...und kein Ende...

Ähnlich komisch ging es mit Charlys Ideen immer zu: bevor er starb, und erst recht danach.

In Deutschland zum Beispiel. Dort hatte man nach dem Sieg über Frankreich einen Bestimmer-Kaiser und viel Geld, um Eisenbahnen und riesige Betriebe zu bauen, und der Kaiser-Berater Bismarck benutzte einen kleinen Teil des Geldes, um für die Arbeiter eine Versicherung aufzubauen.

Wenn eine Maschine einem Arbeiter den Arm abriß, schmiß ihn der Fabrikbesitzer zwar auch dann noch raus, aber der Einarmige konnte auf Staatskosten zum Arzt gehen und bekam jede Woche ein bißchen Geld für trockne Brötchen.

Das, hoffte Bismarck, würde den Arbeitern zeigen, daß sie nicht Kommunisten werden mußten, und weil ja nun er sich um die Arbeiter kümmerte, verbot er deren Partei, die damals „Sozialdemokratische“ hieß. Keine ihrer Zeitungen durfte erscheinen, und wer trotzdem Parteiversammlungen organisierte, konnte mit der ganzen Familie über Nacht aus einer Stadt in eine andere verschickt werden. Nie sollten die in Deutschland eine Kommune versuchen dürfen...    

Wilhelm Liebkecht, der im Schach gegen Charly gewonnen hatte, und August Bebel, den Charly immer den „Dummen August“ nannte, versuchten das aber auch gar nicht.

Immer, wenn Wahlen waren, meldeten sie sich als Kandidaten an, und die Arbeiter wählten die beiden in den gesetzgebenden Reichstag. Und beim nächsten Mal noch den und jenen ihrer Bekannten... Und die durch die Städte verscheuchten Arbeiter erzählten in jeder neuen Stadt, wer bei der nächsten Wahl unbedingt gewählt werden müßte. Man ging nicht in Parteiversammlungen, um dort über den Marxismus zu reden, sondern in Kneipen, um Bier zu trinken und  dazu Volkslieder zu singen... Am Ende saßen jede Menge Sozialdemokraten im Reichstag, ganz nahe bei Bismarck, und er mußte ihrer Partei wieder zu arbeiten erlauben. 

Fritze, der noch vierzehn Jahre länger als Charly lebte, rechnete manchmal schon aus, wann in den europäischen Parlamenten soviele Sozialdemokraten sitzen würden, daß sie den Kommunismus ohne Gewehre, nur in einer Abstimmung über Gesetze einführen könnten...

Dann aber hatten sich die Reichen der großen europäischen Länder so sehr über die Aufteilung Afrikas und Asiens zerstritten, daß sie den „Ersten Weltkrieg“ begannen. Die Sozialdemokraten in allen Ländern hatten sich zwar versprochen, daß in so einem Fall jeder seine Regierung absetzte, aber als es soweit war, ließen sich die meisten von diesen Regierungen bequatschen: wenn sie in den Krieg gegen die anderen ziehen würden, seien sie keine gefährlichen Umstürzler mehr, sondern gute, brave Staatsbürger...

Die einzigen, die das nicht mitmachten, waren ganz wenige sozialdemokratische Grizzlys in Bakunins Rußland. Die behaupteten stur, ihr größter Feind sei nicht irgendein deutscher Arbeiter, sondern der eigene Zar, und alle beschimpften und verprügelten sie... Solange, bis der Zar und seine Generale anfingen, den Krieg zu verlieren... Da erinnerten sich die russischen Arbeiter, Bauern und Soldaten an diese wenigen, fragten sie, was sie nun machen sollten, und sie fingen tatsächlich ihre Kommune an... 

