"Der Gott, der ist, ist der Gott der Proletarier." III

Neben dieser Entwicklung des immanenten Widerspruchs der christlichen Religion, der in politischen und sozialen Krisensituationen aufbrach und im religiösen Gewand die "Klassenfrage" wiederholte und verschärfte, verdient aber auch eine innere Entwicklungsgesetzmäßigkeit der Religionen Aufmerksamkeit, die der Religionssoziologe Gustav Mensching in fünf "Stadien der der Religion" beschreibt. Dem Stadium der "Anfangs-verbundenheit", in der der offenbarte "Geist" die einzig bestimmende Größe sei, folgte aus der Notwendigkeit der Weitergabe und Lehre ein Stadium der "Dogmatisierung und Konfessionalisierung" und ein diese Ergebnisse institutionalisierendes Stadium der "Organisierung".

In diesem Stadium erweise sich die Kirche als eine "Anstalt der Gnade mit beamteten Funktionären", die die religiösen Erlebnisse austeile und die daneben exisitierende "primitive Vorhofreligion stark magischen Charakters" toleriere. Da ohnehin nur ein Teil des religiösen Verhaltens zu organisieren sei, beschränke sich die Kirche auf dessen Kontrolle und gerate damit in Widerspruch zur Lehre und Ethik ihres Anfangs.

Erst im folgenden Stadium der "Reformation" lebe der Glaube der "Stifter" wieder neu auf, bevor er demselben Gesetz der Dogmatisierung und Organisierung unterliege und erliege. Nur am Beispiel der "Volksreligionen" verweist G. Mensching auf ein Stadium des "Untergangs" der Religionen, gekennzeichnet durch die Profanisierung des Kultes und der der Organisation, durch das Absinken des Glaubens zum Aberglauben. 1

Die Unterschätzung solcher "inneren Notwendigkeit der Organisation" hob Antonio Gramsci, ebenfalls an einem Beispiel aus der Theologie, als eine von drei Gefahren hervor, historischen Materialismus zu "primitivem Infantilismus" zu vereinfachen.Faßte Marx diesen Widerspruch, "Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck und in einem die Protestation Zudem sei darauf verwiesen, daß die Geistlichen für Gramsci immer "typische Vertreter" der "traditionellen Intellektuellen" waren, das heißt von Intellektuellen, die geistigeArbeit nicht an und für sich, sondern "unter bestimmten Bedingungen und innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Beziehungen" leisteten. 2

Darum scheint mir annehmbar, daß die "Stadien der Religion" typisch für die Stadien der ideologischen Formen sind, für religiöse wie ästhetische wie philosophische Programme und Gruppierungen von "traditionellen Intellektuellen".)

So erscheint die "Theologie der Befreiung" nicht nur als ein theologischer Reflex der sozialen Misere in Lateinamerika und der vielfältigen Einflüsse und Wirkungen des Marxismus, sondern auch als eine innerreligiöse notwendige Selbstreflexion und und Reformbestrebung.

Ihr Gott ist der ursprünglich offenbarte christliche Gott, theologisch wie historisch, und zum ersten Mal wird diese Reformation auch sozial analog wirksam: die "urkommunistische Ideologie"des Urchristentums hat nicht mit der frühbürgerlichen, reformatorischen Ideologie zu schließen, sondern korrespondiert mit der modern kommunistischen, revolutionären.

So erscheint mir die "Theologie der Befreiung" nicht nur ein historisch und regional besonderes Phänomen, sondern eine grundsätzlich orinäre Erscheinung, eben nicht im schon traditionellen Verständnis "Arbeiterpartei - Religion", "wissenschaftlicher Sozialismus - religiöser 'Sozialismus'", "sozialistischer Staat - vorgefundene Kirche" zu beschreiben und zu verstehen. (Der theologische Vorbehalt gegen den Atheismus des dialektischen Materialismus steht nicht im Vorfeld der Ablehnung des Marxismus, sondern gerade seiner Indienstnahme durch die Theologie der Befreiung; Marx' Polemik gegen den religiösen und utopischen Sozialismus erfährt bei Leonardo Boff ausdrückliche Bestätigung: "Er mußte diesen Schritt tun, um Mystifizierungen zu verhindern." 3)

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1 Vgl.: Menschin, G.: Die Religion. Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze. Stuttgart 1959, S. 307 - 321.

2 Gramsci, A.: Basis und Überbau. In: Zu Politik, Geschichte und Kultur. Leipzig 1980, S. 219 f.

3 Boff, L.: Marxismus in der Theologie: Glaube muß wirken. In: Boff, L.: Aus dem Tal der Tränen ins Gelobte Land. Düsseldorf 1982, S. 212.

 

Warum das hier steht