Ein Drache über dem Berg Ni Qiu,

wo die sehr junge Frau eines sehr alten Mannes in den Wehen lag, soll dem chinesischen Staat Lu 551 v.u.Z. die Geburt des Philosophen Konfuzius verkündet haben. In Griechenland behauptete Sokrates, daß er seine Begabung, die Philosophie im dialektischen Streitgespräch ans Licht zu bringen, der Hebammenkunst seiner Mutter verdankte. Rational, da er Züge der Persönlichkeit aus der Entwicklung des Klassenkampfes herleitete, insgesamt aber in ähnlich mythischer Weise, beschwor Wladimir Majakowski 1924 im Lenin-Poem die Dampfmaschine, die Große Französische Revolution, die Leiden der Kolonialisierten unddas Auftauchen des Gespenstes des Kommunismus:

"all dies muß / hier gezeugt ihn haben / den einfachen Knaben / Lenin." 1

Dieser Topos grundverschiedener ideologischer Formen und so historisch entfernter wie sozial gegensätzlicher Ideologien erfüllt einen leicht verständlichen gesellschaftlichen Zweck. Da alle geistig gesunden Menschen rational über gesellschaftliche Verhältnisse nachzudenken, Anschauungen über Erscheinungen des Transzendenten zu entwickeln und sich in Worten, Tönen, Strichen und Farben auszudrucken vermögen, muß die besondere Bedeutung und Vorzüglichkeit der jeweiligen Spezialisten besonders hervorgehoben werden. Dies geschieht in der ursprünglichsten Form durch die Mythologisierung der Herkunft, in entwickelteren Formen durch den Kult des Talentes, die Beschwörung des Charakters und die Betonung der Bildung und kann erst und nur dort aufgehoben werden, wo die Aufhebung der Ideologie und der ideologischen Formen selbst intendiert ist:

"Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewußtsein hervorzubringen vermag... Die Lehre des Sozialisus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden." 2 Erst wenn das Bildungsmäßige, an das Soziale gebundene Privileg, so deutlich hervorgehoben ist, Inhalt und Form der geistigen Arbeit aber nur in der Auflösung dieser Privilegien zu realisieren sind, ist der entsprechende Topos verzichtbar geworden. Die Volksreformation, in der Luthers theologisch fundierter Trost, er sei nur durch die Heilige Schrift oder klare Vernunftsgründe zu widerlegen, dahin verstanden wurde, daß sich Gott jedem gemeinen Manne offenbaren könne, gibt ein historisches Beispiel dieses revolutionären Vorgangs.

Auch das weitere Leben und Wirken der Ideologen wird in bestimmten Wendungen vorgestellt: wie einst Herakles in der Wiege die von der eifersüchtigen Hera gesandten Schlangen erwürgte, bringt der spirituelle Herakles Jesus als Zwölfjähriger die Tempelgelehrten zu verblüfftem Schweigen. "Nein, wir werden einen solchen Weg nicht gehen", beschloß der siebzehnjährige Wladimir Iljitsch Uljanow nach der Hinrichtung seines Bruders als anarchistischer Terrorist. So warnte der vierjährige Mao Dze Dong die Bauern seines Dorfes, dem Gutsherren weiter Lebensmittel zu bringen: "Genug! Er wird doch platzen!"

Wie die politische Geschichte der Menschheit von "großen Männern" gemacht schien, glaubte man der idealistischen Geschichtsschreibung, müßte man die kulturelle Geschichte der Menschheit als Werk "verkannter Genies", "armer Poeten", "religiöser Eiferer" usw. usf. sehen, wollte man den Selbstreflexionen der Kulturgeschichts-Schreiber glauben. Dabei gehörten etwa Voltaires waghalsige und erfolgreiche finanzielle Transaktionen ebenso zu seiner Realisierung der bourgeoisen Persönlichkeit seiner Zeit wie seine Angriffe auf die "infame" katholische Kirche, sein aufklärerischer Impetus und sein Eintreten für Opfer feudaler Justizwillür. "Marx führte ein durchaus großbürgerliches Leben: er wurde oft genug dafür getadelt", thematisierte Brecht gegen eine Legende der nachmarxschen Arbeiterbewegung. "Seine Finanzbeschaffungsaktionen stehen an Energie denen eines der kleinen, immerfort bankerotten Fürstentümer kaum nach." 3

