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Um Marx' oder der Bischofsfrau BartAuf erste Gerüchte über die harte Selbstkritik des XX. Parteitags der KPdSU "muß" eine von Erwin Strittmatters Romanfiguren "mit dem Ausruf jener anglikanischen Bischofsfrau antworten, als sie erfuhr, daß der Mensch vom Affen abstammt: Hoffentlich ist es nicht wahr, sagte sie, sollte es aber wahr sein, so laßt uns dafür beten, daß es nicht bekannt wird." 1 Solche Reaktion auf die Ankunft der Wahrheit hat gerade in der "russischen Frage" der sozialdemokratischen, später der kommunistischen Arbeiterbewegung einen Bart. Von Westeuropa aus wollte man lange Zeit bärtige "Nihilisten", "ultrazentristische" und blanquistische Verschwörer am Werk sehen, phantasierende "Maximalisten". Seit dem November 1917 bagatellisierten oder dämonisierten Antikommunisten jeglicher Coleur die Machtübernahme durch die Arbeiter, Bauern und Soldaten. Dick und düster malten und malen sie die Rückständigkeit des zaristischen Rußlands, die von ihr vorgegebenen und die aus ihre Überwindug entstandenen Probleme des ersten sozialistischen Staates. Beharrlich redizierten und reduzieren sie den jahrzehntelangen einsamen, den zugespitzten und umfassenden inneren und äußeren, politischen, militärischen und ökonomischen Klassenkampf des Arbeiterstaats auf "stalinistischen Terror". Und so herschte im ihnen entgegen stehenden Lager, dem der Kommunisten und Freunde der Sowjetunion, lange Zeit die einfach entgegengesetzte Tendenz vor. "Wir wurden eine Art neue Kirche mit unseren Märtyrern und Propheten. Jahrelang war Moskau, wo unsere Träume begannen, Wirklichkeit zu werden, unse Rom. Wir sprachen von de Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, als wäre sie unsere Weihnacht." 2 Der November 1917 und die ihm folgenden revolutionären Großtaten des sowjetischen Volkes wurden sterilisiert und steril kanonisiert, die überkommenen und selbst geschaffenen Probleme des Landes wurden bagatellisiert und schamanischer Eifer belegte Gestalten und Jahre, Jahrzehnte sowjetischer Entwicklung mit strengen Tabus. Daß das bürgerliche lager solcherart unablässig den Bart der Bischofsfrau beschwor, während sich das proletarisch-kommunistische Lager auf eben diesen Bart einzuschwören suchte, wurde nicht zuletzt dadurch begünstigt, daß die kommunistische Weltbewegung ihre Identität seit den zwanziger Jahren im Leninismus zu finden suchte. Daß die Fortführung und Erneuerungdes Marxschen Denkens unter den Bedingungen des imperialistisch entwickelten Kapitalismus und seine Geltendmachung in den Revolutionen des 20. Jahrhunderts und im sozialistischen Aufbau eng und untrennbar mit der theoretischen und praktischen Arbeit Wladimir Iljitsch Lenins verbunden ist, scheint mir ganz unbestreitbar. Die ihm zeitgenössische Entwicklung des Marxismus etwa durch Rosa Luxemburg, wie die ihm folgende, etwa durch Antonio Gramsci und viele andere, hatte und hat immer das Werk unddie Person Lenins im Zentrum - allerdings ebenso oft im Gegensatz wie in der Einheit, in der Präzisierung wie Akzentsetzung usw. Eines der bekanntesten und bewährtesten Prinzipien Leninscher Weltanschauung war, daß die Wahrheit immer konkret sei, und dieses Prinzip kann nicht ausgeklammert werden, wenn es um das Verständnis und um die Geschichte des Leninismus geht. Es verlangt die einfache Feststellung, daß der Begriff des Leninismus -mir drängt sich auf: natürlich - keine Leninsche Schöpfung war, sondern im ideologischen Kampf um das Leninsche erbe geprägt wurde. Der Leninismus-Begriff ist bereits objektiv eine problematische Bildung. Er vertiefte den Eindruck, der Marxismus sei als System zu verstehen, das nach einem bestimmten Zeitpunkt, jenseits eines bestimmten Satzes die fertige Basis eines neuen, moderneren Systems sei. War die Errichtung, Behauptung und Entwicklung der Sowjetmacht doch tatächlich und zuerst die eingelöste Selbstverpflichtung der Marxschen Philosophie, sich in der Praxis als richtig zu erweisen und "die Welt zu verändern", so legte der neue Begriff nahe, eine neue Ausprägung dieser Weltanschauung präge eine neue Wirklichkeit und umgekehrt. Zuletzt, aber nicht als letztes wurde de theoretische und praktisch-politische Fortschritt im Marxismus durch den Leninismus-Begriff unzulässig unpraktisch personalisiert; die "Bolschewisierung" genannte Aneignung des Leninismus durch die Parteien der Kommunistischen Internationale nationaliserte ihn zugleich. Subjektive Problematik gewann der Leninismus-Begriff dadurch, daß er in der KPdSU und in der Komintern sehr rasch in seiner Stalinschen Bestimmung eingebürgert wurde, so daß in ihm Richtiges und Falsches, Vereinfachtes und Irriges enthalten blieben und fortentwickelt wurden. Neben der populären darstellung wichtuigier Elemente des Leninschen Denkens und Wirkens ist Stalins definierenden Vorlesungen "Über die Grundlagen des Leninismus" anzumerken, daß die weltanschauliche Bedeutung des Leninismus zu einem einzigen Aphorismus reduziert ist, daß bewußt - aus didaktischen Gründen wohl - auf die Wurzeln des Leninismus in der Weltanschauung von Karl Marx und Friedrich Engels nicht eingegangen wird, und daß die Stalinschen Themen und Schablonen auch richtige Darstellungen beschädigen. 3
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