Die Idee, faul zu sein

Noch bevor die Pariser als viele Kommunisten berühmt wurden, war von dort ein ziemlich einsamer Kommunist nach London gefahren, ein Arzt. Er wollte in der englischen Hauptstadt den gefährlichsten aller Kommunisten überhaupt besuchen, unseren Charly. Er klingelte, aber kein bewaffneter Arbeiter, sondern ein dickliches Dienstmädchen machte die Tür auf und sah ihn erst einmal von oben bis unten an.

„Wenigstens mal einer in ordentlichen Klamotten“, brummelte sie. „Also gut, kommen Sie rein! Aber der Boss ist im Moment nicht zu sprechen. Da müssen Sie warten!“ Sie zeigte dem Besucher einen teuren Stuhl mit abgeschabtem Polster, der unter einer Palme aus Pappe stand.

Da saß der junge Mann eine Weile, und endlich kam aus einer Tür ein großer Mann mit fein gekämmten Haaren und ordentlich beschnittenem Vollbart.

„Herr Doktor Marx“, sagte der französische Besucher höflich. „Ich freue mich, Sie...“

Der Mann schüttelte den Kopf, legte mahnend den Finger an die Lippen und nahm seinen Mantel vom Garderobenhaken. In demselben Zimmer war noch eine große, ältere Frau gewesen, die nun in den Korridor schlich.

„Wilhelm, Wilhelm“, flüsterte sie ärgerlich. „Wieder hast du im Schach gewonnen! Nun wird er wieder den ganzen Tag schlechte Laune haben...“

Noch einmal öffnete sich die Tür, aber nun schlich Charlys Gärtner durch die Wohnung: klein, krumm und ungekämmt, und auch eine billige, furchtbar stinkende Zigarre rauchte er. Der Gast aus Frankreich fand, daß es kein besonderes Kunststück sein würde, gegen den im Schach zu gewinnen.

Außerdem gab es in der Wohnung noch ein albern kicherndes Mädchen, das immer wieder Teegläser aus einem Zimmer in das andere trug, um den neuen Besucher anzustarren: weil er jung war, schwarze Locken hatte und gut aussah.

„Was willst denn du“, fragte das Mädchen irgendwann. „Hoffentlich kein Geld! Haben wir nämlich selber nie welches...“

„Ich will den großen Lehrer aller Kommunisten besuchen“, sagte der Franzose und blinkerte die Kleine mit verliebten Augen an, „Herrn Doktor Karl Heinrich Marx. Ich habe ihm wichtige Fragen zu stellen und würde ihm gern ein paar eigene Gedanken bezüglich...“ Er machte eine Pause, weil wieder der häßliche Gärtner durch die Wohnung lief und ihn mürrisch ansah.

„Besuch für dich, Papa“, sagte das Mädchen. „Dem Akzent nach aus Frankreich... Also hör auf rumzustinken! Die haben schon ganz viele Revolutionen verloren, du bloß ein Schachspiel.“

Charly zog alten Schnupfen hoch und schnaufte, aber seinen Kindern konnte er nie böse sein, und was in Frankreich passierte, wollte er immer ganz genau wissen. Also bat er den Besucher in sein Arbeitszimmer und hörte ihm lange zu.

Der französische Kommunist erzählte vom Wetter in Paris und von vielen  Fragen, über die er mit seinen Freunden zankte, und hörte plötzlich zu reden auf.

„Was ist denn“ fragte Charly, schon wieder ärgerlich.

„Ja, wer hatte denn nun Recht?“

„Ja, wer denn“, fragte Charly. „Und woher soll ich das wissen? Vielleicht beide, vielleicht keiner... Ich war doch nicht dabei.“

„Beide oder keiner“, sagte der Besucher. „Aber das geht doch nicht, verehrter Herr Doktor Marx! Nur einer von uns kann Sie richtig verstanden haben, verehrter Herr Doktor Marx... Nur einer kann Ihr wirklicher Schüler sein: Marxist, wie man bei uns zu sagen pflegt.“

„Sagt man so“, fragte Charly, zündete die nächste Zigarre an und blies Rauchringe. Das sah so aus, als überlege er das Problem, aber tatsächlich genoß er das Wort. Als er jung war, hatten viele Philosophen „Hegelianer“ sein wollen, und Charly hatte immer von möglichst vielen „Marxia­nern“ geträumt. Marxist war aber ein genauso schönes Wort, und noch besser gefiel ihm, daß junge Männer darum stritten, es zu sein.   

