"Im Ernst, die Erde ist rund und dreht sich." II

Die "Weltanschauung der Arbeiterklasse" vertreten zu wollen, würde in vielen Ländern der "dritten" Welt bedeuten, die Anschauung einer städtischen und sozial relativ gesicherten, also durchaus privilegierten Minderheit für sich zu reklamieren. In der kolonialen Geschichte wie im Unabhängigkeitskampf jener Länder haben sich die Instrumente des politischen Kampfes oftmals diskreditiert: auf einer der ersten Massenkundgebungen nach dem Sieg der kubanischen Revolution erntete Fidel Castro stürmischen Applaus, als er versprach, es werde auf absehbare Zeit keine Wahlen geben. 1

Frantz Fanon diagnostizierte den nationalrevolutionären Parteien vieler unabhängig gewordener afrikanischer Staaten, man habe es mit einem "zur Partei erhobenem Stamm" zu tun: "In Gegenwart eines Parteimitgieds schweigt das Volk, macht sich zum Lamm und gibt Lobreden an die Adresse der Regierung und des politischen Führers ab... Sobald die Kolonialmacht das Land dieser Partei überlassen hat, die behauptet, der Diener des Volkes zu sein und für seine Befreiung zu arbeiten, beeilt sie sich, das Volk in seine Höhle zurück zu schicken... Wir haben es nicht mehr mit einer bürgerlichen Diktatur, sondern mit einer Stammesdiktatur zu tun." 2

Demgegenüber stellt sich die politische und kulturelle Geschichte des Marxismus-Leninismus aus der Sicht der "dritten" Welt oft als Teil der Politik und Kultur des "Westens" bzw. des "Nordens", der "Kolonialisatoren" dar. Roque Dalton, ein Dichter und kommunistischer Funktionär El Salvadors, eines Landes mit Traditionen in der kommunistischen Bewegung, sprach um 1970 von sich als von einem "Kolonisierten, der während langer Jahre als Koloniserter auch die revolutionäre Theorie und Praxis übernommen hat. Ist es nicht lediglich die Feststellung einer einfachen historischen Tatsache, darauf hinzuweisen, daß wir uns lange Zeit auch Lenin mit der Blindheit der Kolonisierten genähert haben? So war für uns die Kultur des Kolonialisators und die revolutionäre Kultur des fortgeschrittensten Teils der Menschheit Kost und Köder der Entfremdung, wenn auch auf verschiedenen Ebenen. Ganz davon abgesehen, daß es auch eine sattsam bekannte Strömung im revolutionären Weltlager gabdie das marxistisch-leninistische Denken zu Dogmen verdickte." 3

(Um zu begreifen, daß es in unseren Darlegungen, aber auch in unserem Verständnis des Marxismus-Leninismus "eurozentristisch" zugeht, müßten wir uns nur vorstellen, wir hätten dessen Allgemeingültigkeit im Kontext Asiens, afrikas und Lateinamerikas zu belegen, hätten die weltweit einflußreichen Fortschritte des Sozialismus auf diesen Kontinenten als internationale Einflüsse auf die Entwicklung des Marxismus-Leninismus darzustellen...)

Wenn es wiederum nötig ist, für Sozialismus ein neues Wort zu bilden, im Amharischen "Menschengemeinschaft", ist leicht zu verstehen, daß beide Begrife selbst im synonymen Verständnis sehr sehr verschiedene Traditionen aufrufen. Dies ist freilich nur ein extremes Beispiel dafür, "daß die heutige Sprache sich in bezug auf die Bedeutungen undden ideologischen Gehalt, den die Wörter in verschiedenen Kulturepochen besaßen, metaphorisch verhält." 4 In den "Gefängnisheften" zeigte Antonio Gramsci, daß und wie der Marxismus in seiner Selbstbestimmung als Materialismus verschiedenartige Traditionen aufrief:

  • den Ausschluß der Transzendenz, sowohl durch den Pantheismus als auch durch die Immanenzlehre;
  • jede praktische, politischem Realismus verpflichtete Haltung;
  • das Gegenteil von Spiritualismus, sowohl der Hegelschen als auch der sensualisitischen Anschauungen;
  • den im Irdischen gesuchten Sinn des Lebens;
  • die Tätigkeit um ihrer selbst willen...

Zugleich freilich falle die neue Philosophie mit keinem diese Inhalte zusammen: "Identität der Termini heißt nicht Identität der Begriffe." 5

Daß der marxistische Materialismus in Einflußbereichen nichteuropäischer Philosophien diese Bezüge nicht gleichermaßen, dafür aber weitere herstellen kann, bedarf wohl keiner weiteren Argumentation - und ähnlich dürfte es wohl allen politischen und weltanschaulichen Grundsätzen des Marxismus gehen.

Das Klassiker-Beispielfür die beachtung solcher Zusammenhänge ist das Nachdenken von Marx und Engels über die Gegenwart und die Perspektiven des gemeinschaftlichen Bodeneigentums im russischen Dorf; seine theoretische Arbeit zum Guerilla-Krieg begannn Che Guevara mit einer "Begriffsrevlolution": Guerillero bezeichnete in Kuba einen Anhänger der spanischen, sklavenhaltlerischen Herrschaft, war "Sinnbild alles Schlechten, Reaktionären und Korrupten". 6

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1 Vgl.: Cardenal, E.: Meditation und Widerstand. Gütersloh 1979, S. 123:"Daß e in Kuba kein Parlament und keine freien wahlen gibt, ist meiner Meinung nach kein Zeichen für Unfreiheit. Denn parlamentarische Demokratien gibt es in allen Ländern Lateinamerikas, sogar in den 'Gorilla-Regimes". Der Parlamentarismus ist hier nicht mehr als eine Formsache. Das Parlament repräsentiert nicht das Volk, sondern spielt Komödie."

2 Fanon, F.: Die Verdammten dieser Erde. In: Das kolonialisierte Ding wird Mensch. Leipzig 1986, S. 261/262.

3 Dalton, R.: Für ein Poem zum Hundertsten Geburtstag Lenins. In: Und wenn sie den Mond von dir wollen? Aktiva 5. Akademie der Künste der DDR 1987, S. 35.

4 Gramsci,A.: Notizen zu Sprache und Kultur. Leipzig und Weimar 1984, S. 76.

5 Vgl.: ebenda, S. 80 ff.

6 Vgl.: Che Guevara, E.: Was ist ein Guerillero? In: Venceremos! Wir werden siegen! Frankfurt am Main 1968, S. 50.

 

 

Warum das hier steht