Um Marx' oder der Bischofsfrau Bart II

Am Gravierendsten scheint mir jedoch, daß Josef Wissarionowitsch Stalin in einem nur drei Seiten füllenden Text alle möglichen Verzerrungen durch den Leninismus-Begriff realisiert. Für ihn war, noch bevor er auf den Sachverhalt kam, "Leninismus... das Besonderere und Neue in den Werken Lenins".

1. "Wäre aber der Leninismus weiter nichts als die Anwendung des Marxismus auf Rußland", polemisierte er gegen die entsprechende Teilwahrheit, "dann wäre der Leninismus eine rein nationale und ausschließlich nationale, eine rein russische und ausschließlich russische Erscheinung."

Die marxistische Polemik würde eine andere Fortsetzung verlangen, etwa: Selbst wenn der Leninismus nur eine Anwendung des Marxismus auf die russischen Verhältnisse darstellen würde (könnte), wäre er keine rein nationale Erscheinung,

  • da es diese innerhalb der imperialistischen Weltordnung nicht mehr geben kann,
  • da die Entwicklung des Marxismus nicht anders als in der Anwendung auf national eigenartige Verhältnisse geschehen kann.

So kappt die beschränkte, undialektische Sicht die nationale Wurzel des Leninismus.

2. Seiner Bestimmung des Leninismus als "Marxismus der Epoche des Imperialismus schloß Stalin an: "Genauer: Der Leninismus ist dieTheorie und Taktik der proletarischen Revolution im allgemeinen, die Theorie und Taktik der der Diktatur des Proletariats im besonderen."

Erscheint bereits der Kurzschluß zweier Bezugssysteme (Theorie und Praxis, Strategie und Taktik) nicht uproblematisch, fällt vor allem auf, daß Stalins "Genauer" keine Präzisierung, sondern eine Reduzierung der gesellschaftlichen Funktionen des Marxismus-Leninismus einleitet. Die weltanschauliche Begründung und Bedeutung des Leninismus wird ignoriert: er erscheint nicht als die Fportsetzung der Marxschen Tradition der Umformung von Weltkultur und Philosophie.

3. Die Polemik gegen eine Auffassungnach der der Leninismus die Wiederbelebung der revolutionären Elemente des Marxismus sei, gerät Stalin zur Personalisierung der theoretischen und praktisch-politischen Leistung: "Man darf nicht vergessen, daß zwischen Marx und Engels einerseits und Lenin andererseits ein ganzer Zeitabschnitt der ungeteilten Herrschaft des Opportunismus der II. Internationale liegt..." So vorgestellter Leninismus ist von seinen internationalen Quellen und Einflüssen getrennt, seiner Geschichtlichkeit beraubt.

Der realen Dialektik von Nationalem und Internationalem im Leninismus versucht Stalins Darstellung zu entsprechen, indem sie die oberflächlich "übernationale" Definition um dümmlich nationalistische Elemente bereichert. Als hätte Lenin nicht analytisch, selbstkritisch und radikal gegen "kommunistische Hoffart" und "großrussischen Chauvinismus" gekämpft, als hätte Lenin nicht ein Jahr zuvor von der Kultur der Sowjetmacht und der führenden Partei geschrieben, in ihr mische sich atemberaubende Kühnheit mit "Amtsrespekt", "muffigster Routine" und "erstaunlicher Zaghaftigkeit gegenüber irgendeiner ganz unbedeutenden Kanzleireform", erklärte Stalin zum Arbeitsstil des Leninismus: Die Vereinigung von amerikanischer Sachlichkeit und - russischem revolutionärem Schwung. "Der russische revolutionäre Schwung ist das Gegengift gegen Trägheit, Routine, Konservatismus, Denkfaulheit, sklavisches Festhalten an den Traditionen der Großväter. Der russische revolutionäre Schwung ist jene belebende Kraft, die das Denken weckt und vorwärts treibt, das Alte zerstört, Perspektiven eröffnet. Ohne diesen Schwung ist kein Fortschritt möglich." 1

Und letztlich, aber nicht ganz zuletzt offenbaren bereits die Vorlesungen "Über die Grundlagen des Leninismus" allenthalben das völlige Unvermögen zur dialektischen Analyse und Darstellung ideologischer Phänomene. Stalin sprach z.B. von einer "anpassungssüchtigen, klinbürgerlichen Natur" des Opportunismus; die Rolle des Reformismus und Revisionismus, objektiv Agent des Imperialismus in der Arbeiterbewegung zu sein, wurde als subjektive Parteinahme verstanden. Aus Lenins Polemik gegen die menschewistische Taktik in der demokratischen Revolution, zwischen dieser und der proeltarischen Revolution gebe es keine chinesische Mauer, verstand Stalin: "Die Helden der II. Internationale behaupteten (und behaupten auch weiter), daß zwischen der bürgerlich-demokratischen Revolution einerseits und der proletarsichen andererseits ein Abgrund klaffe oder jedenfalls eine chinesische Mauer stehe..." 2

Georg Lukács, der die Behauptung Stalins im Kampf der Fraktionen in der KPdSU (B) 1968 als "Sieg... des schlauen, berechnenden, überlegenen Taktikers" verstand, beschreibt die der Leninismus-Definition folgende Entwicklung unübertrefflich knapp und exakt: "Zu seinerTaktik gehörte aber auch, daß er diesen Sieg als den der richtigen Lehre Lenins über deren Entstellungen darzustellen im Stande schien. Und es gehört zum Wesen seiner Persönlichkeit, daß er nach dem Sieg nicht mehr bloß als als treuer Ausleger und Schüler Lenins öffentlich fungieren woltlesondern allmählich - oft taktisch sehr geschickt - Situationen zustande brachte, in denen er bereits als der echte Nachfolger der allseitig überlegenen Führerpersönlichkeit seines großen Vorgängers ins öffentliche Bewußtsein trat... Stalin selbst war aber doch nicht mehr als ein sehr kluger Mensch und ein äußerst raffinierter Taktiker. (Wir werden sehen, daß sein politischer Lebenslauf sowohl positive wie negative Züge seiner derarts einseitigen Begabung offenbart.)" 3

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1 Stalin, J. W.: Über die Grundlagen..., a.a.O. S. 164.

2 ebenda, S. 71 ff.

3 Lukács, G.: Demokratisierung heute und morgen. Budapest 1985, S. 85.

 

Warum das hier steht