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Die deutsche IdeologieWie so viele Brecht-Gedichte war auch dieses umwerfend, obwohl immer nur zwei Zeilen zueinander passten. Streng betrachtet sah das lyrische Ich lange eine Wolke, die nur Minuten blühte, und sie blühte von oben her. Das sollte im Sommerhimmel des Augsburger Septembers passiert sein, und selbst die schon damals anachronistisch romantischen Worte „Mond“ und „hold“ konnten eigentlich niemanden über die pubertäre Verzweiflung und Wut des achtzehnjährigen Eugen Berthold Friedrich täuschen: weil er Marie Rose Aman nie wirklich umarmt und geküsst hatte, redete er von einer eingebildeten Wolke und von Pflaumenbäumen, das geniale Ferkel. Rainer machte das Gedicht zum Thema der Stunde vor dem Dienstag-Abendbrot, um mit schamanischer List vaterschänderische Gefühle und Gedanken zu besprechen, die mich gar nicht quälten. Weil mir vom Bier schlecht gewesen war, hatte ich am Vormittag gleich noch mit dem Rauchen angefangen, und im allgemeinen Gähnen bis zum Augen Zukneifen war unser besonderes Abenteuer unbemerkt und allein meine mathematische Ungleichung geblieben: Mein drittes Männliches und erster Mann war kleiner als drei Mal so alt wie ich, und das mal X Bier genommen, ergab eine vielleicht sagenhafte Potenz von null Erinnerung, wenn ich meinen Mond-Zyklus richtig im Kopf hatte. Für den Rest der Woche wusste ich nun, was ich eigentlich nicht brauchte, und ich träumte am nachgebauten Theater und in der falschen Grotte von Sonnenuntergängen im Süden und setzte mich dann still an den Rand der erstbesten späten Diskussionsrunde. Für die Nächte lieh ich mir die Beweisbücher der jeweiligen Großsprecher, und deshalb nickte ich in den Vormittags-Seminaren müde zu Versen, die schon gedruckt oder doch zum Druck vorgesehen waren. Ich war eben klein und offiziell noch rein, und so nahm mich der Kultursekretär der FDJ-Bezirksleitung in die von ihm gehütete Delegation auf, die dadurch bei der Sonnabend-Lesung zu einer Preisträgerin kam. „Versaufe die hundert Mark nicht“, sagte Rainer bei der Umarmung auf der Bühne des Festsaals. „Und noch viele Fehler wünsche ich dir! Die Regeln stellt nämlich der Durchschnitt auf, und du musst sie nur kennen. Einhalten nie…“ Er schob mich vor eine rundliche Kollegin Seminarleiterin, die mir eine weiblichere Stimme wünschte, und am Ende der Reihe bekam ich einen schweren, aber nachlässigen Händedruck vom Gesandten des Zentralrats der FDJ und Kandidaten des Zentralkomitees der SED, den Blumenstrauß und die blaue Kunstledermappe mit der Urkunde und dem Prämien-Briefumschlag. Von meinem ersten Preisgeld kaufte ich unter anderem eine Schallplatte, auf der auch noch ein Künstler Balladen des wegen Diebstahls und Totschlags vorbestraften NSW-Autors François Villon rezitierte und sang. Auf die Art nörgelte mein Vater, und meine Mutter warnte mich junges Talent sehr abstrakt vor dem, was ich ganz konkret hinter mir hatte, aber im Grunde waren sie wohl stolz und zufrieden. So wenig vergleichbar die Bereiche waren, war meine Urkunde etwa das gleiche wie Margits Spartakiade-Bronze, und nach der Bezirkszeitung mit zwei Gedichten und drei Interview-Sätzen versuchte sogar meine Klassenleiterin Frau Barth eine Weile, mich zu mögen: vielleicht würde ich ja nun Deutsch- und Staatsbürgerkunde-Lehrerin werden wollen. Wie für kleine Kartoffeln, Braunkohle-Abraum und Olympiasieger gab es damals auch für die Produktion von Pädagogen Planauflagen, und auf diese Weise versuchten unsere Pauker eben, sie einzuhalten. Sie stellten den überfragten Studienplätzen