Marx solle nicht gezeigt werden, wie er Tee in einer Haltung trinke, als lege er eine Meeresbucht trocken; nötig sei, die Meeresbucht in einer Haltung trocken zu legen, als trinke man Tee. "Oder sollte der Meister Kameh etwa vor dem Gerichtsvollzieher keine Furcht zeigen", fragte Brechts Me-ti polemisch, "er, der vor allen Herrschenden eines Erdteils keine Furcht zeigte?" 4

Und gerade der Personenkult um J. W. Stalin, mit dem der nichtideologische Charakter des Marxismus zurückgenommen und die für den Sozialismus aufgestandenen Menschen zu "kleinen Schräubchen" herabgewürdigt wurden, bediente sich der unerträglichsten Klischees von Bescheidenheit und Aufopferung: "Häufig stelle ich mir vor, wie Genoss Stalin eben mit dem Bleistift in der Hand und der rauchenden Pfeife im Munde in seine m Arbeitszimmer sitzt und, ungeachtet seiner Müdigkeit, ungeachtet der späten Nacht, vom neuen leben der Menschheit schreibt, für das er so unermüdlich kämpft, ohne seine Kräfte und sein Leben zu schonen." 5

Selbst die Kritik der der ideologischen Formen wandte und wendet gegen die Ideologie unddie Ideologen zuerst und vorzüglich deren eigenen Topos. Für Thomas Müntzer war Martin Luther eben das "sanftlebende Fleisch zu Wittenberg" und deshalb vom Heiligen Geist verlassen.; gerade gegen den Klerus kehrten Philosophie, Kunst und selbst die soziale Psyche immer wieder das selbstverhängte Gebot der Keuschheit und Askese, in Heines berühmten Versen generalisiert: "Ich weiß, sie tranken heimlich Wein / und predigten öffentlich Wasser." 6

Eine so scharfe Waffe im geistigen Kampf diese Hervorhebung war, war ihre zweite Schneide jedoch immer, daß mit ihrem Gebrauch das ideologische Vorurteil mit gebraucht würde, geistige Tätigkeiten seien höhere.

Selbst der philosophische Materialismus konnte und kann dabei, wie brecht feststellte, zur bloßen Idee verkommen, "daß die Ideen von den materiellen Zuständen kommen und nicht umgekehrt." Daß das Reden vom Essen bei den Hochgestellten als niedrig gelte, käme, weil sie schon gegessen hätten, während die Niedrigen, ohne an das Niedere zu denken, nicht hoch kämen. 7

Die wesentliche Kritik der ideologischen Phänomene, ihrer Formen wie ihres die Klassenherrschaft verewigenden Inhalts, ist die gedankliche und reale Aufhebung ihrer Funktion gegenüber der sozialen Psyche, dem Bewußtsein der Massen:

"Wir brauchen niemand,
Der über den Landen
Aufwendig Licht brennt in seiner Klause
Kündend: Hier brennt noch ein Licht!
Und ich leuchte allein!
Wir Leute leuchten uns immer noch selber nach Hause..." 8

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1 Majakowski, W.W.: Wladimir Iljitsch Lenin. In: Ausgewählte Werke, Bd. II. Berlin 1968, S. 261 - 268.

2 Lenin, W.I.: Was tun? In: Werke, Bd. 5. Berlin 1976, S. 385 f.

3 Brecht, B.: (Marx-Beschreibungen). In: Über Kunst und Politik. Leipzig 1976, S. 136/137.

4 Brecht, B.: Prosa. Bd. Iv. Berlin und Weimar 1975, S. 76.

5 Begegnungen mit Genossen Stalin. Moskau 1940, S. 145.

6 Heine, H.: Deutschland. Ein Wintermärchen. In: Werke und Briefe, Bd. 1.Berlin und Weimar 1980, S. 436

7 Brecht, B.: Flüchtlingsgespräche. In: Werke in fünf Bänden, Bd. 4. Berlin und Weimar 1973, S. 389/390.

8 Weisbach, R.: Poesiealbum 155. Berlin 1980, S. 12.

 

 

 

Warum das hier steht