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17.
Außer dem Ratskeller gab es in Schildau eine zweite
Gaststätte, deren Essen als Fremden servierbar galt, und
unser Herr Siegfried war durch die unglücklichen
Fügungen seiner Vergangenheit mit deren Wirtsleuten
bekannt: wenn es den Helfershelfern des noch immer nicht
erwiesenen Drachen gelüstete, sich unter ihr Volk zu
begeben, wurde nämlich eben jene Gaststätte ausgesucht.
Dann fiel es Herrn Siegfried und seinen Kollegen zu, für
eine Woche neben den Weinfässern zu kampieren und tags
ohne Aufsehen die Ratten zu bekämpfen, in den Fässern
nach Sprengsätze zu fischen und jedes Faß auf Gift zu
verkosten. Nach genau festgelegten Plänen wurden die
Eßestecke der Gaststätte gegen solche mit abgerundeten
und obendrein beim Stoß biegsamen Klingen und Zinken
ersetzt. Stumme Schatten begleiteten die Wirtsleute bei
ihren Einkäufen, während andere Mannen die Stadt
durchstreiften und die Einladungen zu der spontanen
Begegnung zwischen den Bürgern und dem Rat zustellten.
"Nun war es aber durchaus nicht so", erzählte mir
Herr Siegfried bereitwillig, "daß diese Einladungen an
jeden loyalen Bürger ausgegeben werden durften. Nein,
zuweilen bestellte der Rat auch die widerspenstigen
Rauf- und Trunkenbolde unter den Schauspielern der
Stadt, Lauf- und Turnbolde oder einfach verdorbene, aber
schöne Frauen zum Zusammensein."
Herr Siegfried
schilderte mit leicht verständlichem Ärger, wie er und
seine Kollegen angewiesen wurden, im Parterre
zurückzubleiben, während sich die alten Männer mit
knusperigen Mädchen auf Zimmer im ersten Stock begaben.
Bemüht, in den Winkeln des Gasthauses unsichtbar zu
sein, sahen die Vorbereiter der Gelage zu, wie nach dem
Nicken des Vorkosters die Spanferkel, Schinken- und
Zungengalerien und alle die exotischen Früchte
dahinschmolzen, deren Namen die großen wie die kleinen
Schildbürger mit derselben Ehrfurcht aussprachen wie die
ihrer Ratsherren.
"Und auch das sprach unsereinem
schon lange vor der plötzlichen Tapferkeit der Hohlfeld
und der lange verborgenen Weisheit des Volkes gegen die
angeblich gerrechte und gottgewollte Einrichtung unseres
geliebten Schildau", sinnierte Herr Siegfried und bot
uns seine Fürsprache bei den Wirtsleuten und dem
Türsteher an. "Alles unsere Leute", sagte er mit auch
gegen seine Frau gedämpfter Stimme.
"Wir haben
unsere Pässe", wollte ich ablehnen.
"Aber eben
auch unsere Finanz-Probleme", nahm Blanche das Angebot
an. (Sicher färbe sich Herr Siegfried die Vergangenheit
mit kräftigem Rosa ein, erklärte sie mir später, aber
gerade deshalb glaube sie ihm jedes Wort über die
gegenwärtige Verfassung der Städtischen Inquisition.)
"Wenn wir also den Eintritt sparen könnten..."
Durch solche, zumindest nicht in unserem Geld
aufwiegbare, Fürsprache waren wir gelegentlich Gäste im
"Imperator", dem Klub der wenigen Reichen der Stadt und
ihrer von Westen zugewanderten Lehrmeister.
Allerdings war das Wirtshaus noch immer eine Welt
entfernt davon, für die Aufnahme eines Imperators oder
eines minderen Fürsten gerüstet zu sein, dessen
Ansprüche die eines biederen Schildauer Rats-Alten
überstiegen. Zwar wurden die Tischdecken häufiger
gewechselt als früher, doch waren die Hausmägde dabei
noch immer ungeschickt und machten von dieser Neuerung
erhebliches Gewese. Auch waren die Tische mit höchst
störenden Blumen-Dschungeln in riesigen und riesig
häßlichen Glaskrügen verstellt, waren zwischen den
Schnörkeln der Speisekarte die Namen der Essen nicht zu
erkennen und war in der Küche offenbar eine Lotterie
oder eine vielköpfige Verschwörung gegen die neue
Ordnung im Anlaufen. Jedenfalls sahen wir regelmäßig
Kompanien handwerklich gewandeter Menschen in Wolken aus
Braten- und Gemüsedämpfen verschwinden, während wir
einen Hauptgewinn oder einen Staatsstreich lang auf die
zu kleinen Portionen warteten...