für die Wissenschaften den großen Bedarf an ihrer schulischen Lehre gegenüber, und sie sprachen dazu vom Beispiel ihrer eigenen Einsicht in die gesellschaftliche Notwendigkeit, als kinderführende Sklaven. Das bedeutete dieses Wort schließlich – eine Einsicht, die mich wohl zur Griechisch-Lehrerin prädestiniert hätte, hätte ich mir in Geschichte nicht noch Calvin gemerkt und beim Blättern in der Stadtbibliothek leicht ergänzt. Wenn ich in die Prädestinations-Auffassung statt Gott die gesellschaftlichen Verhältnisse einsetzte, sprang ich ja zu dem Punkt, dass die Kernphysik entwickelt worden war, um mir ihr Studium zu ermöglichen, und Frau Barth musste diese Notwendigkeit nur noch einsehen, um sich von ihrem Bekehrungseifer zu befreien. Aus einem sehr praktisch-persönlichen Grund nahm ich also auch noch die Philosophie unter meine Hobbies auf, zumal ja auch Heine und Brecht bedeutende weltanschauliche Schriftsteller gewesen waren. Und Einstein! Wer sich in den Gleichschritt kommandieren lasse, habe das Wunder eines großen Gehirns ganz zu Unrecht empfangen… So ein Satz passte nicht recht zum Lehrer-Terror gegen die Jungen, die alle Offiziere der Nationalen Volksarmee werden sollten, und etwas merkwürdig fand ich schon, dass alle Philosophie der Welt gerade auf die Begründung meines Berufswunschs hinaus lief, aber das wollte ich ja mit meinen Studien ergründen. Beim Rückblick erstaunt mich selbst, was ich damals für zu schaffen hielt und zumindest anfing, denn außer zur Schule musste ich ja auch noch zu den Mitgliederversammlungen und Lehrjahrs-Veranstaltungen der Freien Deutschen Jugend. Wir aßen um 18.30 Uhr im Familienkreis Abendbrot, und nach dem Sex im Schloss fielen mir langsam die Federn des hässlichen Entleins aus, und ich schwitzte wahrscheinlich ziemliche Wolken von Pheromonen. Die waren damals noch kein bevorzugtes Forschungs- und Medienthema; das zu ihrer Wahrnehmung nötige vomeronasale Organ wurde, nachdem es schon Generationen von Hamster-Männchen experimentell amputiert worden war, beim Menschen erst in den neunziger Jahren nachgewiesen. Mein Internet weiß das genauer und promotet damit angeblich verführerische Parfüms, aber als dicht umlagerte Pheromon-Quelle war ich zum Glück selbst so ein Hamster, den vor allem die Vernunft steuerte: Unverteidigte Blusenknöpfe reduzierten die Dauer von Belagerungen, die Kopulin-Sucht der unglücklichsten Mitschüler war schon mit einem Quicky zu therapieren, und während die erregten und die befriedigten Hengstfohlen um einen Platz in meiner Nähe kämpften, konnte ich abseits Heine, Marx und Brecht lesen und Gedichte schreiben. Fast mein ganzes bisheriges Leben lang schob ich es auf die namenlose Mohrrübe und Rainer, dass der Einsatz der Geschlechtsorgane für mich nie mit Liebe zu tun hatte, und unverliebt musste ich mir ja auch nie Gedanken über Kinder machen, die ich nicht empfangen und schon gar nicht austragen wollte. Erst hielt das nüchterne Kalkül, die Küken auch als gluckende Mutter nicht vor den selbst eingeweckten Atompilzen beschützen zu können, meine biologische Uhr an, später bewegte ich mich zwischen nur vorgeblich harmlosen Strahlendosen, und schließlich flog mir ja wegen meiner nie zustande gekommenen deutsch-sowjetischen Freundschaft Tschernobyl um die Ohren. In Bilibino erfuhr ich, warum die eigentlich großartigen und familienfreundlichen Tschuktschen ein so kleines Volk blieben, und in meinem zweiten Leben bewahrheitete sich einfach die Autofahrer-Weisheit, dass auf Hauptstraßen kein Gras wachsen konnte. Komplexer verstand ich diese Seite meines Lebens