Um Marx' oder der Bischofsfrau Bart III

Die Vereinfachungen und Mißverständnisse des Leninismus in den Stalinschen Vorlesungen von 1924 finden sich im Brief "Über einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus" von 1931 wieder - zu "Axiomen des Bolschewismus" erklärt. Darin erweisen sich im Rückblick "die linken Sozialdemokraten im Westen nicht als reif..., in die Fußtapfen der russischen Bolschewiki zu treten", ist das Denken Rosa Luxemburgs "halbmenschewistischer Mischmasch", muß keine Stalinsche Position mehr bewiesen werden. Aus dem unvollkommen verstandenen Leninismus ist Stalinismus geworden, das Besondere und Neue in den Werken Stalins, die "Priorität der Taktik vor der Strategie und erst recht vor den Gesamtentwicklungstendenzen der Menschheit", wie Lukács treffend bemerkt. 1 Der Ahne solchen Verfahrens war Lenin so wenig wie Marx - es war im Positivem, Revolutionärem BLANQUI, im Negativem Verbrecherischem NETSCHAJEW.

Der Leninismus Lenins ist nur von seinem Ausgangspunkt her wirklich zu verstehen - von der umfassenden und methodisch richtigen Anwendung desMarxismus auf die russischen Verhältnisse. Die Leninsche Anwendung trug den Charakter einer Reproduktion des Marxismus unter anderen, in mancher Hinsicht rückständigeren ("asiatischen") und in mancher Hinsicht fortgeschritteneren (bereits imperialistischen) Bedingungen. Darin unterschied sie sich vonder Plechanowschen Anwendung, über deren "Entwurf eines Programms der russischen Sozialdemokratie" (1888) Lenin im Rückblick urteilte: "Der Fehler dieses Programms liegt nicht etwa in falschen Grundsätzen oder falschen Teilforderungen... Der Fehler dieses Programms ist sein abstrrakter Charakter, es fehlt jede konkrete Betrachtung des Gegenstandes. Eigentlich ist es kein Programm, sondern nur eine höchst allgemein gehaltene marxistische Deklaration." 2 Lenins Methode war hingegen, mit den Worten von N.K. Krupskaja: "Die Werke von Marx zur Hand nehmen, die der Untersuchung analoger Situationen gewidmet sind, sie sorgfältig analysieren, sie mit der gegenwärtigen lage vergleichen, die Ähnlichkeiten und die Unterschiede herauszuarbeiten." 3 So wurde nicht diese oder jene Marxsche Erkenntnis oder Maxime ins Russische übertragen, sondern wurde das Marxsche Verhalten zu Sachverhalten und Tatsachen in und an der russischen Realität überprüft,bestätigt, erprobt und erneuert.

Wie zur Entstehungszeit des Marxismus in Deutschland, so ergab die Leninsche Analyse der Ökonomik und Kultur, war um die Jahrhundertwende Rußland ein Land, das sich "eines Morgens auf dem Niveau des europäischen Verfalls befinden würde, "bevor es jemals auf em Niveau der europäischen Emanzipation gestanden hat". Analog war zu vermuten und theoretisch und parteipolitisch vorzubereiten, daß "die Emanzipation von dem Mittelalter nur möglich" sein würde "als die Emanzipation zugleich von den teilweisen Überwindungen des Mittelalters". Rußland war weder durch seine Ökonomie noch durch das Auftreten Lenins an die Spitze der europäischen und Welt-Entwicklung getreten, sondern wie man im römischen Pantheon die Götter aler Nationenfand", so entdeckte Lenin in seinem Rußland "die Sünden aller Staatsformen". Zu ihnen konkre und auf Marxschem Niveau Stellung zu nehmen, bedeutete, die "Kritik mitten unter die Fragen" zu stellen, "von denen die Gegenwart sagt: That is the question." 4