Allein: diese
Ärgernisse gerieten in Vergessenheit, wenn das
Restaurant gegen Abend ein in der Welt wohl
einzigartiges Unterhaltungsprogramm bot. An manchen
Abenden stolperten in übertriebenem Eifer und
überspielter Gebrechlichkeit jene Witze-Erzähler und
Volkslied-Sänger. die unter dem Kulturamt des Drachen
gellitten hatten, zwischen die Tische.
"Immer
weniger leisten die Ärzte für ihr Geld", klagte ein
verschrumpelter kleiner Mann, um nur ein Beispiel zu
geben. "Vor vierzig Jahren mußte meine Frau, wenn sie
Schnupfen hatte, noch den Oberkörper frei machen. Heute
sieht sich der Arzt nur noch ihre Zange an." Zu diesem
vermeintlichen Witz wedelte der Mann mit den Armen, als
könne er damit dem Beifall und dem Lachen mächtige
Schwingen machen.
"Wenn sein Arzt schon vor
vierzig Jahren nekrophil war", flüsterte Blanche mir zu,
"müßte er doch jetzt erst recht auf seine Lüste kommen.
Und ob es wirklich Widerstand war, die alten Herren des
Rates solcherart an ihr Gattinnen zu erinnern, würde ich
auch anzweifeln. Mir scheint das eine Dummheit gewesen
zu sein."
"Weder machte sich der Drache über jede
Jungfrau her noch waren alle, über die der Drache
herfiel, Jungfrauen", stimmte ich Blanche zu und nippte
am Weinglas. "Diese Hupf- und Sang-Dohle etwa ist
bestimmt noch heute Jungfer, sowenig ich mir auch
vorstellen kann, daß sie jemals eine junge Frau gewesen
sein könnte."
All jene Künstler, die einst unter
dem Vorwand zu stumpfer Pointen, belegter Stimmen oder
verdienter Lebensabende von den Bühnen der Stadt
verbannt worden waren, schienen nun nur anzutreten, um
in aller Freiheit den Kunstverstand der
Reptilien-Ordnung zu demonstrieren. Zufrieden nickten
auch die von Westen zugewanderten Lehrmeister der neuen
Honoratioren: eine Stadt mit solchen Freiheitskämpfern
bedurfte sehr wohl des Auftritts der mitgebrachten
geistigen Elite, eines gleichfalls greisen Händereibers.
Im zweiten Teil des Abendprogrammes dozierte er kollernd
über das Prinzip, die Geschichte und den Gebrauch von
Eßbestecken. Als spräche er von der Erschaffung der
Welt, breitete er seine Erinnerungen an seine ersten
eigenhändig gelöffelten Griesbreie aus, und endlich
konnten auch wir von Herzen lachen.
(Wir wurden
darob der Arroganz geziehen, denn der Mann war Professor
einer Berliner Hochschule gewesen, - die ihn freilich
längst in den finanziell gut abgesicherten
Alters-Schwachsinn entlassen hatte.)
An den
Freitag-Abenden wurde das Programm mit verbalen
Frauen-Schlamm-Ringkämpfen beendet, zu denen weinerliche
Künstlerinnen vorgestellt wurden: je eine weiter in
Schildau ansässige und eine aus Schildau ausgewiesene.
Ein paar Minuten lang durften sich diese Gladiatorinnen
vor den Gästen des Resaurants spreizen, mit Gesten und
Worten um ustimmung und Unterstützung buhlen. Hernach
freilich stellte ihnen die Frau Wirtin jene allgemein
interessierenden Fragen: ob sie vielleicht nicht doch
mit dem Drachen gesprächsweise oder sexuell verkehrt
hätten, ob er ihnen aufrichtig gesagt niemals in ihren
sexuellen Träumen erschienen sei und ob sie nicht doch
meinten, auch Reptilien hätten einen Platz in der neu
geordneten Welt der Erfolgsmenschen.
