Außerordentliche Kommission

Bis zur Grundausbildung hatte ich nur geglaubt, daß niemand unserem Staat Böses wollte. Seitdem wußte ich, daß ich recht hatte. Wirklich gefährlich konnte dem Staat nur werden, daß er selbst ein paar schlecht aktualisierte Witze oder vorsätzlich schief getöpferte Schmalznäpfchen, biblisch kraftlose Sprüche oder "Tragt-die-Kröten-über-die-Straße"-Schilder als feindliche Herausforderung ernst nahm. Weil wir aber, wie es in diesen Zusammenhängen immer auch hieß, zugweise eine Art Elitetruppe sein sollten und über all das nur vertraulich informiert wurden, war noch Hoffnung. Vielleicht erfuhr das mit dem Politbüro nur mit arbeitende Volk ja nie, daß es die mächtig nervenden Greise längst an der Gurgel hielt. Es war mit dieser Diktatur wie mit dem Bullen, der einen Bankräuber gefangen hatte: er konnte ihn nicht zum Einsatzfahrzeug bringen, weil der Bankräuber ihn festhielt. Oder anders gesagt: irgendwann in ihrem alten Spiel war die Maus in Ohnmacht gefallen, und nun zitterte die Katze vor der hinterhältigen List und dem jeden Augenblick fälligen Generalangriff der Maus.

Freilich waren das meine Gedanken. Wir sprachen in keinem Polit-Unter-
richt, in keinem Manöver-Graben und in keiner Stube darüber. Die meisten hatten wohl nur so ein ähnliches Gefühl, und das Sicherheitsrisiko jener Jahre war schon ich. Sie hätten mich eben nicht mehr einberufen sollen, nach fünf Semestern Kulturwissenschaft. Sie hätten mich besser überhaupt nicht einberufen sollen.

Schon Farbe, Stoff und Schnitt der Uniformen mißfielen mir, und den Gesellschaftsspielen der Ausbilder und Genossen konnte ich damals auch nichts abgewinnen. (Vor einem Gestiefelten zu knien und mit der Zahnbürste ein versifftes Bad zu putzen, oder zu wissen, daß einem die Meute im Nebenraum den beim Übungs-Einsatz abgezweigten Gummiknüppel bestimmt nicht über den Nüschel hauen würde, kann durchaus eine aufregende Sache sein, unter frei gewählten Umständen.) Und vom Italiener oder Griechen ganz abgesehen: wir konnten uns nicht einmal die Zeit aussuchen, zu der wir Essen gehen wollten, und wer keine Verlobte vor dem großen Tor hatte, war drei Jahre lang bei jedem Freigang auf Mädchen mit dem IQ der täglichen Vorgesetzten angewiesen. Daß uns das trotzdem einmal, genau wie den Stalingrad-Veteranen, unsere schönste Zeit scheinen würde, ließ ich mir bei keinem Bier einreden, und damit behielt ich schließlich recht. Die arglos steifen grauen Männchen vor den Besucher-Eingängen der Ministerien, die wir meistens waren, dürfen bis heute nicht den öffentlichen Dienst von Toiletten-Wächtern versehen.

Vor jenem Singeklub-Auftritt zum 23. Februar und auch in den Wochen danach hatte es keinen Tag unter der Fahne gegeben, der kein verlorener gewesen war, und so lag es einfach nahe, gleich noch ein Vierteljahr abzugeben und das dritte Studienjahr neu zu beginnen. In der allgemeinen Urlaubszeit freuten sie sich in der Lehr-LPG über jede Aushilfe, und das zwischen den Schweinen zu verdienende Geld war auch schon so gut wie ausgegeben.

Thorsten brauchte jeden Friedrich Engels, selbst bei den damaligen Mieten. Bevor ich eingerückt war, hatte er die ehemalige Fabrikanten-Wohnung im Zentrum als Maler-Student bewohnt, und inzwischen hauste er als Diplom-
Maler darin und lehnte schon die dritte Schicht unverkäuflicher Bilder an die Wand. Wir waren auch Freunde gewesen, vor dieser Unterbrechung, aber das blau gebundene "Sonnenpferde"-Buch mit Biermanns Julian-Grimau-Lied hatte ich nun einmal nur bei ihm gelesen, und nicht ich hatte der Stasi davon erzählt.