So begann Lenin keinesfalls als heimatloser Heiland gegen den internationalen Revisionismus zu predigen, sondern bezog die marxistische Position gegen originell russischeEntstellungen des Marxismus, namentlich den "legalen Marxismus", gegen den russischen Reformismus und Tradeunionismus. Er setzte kein abstraktes Modell des Parteiaufbaus auf eine lebendige politische Bewegung, sondern wirkte für den Zusammenschluß der russischen marxistischen Zirkel zu einer Partei auf der Höhe der revolutionären Aufgaben. Er erfand keine besondere bolschewistische Taktik in der bürgerlichen Revolution von 1905, sondern er präzisierte in Marxscher Intention dessen Vorstellung von der proletrischen Aufgabe, die bürgerlich-demokratische Revolution "permanent" zu machen und an die sozialistische heran zu führen. 5 Dadurch, durch die radikale erneuerung des Marxschen Verhaltens zu den Tatsachen, wurde Lenin zur Herausforderung gegen den international offensiven Reformismus und Zentrismus - während er seinerseits eine hohe Wertschätzung für die durch Erfahrungen bestätigte Politik der westeuropäischen, namentlich der deutschen Sozialdemokratie bezeugte. 6

(So erklärt sich die Kontroverse, die in allen diesen und weiteren Fragen zwischen Lenin und Rosa Luxemburg ausgetragen wurde, nicht nur nicht aus einer besonderen Gefährlichkeit des "halbmenschewistischen Mischmaschs", des "Luxemburgismus"; sie ist nicht einmal damit erschöpfend zu erklären, daß Rosa Luxemburgs Arbeit für die polnische Sozialdemokratie immer auch an russische Partei-Angelegenheiten rührte. Von beiden wurde fast immer zeitgleich, fast immer in direktem Bezug aufeinander verstanden, daß der/die jeweils andere im selben Bemühen den marxistischen Standpunkt in den aktuellen internationalen "questions" zu bestimmen suchte. Gerade vor diesem Hintergrund war sowohl die nationale wie philosophische Fundiertheit der Leninschen Positionen die Basis genauerer gültiger Antworten.) 7

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1 Lukács, G.: Demokratisierung... a.a.O., S. 93.

2 Lenin, W.I.: Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907. In: Werke, Bd. 13, Berlin 1974, S. 253.

3 Krupskaja, N.K.: Das ist Lenin. Berlin 1970, S. 395.

4 Vgl.: Marx, K.: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie.Einleitung. In: MEW, Bd. 1. online Eine ähnliche Argumentation findet sich auch, wo Heinrich Heine die Relevanz politischer Entwicklungen in Frankreich für Deutschland beschreibt, insbesondere seine Aufmerksamkeit für den im französischen Exil aufbühenden "Kommunismus" erklärt.

5 Trotz der ganz anderen zeitlichen Vorstellungen, trotz ihrer unmittelbaren politischen Folgerungen aus der abstrakt beschriebenen bürgerlichen Entwicklung, beschreiben Marx und Engels diese Problematik bereits im "Manifest der kommunistischen Partei". (1848) online 1 online 2

6 Vgl.: Lenin, W.I.: Die Liquidierung des Liquidatorentums. In: Werke, Bd. 15, Berlin 1974, S. 462. Die Erfahrunen der deutschen Sozialdemokratie beschrieb Lenin noch 1909 als Beispiel "langsamer", "systematischer und beharrlicher" Arbeit zwischen den Aufschwungen der revolutionären Bewegung.

7 Es ist auffällig, daß die deutschen linken Sozialdemokraten mit der Marxschen Philosophie relativ wenig anzufangen wußten. Diese blieb nahezu monopolisiert bei Karl Kautsky, dem "Cheftheoretiker" der SPD; gerade Franz Mehring näherte sich über historische und kulturelle Fragestellungen auch philosophischen. Die "Sphären" Rosa Luxemburgs waren die Nationalökonomie und die - wie wir heute sagen würden - "Politologie". Demgegenüber glaubte Lenin, um seine Interpretation der Revolution von 1905 und seine Folgerungen für den Parteiaufbau durchstzen zu können, sich mit dem subjektiven Idealismus der "Empiriokritzisten" auseinander setzen zu müssen. (1908) Er studierte Hegel, um im Scheitern der II. Inernationale zu Beginn des Ersten Weltkriegs neue revolutionäre Chancen auszumachen.

 

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