Siebzig Jahre lang hieß es danach in Rußland und nach einem zweiten Weltkrieg in vielen Ländern der ganzen Welt, dort würde mit dem Marxismus regiert. Die Reichen in diesen Ländern waren vor der Kommune "in den Westen" geflohen, und die Arbeiter suchten sich neue Chefs aus: manchmal einen aus ihrer Fabrikhalle, manchmal einen Ingenieur und später Leute, die sie zum Studieren geschickt hatten. Das fanden sie auch ganz prima, am Anfang. Die neuen Chefs schmissen zum Beispiel keinen kranken, aber auch keinen faulen Arbeiter aus der Fabrik raus. Statt des Backstubenwunders wurde ein Verteilungswunder erfunden: alles Geld, das mit Gebackenem verdient wurde, kam in einen großen Topf, und aus dem wurde dann bezahlt, was gebraucht wurde. Das Geld für die Arbeiter, das Geld für die Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser. Das Geld für die Armee, die diese Kommune verteidigen sollte, und das Geld für neue Maschi... Also für Maschinen reichte das Geld dann nicht mehr, wenn die im Westen, bei den Reichen, gekauft werden mußten. Darum wurden die alten Maschinen immer wieder repariert, und das ging ja auch: nur daß das Produzierte irgendwann ein bißchen zu alt aussah. Und um für alle Bananen zu kaufen, reichte das Geld auch nicht immer. Und später immer weniger.

"Aber das macht nichts", sagten die marxistischen Regierungen. "Dafür hat bei uns jeder Arbeit, dafür gibt es Kindergärten, Schulen und Tabletten umsonst. Hier hat eben der Sozialismus (wie man den gerade machbaren Kommunismus nannte) gesiegt: endgültig und unumkehrbar. Für immer und ewig...“

Ganz klar, wie das ausging: „für immer“ heißt nach Hegel und Charly ja nur „bis eben“, und so machten die Arbeiter in diesen Ländern vor über zehn Jahren sehr komische Revolutionen gegen diese komischen Regierungs-Marxisten. 

Sie gaben den zurückkommenden Reichen die Fabriken zurück, und die stellten da neue Maschinen rein, die lauter neu aussehende Dinge machten. Allerdings brauchten die Fabrikbesitzer dank der neuen Maschinen viel weniger Arbeiter, und deshalb schmissen sie die nicht gebrauchten Arbeiter raus. Zuerst die Frauen. Und die können nun ganz prima auf ihre Kinder aufpassen, weil für Kindergärten und Schulen weniger Geld da ist, seit sich die Fabriken wieder für ihre reichen Besitzer lohnen müssen. Und so weiter... Das hatten sich die Arbeiter zwar nicht so gedacht, aber Bananen gibt es jetzt wenigstens immer, und das ist ja nicht schlecht.

Damit war es fast allen klar und stand es wieder mal in allen großen Zeitungen, daß das Gespenst des Kommunismus nun für immer vertrieben ist. In Amerika schrieb ein Professor gleich ein ganz wichtiges Buch: „Die Geschichte ist zu Ende!“ Kein Staat müsse sich mehr darum kümmern, wie es seinen Armen gehe, und ein Fabrikbesitzer erst recht nicht. Wer Geld hat, hat auch Recht, und wer arbeiten muß oder nicht mal Arbeit hat, hat halt Pech...

Nicht einmal die klein gewordenen kommunistischen Parteien wollten nun länger etwas von Charly und Charly`s Ideen wissen: nicht in Rußland, nicht in Deutschland. Bestenfalls gutmütige Witze machte man dort noch über Charly, und ich, ich fing mit diesem Buch an. Ganz sicher war ich, daß irgendwann wieder jemand anfangen würde, sich für diese Ideen zu interessieren. „Alles, was ist, ist vernünftig, und was vernünftig ist, muß und wird sein...“

Wann ich dann Neujahr 1994 aufgestanden bin, weiß ich nicht mehr, und nicht, wann ich an diesem Tag Nachrichten hörte. Vielleicht erzählten sie das ja auch erst am 2. Januar im Radio...