"Klar kennst Du Biermann, Genosse", wußte der anwesende Zivilist trotzdem, und er brummte leise: "...lebt Julian Grimau bei uns. Er lebt und ist doch tot."

Übel nahm ich das Thorsten nicht. Einmal hatte ich in dieser Lyrik-Diskussion beim Polit-Offizier selber so freimütig geplaudert, daß Lutz von der Singe-Bühne abgelöst worden war, und zweitens waren mir nur die Frauen meiner Freunde Heilige. Nach diesem kleinen Verrat aber, träumte ich beim Mist-Karren, würde ich schon am Abend nach der Wieder-Immatrikulation mit Gundula irgendwo zwischen Thorstens Bildern herumliegen, vielleicht auch in ihrer Studio-Wohnung mit dem unheizbaren, feuchten Zimmer. Im vierten Anlauf war auch Gundula an die Kunsthochschule gekommen, in die Foto-Klasse, und warum, war mir ja nun klarer. Auch den besten Grund, ihre Fotos zu loben, hatte ich. Sie war so herrlich schlank, weil sie ihre Aktmodelle mit Magarine bestrich und mit Kakao bestäubte, und sie kriegte jede Menge Philosophie- und Journalistik-Studentinnen dazu, das mitzumachen. Nachdem ich Thorsten die hundert Mark Kredit gewährt und eine halbe Flasche Wodka in den ausgehungerten Magen genötigt hatte, erfuhr ich im Treppenhaus tatsächlich, wie Gundula ihre Modelle warb, war ich eins davon und wild entschlossen, in jeder Beziehung ihr Meisterschüler zu werden. Diese Perspektive oder die Aussicht, in zwei Jahren als Kulturhausleiter nach Doberlug-Kirchhain vermittelt zu werden, konnte man schließlich keine reale Alternative nennen.

Zwei Tage später rissen mich zwei Talentsucher der Nationalmannschaft im Schwergewichts-Boxen aus Gundulas Händen und Mund, löschten mit meinem nackten Hintern die Altarkerzen um das Studio-Bett und zogen mir einen dicht gewebten schwarzen Stoffsack an. Nur für den Kopf war das ungewöhnliche Kleidungsstück eher reichlich bemessen. Es wurde mit einem Halsband getragen und durch eine Handschelle zum Ensemble komplettiert und war eine effektive Abendgarderobe. Steckte man einmal drin, ging man gern und schnell zu dem Auto, das einen zu der geplanten Party fahren sollte. Daß Gundula geschrien und dann gewimmert hatte, war nicht unbedingt der Gegenbeweis, aber irgendwie traute ich Thorsten weder die Organisation noch die Finanzierung eines Mafia-Mordes zu. Daß die drei Jahre Belehrungen über nur scheinbar harmlose alte West-Tanten nicht übertrieben waren, wäre eine andere rationale Erklärung gewesen. Dann wollten meine unbekannten Neffen erfahren, wo im Gebäude des Zentralkomitees die Politbüro-Toilette lag und welche Pinkelschale der Generalsekretär vorzog, wollten sie an die Konstruktionspläne der Trabant-Jeeps oder fuhren sie mich zu einer illegalen Gehirnwasch-Anlage. Die Vorstellung, daß unsere Politniks nicht immer gelogen hatten, war mir unangenehm, aber sie wurde ein bißchen dadurch aufgewogen, daß sie mich für die richtig harten Sachen ja über die Grenze schaffen mußten. Hamburg sehn und sterben. Hamburg sehn, umgedreht werden und bei einem Attentat in Wandlitz sterben. Natürlich war alles das Unsinn, nur ich klemmte trotzdem nackt, blind und gefesselt zwischen den Schwergewichtlern, und nach den städtischen Kurven fuhr der Wagen auch noch autobahnschnell.

Biographische Skizze

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Kapitan Laila
Außerordentliche Komission
RSD 10
Unterkommen

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Yossif
Yunost
Kubanisch-Polnische Revolution
Laodse

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Sklaven-Marketing
Der Schleim
Musterung
Schwitzbäder
Die Grauen Grizzlys
Private Aufnahme

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IG Bettl und Brettl
Die Schwarze Göttin
Back on stage
Da unten
Und tiefer
Video Star

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Begutachtung
Campus
Samson

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Rushdie und die UCK
Internet
Safari
Circus Maximus

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Die Höhle der Wölfin
Auf der Flucht
Die Grotten von Gomorrha
Die Nordallianz

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