„Ich denke“, sagte der Besucher viel zu früh, „daß meine Auffassungen die marxistischen sind... Aber was meinen Sie, verehrter Herr Doktor Marx?“

Daß er an Hegel gedacht hatte, brachte Charly auf einen phantastischen Gedanken. Er stand aus seinem Schreibtisch-Stuhl auf, steckte dem Besucher eine Zigarre in den Mund und zündete sie gleich noch an.

„Tja... Alles was ich dazu sagen kann, junger Mann“, sagte Charly, „ist, daß ich jedenfalls kein Marxist bin.“

Der Gast aus Frankreich verschluckte sich an der unerwarteten Auskunft oder am ungewohnten Zigarrenrauch, und er hustete noch, als Charly schon wieder über sein Schreibheft gebeugt saß und in der Sauklaue kritzelte, die nur er und Fritze lesen konnten.

„Und was waren Ihre Gedanken bezüglich...?“

„Mir... Mir scheint...“ Der Mann hustete so, daß er Tränen in den Augen hatte, und nun war es ihm egal, ob er diesen gemeinen, ungekämmten Gärtnerzwerg ganz und gar verärgerte. „Sie... Sie müssen sich irren, Marx! Wenn Arbeit etwas so dolles wäre, dann würden die Reichen die für sich behalten und sie nicht den Armen geben... So!“

Charly holte Luft, als wolle er Tochter, Frau und Dienstmädchen hereinbrüllen, damit sie diesen frechen Besucher rausschmissen, und dann lachte er, bis er selber Tränen in den Augen hatte.

„Und das Ideal kann nicht eine Gesellschaft sein, in der alle Arbeit haben und arbeiten müssen“, rief der junge Franzose verzweifelt. „Vielmehr müssen nicht nur die Reichen, sondern alle faul sein dürfen...“

Charly lachte, als hätte er nicht am selben Nachmittag gegen den deutschen Kommunisten Wilhelm Liebknecht im Schach verloren. Er lachte, wie er es erst vorgehabt hatte, wenn „Das Kapital“ einmal fertig sein würde. Japsend ließ er sich von seinem Besucher den Namen sagen, der komischerweise „Lafargue“ war, und lachend lud er ihn für den Sonntag zum Tee- und Rotweintrinken mit Fritze ein. Auch dabei sagte er Paul Lafargue nicht, was richtiger Marxismus und wer Marxist war, aber auch als strenger Vater erlaubte er dem albern kichernden Mädchen später, diesen ulkigen Revolutionär zu heiraten: Ideen hatte der!

 

Charly

Charlys Frühstücks-Idee

Von den Philosophen
Womit die Philosophen ihre Mäntel verdienen
Ob der Mensch nur ein zu großes Hähnchen ist
Warum die Athener den Philosophen Sokrates umbrachten
Platon und der Tyranno
Wie Platon frühstückte

Die Idee von der ordentlichen Unordnung

Fritze in Berlin
Der Philosoph mit den drei Vornamen
Hegels Kinder
Wie Charly und Fritze Freunde wurden
Was Charly und Fritze an Hegel so sehr gefiel
Von den Gesetzen
Ein Gesetz über den Holzdiebstahl
Was Charly und Fritze beim Bier einfiel

Die Gespenstergeschichte

Der Kommunismus
Wann und warum das große Teeglas überläuft
Caesar und die Kaiser
Der neue Caesar - das Geld
Aber... Aber?
Wo das Gespenst blieb

Die Idee vom Backstubenwunder

Von dummen Ideen in schlauen Köpfen
Wie man durch das Tauschen leben und reich werden kann. Oder nicht.
Einfache Merksätze über den Reichtum
Schaufensterbummel
Das Backstubenwunder
Der Mörder ist immer... der Bäcker!

Die Idee, unsterblich zu werden

Andere Köpfe mit anderen Ideen
Bakunin, der Grizzly
100 Tage Frühling
Die Idee, faul zu sein
... und kein Ende ...