Meine dürren
Worte vermögen nur höchst unvollkommen wiederzugeben,
wie diese Fragen namentlich auf die weiterhin in
Schildau ansässigen Frauen wirkten. Sie begannen, mit
offenem Mund zu atmen und die Augen zu drehen, als
drängten statt der Blicke die angewachsenen Speere aller
Restaurantbesucher in sie. Ihre Antworten wurden
knapper, wurden zu einem Jaulen und Verröcheln, und just
in jenen Momenten gingen die aus Schildau ausgewanderten
Gegnerinnen zum Angriff über.
"Sie waren doch das
Vorzeige-Flittchen des Regimes!"
"Ich, wieso? Und
wir haben immer `Du` zueinander gesagt, ich..."
"Und nach den Auskünften von Jockel Auerhahn waren Sie
eine Mundfickerin der Stadtinquisition!"
"Muß ich
mir das anhören", fragte die Angegriffene die Frau
Wirtin. "Lassen Sie mich doch erst einmal ausreden!
Denn was Sie hier abziehen, ist doch keine hilfreiche
Vergangenheitsbewältigung!"
Im Laufe der Zeit
zeichneten sich die monotonen, fast rituellen Züge
dieser Schaukämpfe wohl immer deutlicher ab, doch schien
dieser Programmpunkt vor allem den männlichen Gästen des
"Imperator" gleichwohl unverzichtbar. In ihrer Wildheit
gleichsam exotische Frauen unternahmen, sich
rückssichtslos zu entblößen, zu beschmutzen und fertig
zu machen, taten sich an, was sie jedem Mann verweigert
hätten, und machten sich in ihrer kämpferischen
Entschlossenheit zugleich lächerlich. Wenn auch der
Auftritt zumeist mit der Flucht der heulenden
Ein-wohnenden endete, gewann doch die Siegerin nie die
Sympathie der Zuschauer, und Blanche und ich konnten das
besonders deutlich an der Gauklerin Frigga Stier
beobachten. Sie, die als eine begabte Regisseurin
vorgestellt wurde und ihre Schaukämpfe etwas abgehärmt
und klagend begann, wurde von Woche zu Woche dicker,
träger und in ihren Beschimpfungen einfallsloser.
Irgendwann war bei der Frau Wirtin und den Zuschauern
gnz in Vergessenheit geraten, daß sie es mit einer Frau
der Bühne zu tun hatten, und die in etlichen ungelesenen
Flugschriften wiederholten und ausgewalzten Auftritte
sollten beweisen, daß Frigga Stier eine Schriftstellerin
und Sozialwissneschatlerin war. Nur wenig später glaubte
die Frau das selbst, und sie versuchte zum großen Gaudi
des Auditoriums sogar, ihre vom Rat der Stadt empfohlene
Emigration als ihre größte Widerstandstat darzustellen.
Auch Jockel Auerhahn scheute sich nicht, dem
Publikum des "Imperators" Belehrung und Zerstreuung
anzubieten, und im Unterschied zum Patienten des
nekrophilen Arztes brachte er sogar Blanche und mich zum
Lachen.
"Ich bin eine von den Bürgern erkämpfte
institutionalisierte Erinnerung", erklärte der Hirt
gewesene Existenzen-Metzger in vollem Ernst.
Wenn
Blanche und ich nach solchen Essen und Beilagen das
Restaurant verließen, wurden wir nicht selten von
blondierten Schulmädchen in handtuchbreiten Röcken
angesprochen. Sie versuchten, wenn sie sich nicht uns
beiden anboten, ihre vermeintlich erfolgreichere
Konkurrentin von meiner Seite zu reden, und dann
antwortete ihnen Blanche aus dem eben aufgefrischten
Vokabular und Zitatenschatz.
"Mundfickerin der
Inquisition", schimpfte Blanche lachend, "Aushängefotze... Vierzig Jahre lang
nur die Eier schaukeln, aber die Nummer voll bezahlt haben wollen! Ihr müßt erst
mal lernen, richtig zu ficken. Und was meint denn ihr, woher wir unser Geld
haben? Klar hat man es uns sozusagen in den Arsch gesteckt, aber wir waren eben
auch nicht zu fein, ihn hinzuhalten, Schwestern!"
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