Aber am 1. Januar 1994 kamen aus einem Urwald in Mexiko ein paar Indianer hervor, beinahe so, wie Indianer seit fünfhundert Jahren in die Kirche, zur Arbeitsverteilung oder in die Kneipe gehen: langsam, stumm und klein.

Allerdings hatten sie diesmal nicht irgendwelche Filmfedern auf den Köpfen, sondern gestrickte Masken über den Gesichtern, und  sie wollten den Bürgermeistern der kleinen Städte auch nicht irgendwelche Bitten vortragen. Sie hatten alte Gewehre dabei, und so liefen sie vor den Fernsehkameras und Fotoapparaten herum, und plötzlich wollte man in Nordamerika und Europa zum ersten Mal seit fünfhundert Jahren, seit dem Besuch von Christoph Kolumbus, hören, was sie zu sagen hatten. Und einer von ihnen, der gar kein Indianer war und in seine Maske ein Loch für die Tabakspfeife geschnitten hatte, übersetzte, was die Indianer sagen wollten: YA BASTA! Das heißt auf Spanisch: „Uns reicht es! Jetzt ist es wirklich genug!“

Zwei Tage später kam die mexikanische Armee mit Flugzeugen, Panzern und tausenden Soldaten, und die Offiziere verlangten von den Indianer-Bauern, daß sie sich ergeben müßten. Die ganze Welt, sogar die Kommunisten, hätte sich ja schon vor dem Kapital ergeben.

Da gingen die Indianer in den Gummi- und Kaffee- und Bananen-Urwald zurück und setzten sich in die große Hütte, in der sie schon vor Kolumbus alle wichtigen Fragen beraten hatten. Kopfschüttelnd überlegten sie, und sie fanden in der Sprache keines Stammes ein Wort, das paßte. „Arbeiten“ gab es, „faulenzen“ natürlich auch. Lachen, weinen, Kinder kriegen, sterben... Aber was sollte das sein: „sich ergeben“?

Nach zwei Stunden ging ein alter Indianer zu dem Übersetzer mit der Tabakspfeife und sagte: „Tja, was sie in der übrigen Welt machen, ist wohl ihre Sache... Aber wir, wir können doch nicht machen, wofür wir noch nicht mal ein Wort haben! Darum werden wir uns nicht ergeben, sondern einfach Kaffee trinken.“

Und diese Idee gefiel dem Übersetzer so wie sie mir gefällt, und Charly, der hätte sie bestimmt als seine eigene aufgeschrieben: als die Nachmittags-Idee, sozusagen.

Charly

Charlys Frühstücks-Idee

Von den Philosophen
Womit die Philosophen ihre Mäntel verdienen
Ob der Mensch nur ein zu großes Hähnchen ist
Warum die Athener den Philosophen Sokrates umbrachten
Platon und der Tyranno
Wie Platon frühstückte

Die Idee von der ordentlichen Unordnung

Fritze in Berlin
Der Philosoph mit den drei Vornamen
Hegels Kinder
Wie Charly und Fritze Freunde wurden
Was Charly und Fritze an Hegel so sehr gefiel
Von den Gesetzen
Ein Gesetz über den Holzdiebstahl
Was Charly und Fritze beim Bier einfiel

Die Gespenstergeschichte

Der Kommunismus
Wann und warum das große Teeglas überläuft
Caesar und die Kaiser
Der neue Caesar - das Geld
Aber... Aber?
Wo das Gespenst blieb

Die Idee vom Backstubenwunder

Von dummen Ideen in schlauen Köpfen
Wie man durch das Tauschen leben und reich werden kann. Oder nicht.
Einfache Merksätze über den Reichtum
Schaufensterbummel
Das Backstubenwunder
Der Mörder ist immer... der Bäcker!

Die Idee, unsterblich zu werden

Andere Köpfe mit anderen Ideen
Bakunin, der Grizzly
100 Tage Frühling
Die Idee, faul zu sein
... und kein Ende ...