durch das Internet. So wirkt das Androstenon, das aus den Achseln geschwitzte Abbauprodukt des Testorerons, das die Attraktivität von Männern um (die wahrscheinlich über eine heterosexuelle Kopulation entscheidenden) 10 Prozent steigert, über die Arten und sogar über die Grenzen von Pflanzen- und Tierwelt hinweg. Französische Säue reagieren nämlich auf das Androstenon der Trüffel und suchen im Waldboden eigentlich ihren Sexualpartner, und genau so eine chemisch-erotische Beziehung hatte ich zwischen 16 und 26 eben zur Wissenschaft und Literatur, die die Feministinnen ja für so männlich wie jeden Erfolg halten, der von dieser Welt ist. Und zu vier Fünfteln begriff ich mich erst, als ich mich schon aus Monas Geburtstagsrunde verabschieden wollte und vom schwarzen Laser aus den Augen der Zigeuner-Hexe oder verirrten Eskimo-Schamanin getroffen wurde. Sie saß als Monas Nachbarin und wiederholte Lebensretterin in der Sofa-Ecke abseits, düster wie Dornröschens 13. Paten-Fee, die bei den Tellern natürlich nicht vergessen worden war. Nur von den schalen Scherzen des Smal-Talks hatte sie sich selbst ausgeschlossen, und ich beobachtete ein paar Minuten lang, dass sie ab und zu die Augen schloß und sich am Geschwätz berauschte. Ich nahm ihr ein Glas Sekt mit hinüber, und ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Sie trank mit kleinen Schlucken, stellte das leere Glas auf den Couchtisch, nahm vorsichtig meine linke Hand und drehte die Fläche nach oben. Die Linien zogen wieder die schwarzen Laser nach. „Sicher lerne ich bald meinen Traummann kennen“, fragte ich spöttisch. „Und der besitzt sicher jede Menge T-Aktien?“ „Ja... Wenn du das willst...“ „Und ich bekomme Lungenkrebs und sterbe früh?“ „So wie du rauchst, ist das ziemlich wahrscheinlich.“ „Und wahrscheinlich habe ich keine Liebeslinie da drin? Nur eine Sex-Schlucht…“ „Hör nicht auf“, sagte die Schamanin nach einiger Bedenkzeit. „Ich will noch mehr über dich wissen! Und dass das in deiner arg strapazierten Haut steht, das glaubst du doch nicht wirklich.“ Ich lachte. „Und warum willst du...“ Sie hielt mir ihre sehr schmale Linke vor das Gesicht und zeichnete mit dem rechten Zeigefinger die vielleicht vierzig Jahre alten Schicksals-Linien nach. „Ich zum Beispiel lebe lange und werde vielfache Großmutter. Kaum Geld... Und erst hier die Liebe, die dicke und wilde... Das ist heute, 23.18 Uhr.“ „Auf die Minute siehst du das?“ „Freilich.“ Sie drehte die Hand um, schob sie weiter aus dem Hemdsärmel und nickte gegen die Herren-Armbanduhr. „Viertel zwölf... Na, dann verziehe ich mich besser!“ „Barbara“, stellte sie sich vor und bog die Finger als eiserne Klammern um mein Handgelenk. „Und du verpasst doch nichts, wenn du noch solange wartest, oder?“ „Im Gegenteil... Und jeden Abend verlieben sich sowieso hundert, hundertzwanzig Leute in mich.“ Barbara nickte. Sie wusste, womit Mona und ich unser Geld verdienten, und mitten in der Mittelklassen-Midlife-Feier fragte sie sachlich wie im Interview für die Kreisseite einer Provinzzeitung, ob ich manchmal Sex mit Frauen hatte. Sie baggerte mich nicht an, und sie bot sich nicht an, aber ich starrte in ihr Gesicht, als hätte sie es getan. Bis auf die schmalen Lidstriche und die getuschten Wimpern war sie ungeschminkt, ihre Lippen waren breit, voll und blass, und nur der strenge Pony und die über den Ohren dressierten Haarfahnen verrieten, dass sie sich schon um einen attraktiven Eindruck sorgte. „Halb zwölf, an freien Abenden“, antwortete ich zu spät und um denselben Ton bemüht. Allerdings zitterte meine Stimme ein bisschen. Dass ihre