"Der Gott, der ist, ist der Gott der Proletarier." II

Dieser konkrete Ausdruck, daß das Christentum alle vom "Auflösungsprozeß der alten Welt freigesetzten " Elemente aufnahm (Friedrich Engels), befähigte es, die siegreiche Weltreligion jener Zeit zu werden: "Bei allen bisherigen Religionen waren die Zeremonien die Hauptsache... Das Christentum kennt keine scheidenden Zeremonien, nicht einmal die Opfer und Umzüge der klassischen welt. Indem es so alle Nationalreligionen und das ihnen gemeinsame Zeremoniell verwirft und an alle Völker ohne Unterschied sich wendet, wird es selbst die erste mögliche Weltreligion... Zweitens schlug das Christentum eine Seite an, die in zahllosen Herzen wiederklingen mußte.

Auf alle Klagen über die Schlechtigkeit der Zeiten und das allgemeine materielle und moralische Elend antwortete das christliche Sündenbewußtsein: So ist es, und so kann es nicht anders sein, an der Verderbtheit der Welt bist Du schuld, Ihr alle, Deine und Eure eigne innere Verderbtheit... Die Erkenntnis des Schuldenanteils jedes einzelnen am allgemeinen Unglück war unabweisbar und wurde nun auch Vorbedingung der geistigen Erlösung, die das Christentum gleichzeitig verkündete." 1

Das alles bedeutete im damaligen historischen Kontext aber sowohl die Kritik aller "irdischen", materiellen Verhältnisse als auch all ihrer "verhimmelten" Formen. Nicht der positive Ertrag der Arbeitsteilung und Klassenspaltung, sondern ihr sozialer Niederschlag war der Ausgangspunkt aller Vorstellungen: "Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern", würde der Richter der Welt, ein Zimmermannssohn und Gott sagen, "das habt ihr mir getan." (Matth. 25,40) Nur das kollektive Zusammenleben und -handeln, entgegen allen bisher selbstverständlichen politischen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Gebräuchen konnte den Einzelnen und das Kollektiv aus Weltuntergang und Fegefeuer in das eigentliche und ewige Leben retten: "Siehe da, die Hütte Gottes ist bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden ein Volk sein, und Er selbst, Gott, wird mit ihnen sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Throne saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!" (Off. 21,3-5)

Zum historisch ersten Male war die Aufhebung der gewohnten Klassenspaltung gedacht, verheißen und verfügt worden, ein "'Sozialismus', soweit er damals möglich war".

Der Gott, der in diesen Vorstellungen lebte, war der Gott der Proletarier - eine gedankliche Personifizierung der Auflösung und des Untergangs der römischen Welt. Da dieser Untergang und diese Auflösung auch real personifiziert war, vom historischen Subjekt einer neuen ausbeuterischen Klasse betrieben und verwaltet wurde, konnte und mußte dieser proletarische Gott freilich der Gott der Reichen und Mächtigen, seine anarchistische Gemeinde deren kirchliche Partei werden. Der Widerspruch zwischen "spirituellem Sozialismus" und der "feudalen Instrumentalisierung", zwischen der plebejischen Verwerfung aller Ideologie und der ideologischen Verwendung dieser Weltanschauung bestand das ganze "christliche Mittelalter" über und darüber hinaus fort.

Faßte Marx diesen Widerspruch, "Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend", beschrieb ihn Antonio Gramsci 1929/30 in seiner hauptsächlichen entwicklungsform: "die 'Kirche' als Gemeinde der Gläubigen bewahrte und entfaltete bestimmte politisch-moralische Prinzipien in Opposition zur Kirche als klerikaler Organisation, bis zur französischen Revolution, deren Prinzipiender Gemeinde der Gläubigen (eigen) und gegen den mit König und Adel verbündeten Feudalorden des Klerus gerichtet waren..." 2

Die naive, ursprüngliche und nicht dogmatisierte christliche Weltanschauung der Massen war von der kirchlichen Organisation immer wieder gegen politische oder religiöse Gegner, gegen die aufbegehrenden anderen ideologischen Formen zu mobilisieren - arme alte Weiber warfen eifrig Holzscheite in die diversen zahlreichen Ketzerbrände. Sie wandte sich jedoch immer wieder auch gegen ihre ideologische Vereinnahmung, in den Ketzererbewegungen der Armut, die bis zum Sturm auf Rom und den Vatikan, bis zum Bischöfe-Schlachten anwuchsen. 3

Daß Martin Luther neben Calvin, Zwingli und anderen zu einer theologisch bgeründeten Reform der Katholischen Kirche rief, übersetzten städtische und dörfliche Armut und deren Prediger als Aufruf zur Neuordnung von Glauben, Kirche und Welt: "Sieh zu, die Grundsuppe des Wuchers, der Dieberei und Räuberei sind unsere Herren und Fürsten, nehmen alle Kreatur zum Eigentum. Die Fisch im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden muß alles ihnen sein, Jesaias V. Darüber lassen sie dann Gottes Gebot ausgehen unter die Armen und sprechen 'Gott hat geboten, du sollst nit stehlen'... Die Herren machen das selber, daß ihnen der arme Mann feind wird. Die Ursach des Aufruhrs wollen sie nit weg tun. Wie kann es die Länge gut werden? So ich das sage, muß ich aufrührisch sein, wohlan!" 4

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1 Engels, F.: Bruno Bauer und das Urchristentum, a.a.O., S. 303/304.

2 Gramsci, A.: Religion als Prinzip und der Klerus als feudaler Klassenorden. In: Gedanken zur Kultur. Leipzig 1987, S. 48.

3 Vgl.: Grigulevic, R. J.: Ketzer - Hexen - Inquisitoren, Bd. 1. Berlin 1980, S. 62 ff.

4 Müntzer, T.: Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens. In: Die Fürstenpredigt. Neuhochdeutsche Übersetzung. Berlin 1975, S. 61/62.

 


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