparnisse und die
Gefälligkeiten der Schildbürgerinnen eingehandelten
Rostkutschen. Etlichen Gefährten brachen auch die
Achsen, und noch ehe die Männer der überall sprießenden
Schlosserein an Ort und Stelle waren, waren die Kutschen
so ausgeweidet wie die auf den weggeworfenen
Gurkenschalen zu Tode stürzenden Pferde. Ihre
Investitionen in den Gurkenanbau ruinierten zuerst die
Schildauer Gärtnereien, so daß die nötigen
Gemüseeinfuhren zuerst die neu gegründeten vegetarischen
Restaurants und hernach auch die mit reichlichen
Beilagen aufwartenden renomierten Gasthäuser in den
Konkurs trieben. So wiederum verlor die Schildauer
Brauerei ihre Großkunden, und da die Schildbürger daheim
längst aus Bayern herangekarrtes Bier bevorzugten, hatte
auch diese Säule der Schildauer Wirtschaft nicht länger
bestand. Ähnliches war von den meisten traditionellen
Gewerben der Stadt zu vermelden, und die zahlreichen
neuen Gewerbe brachten ihre Begründer eher noch
schneller um die Existenzgrundlagen.
Schildau
begann, nach Wagenschmiere, Gurkenfäulnis und den von
der neuen Ernährung überreichlich ausgetriebenen
Exkrementen zu riechen. Einzig die Hühner-Bau- ern und
jene Händler, sich während Huuuubeeeerdls Triumphreise
mit genug groben Holzschnitten des Herrn Reichskanzlers
eingedeckt hatten, profitierten weiter. Die Schildbürger
erwarben die Porträts, um sich daran im Werfen von Eiern
zu üben...
Dagegen wurden den Schildbürgern von ihren
Nachbarn wenig schmeichelhafte Bezeichnungen beigegeben.
Sie hießen den Erstbesitzern und allen folgenden
Vorbesitzern ihrer Kutschen "Rostklopfer",
"Gurkenfresser" oder schlicht "Schild-" bzw.
"Filzläuse": zu dumm zum Gurkenschälen, zu faul zum
Neukutschen-Erwerb und obendrein übelriechend. In den
Flugschriften tauchten zum ersten Mal Vermutungen über
einen bevorstehenden deutsch-deutschen Krieg auf, und da
sie die großzügig abgeschnittenen Gurkenschalen und die
verrostetsten ihrer Kutschen mit den Offizieren der auf
den Abtransport wartenden russischen Stadtwachen
getauscht hätten, hieß es, sollte die Zurüstung der
Schildauer zumindest nicht unterlegen sein.
In
jenem kritischen Moment jedoch entdeckten der Herr
Reichskanzler, seine Opposition und die weitaus meisten
Flugschriften am Horizont Schildaus die ersten Horden
dunkelhäutiger Fremder. Diesen war der Vorname der Herrn
Reichskanzlers gänzlich unbekannt, und ihre einzigen auf
dem Beutezug mitgeführten deutsche Worte waren "Tor weg!
Du reinlassen!"
Aus einem mir und Blanche nicht
ganz einsichtigen Grund glaubten die Schildbürger schon
wieder die Sprüche ihrer neuen Herrschaft, diese Fremden
würden ihnen die Gurken und die Kutschen wegnehmen, und
nachdem ein betrunkener Zigeuner einen Schildauer
Stadtrat für eine echte deutsche Eiche gehalten hatte,
machte in Deutschland das Gerücht die Runde, Ausländer
pißten aber auch überall hin. Auch wurde ein Holzschnitt
veröffentlicht, der den Stadtrat beim gemütlichen Bier
nebst Entrichtung des deutschen Willkommensgrußes
zeigte, und tatsächlcih war der bekannte Urin-Fleck
deutlich und dunkel eingezeichnet.
Der
Gerechtigkeit halber muß vermerkt werden, daß der Fleck
die Ausgehhose des Schildbürgers an einer sehr
verfänglichen Stelle verunzierte und Schildau nach einer
gründlichen Analyse im Großen und Ganzen zu der Ansicht
gelangte, die deutsche Eiche habe dies ohne Zutun eines
Zigeuners vollbracht. Der Genauigkeit wegen muß
allerdings auch angemerkt werden, daß die Deutschen bis
dahin bereits Sieger über drei Neger, drei Türkinnen und
zwei mutmaßliche Juden waren.
Ungefähr zu jener
Zeit hatte uns der Auftrag des Herrn Norbert, Graf von
Branntheim, nach Schildau geführt, und es schauderte uns
doch, als Herr Siegfried uns beim Durchsehen der
Flugschriften aufstörte und zu neuen Kartoffeln mit
frischer Blutwurst einlud.
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