gerade Nase mit einem Stups endete, fiel mir noch auf, bevor Barbaras Finger mein Handgelenk fester drückten und dann frei gaben. Meine Geliebte stand wortlos auf, umarmte auf dem Weg zur Tür die Geburtstags-Mona und hatte mich mit allem an eine ziemlich kurze Leine gelegt. Eine Zimmerbreite später verabschiedete auch ich mich, und ich kam noch in derselben Schaltphase des Hauslichts im Korridor an, vor den beiden bürgerlich hohen, aber ein wenig abgeschabten Türen. Zwanzig Jahre früher, von meiner Mutter und Frau Barth dressiert und von täglich frisch verliebten jungen Sozialistinnen umstellt, wäre ich bei einem Gedanken an so etwas wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen, und ich hätte von meiner noch wichtigeren Entdeckung wahrscheinlich nicht gerade an mein geiles Walross geschrieben. „Lieber Rainer! Mal was ganz und gar Unpoetisches: ’…andrerseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte… auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte, weil ferner nur mit dieser universellen Entwicklung der Produktivkräfte ein universeller Verkehr der Menschen gesetzt ist… Ohne dies könnte 1. der Kommunismus nur als eine Lokalität existieren, 2. die Mächte des Verkehrs selbst hätten sich als universelle, drum unerträgliche Machte nicht entwickeln können, sie wären heimisch-abergläubige Umstände geblieben, und 3. würde jede Erweiterung des Verkehrs den lokalen Kommunismus aufheben.’ Stimmt das noch?“ Auch die ersten vier der Marx-Engels-Werke hatte ich mir ja von meinem Literatur-Preis gekauft (was meinem Vater übrigens nicht besser gefallen hatte als die Verschwisterung mit Villon). Es gab an dieser Stelle auch eine Fußnote, die den Irrtum der Klassiker und die neuen Erkenntnisse Lenins vermerkte, aber ich bemerkte ja an jedem weiteren Schultag, wie uns das stonewashed-Blau der Levi’s und das dunkle „Wisent“-Blau in Klassen innerhalb einer Klasse teilte. Mir genügten meine Eisler-Platten und was ich im Radio an „Dummheit in der Musik“ hörte, aber auf der Höhe und im Taschengeld-Geschäft war nur, wer von der West-Oma geschickte oder in Ungarn gekaufte Schallplatten handeln konnte. Noch waren alle Großmütter auf einen „Trabant“ für die eben geborenen Enkel angemeldet, und selbst wo es keine um die „Goldene Hausnummer“ kämpfende Hausgemeinschaft gab, bildeten die Autorbesitzer eines Aufgangs wenigstens eine Reparatur-Gemeinschaft, aber „Wartburg“ und „Lada“ teilten unser el pueblo unido bereits, von den wenigen West-Importen einmal ganz abgesehen. Ich ärgerte mich ein bisschen, dass mir Rainer nur mit einem Brecht-Gedicht antwortete, von dem er wirklich annehmen durfte, dass ich es kannte: „Freunde, ein kräftiges Eingeständnis und ein kräftiges WENN NICHT!“ Aber diese Verärgerung war, genauer bedacht, ziemlich ungerecht. Immerhin war der Mann in seiner Wissenschaft, was mein Vater bei seiner Kriminalpolizei war, und ich wusste nicht einmal, ob er nicht ein Gedicht über den übertünchten Stuck an der ungeheuer drobenen Decke der Schweriner Fürstensuite in den künftigen Nachlass gesteckt hatte. Im Staatsbürgerkunde-Unterricht war meine viel vorsichtigere Erkundigung „Trotzkismus“, was uns vor allem beeindruckte, weil wir ja nicht einmal von Stalin eine hohe Meinung haben durften und Trotzki bei uns bis zur Wende eine völlig gespenstische Erscheinung blieb. Nicht einmal auf ein und demselben Foto mit ihm hatte Lenin zu sehen sein wollen, wie ich beim Blättern in den dicken Bänden der „Geschichte der KPdSU“ feststellte, und während seine falschen und verderblichen Prophezeiungen in der Bibliothek fehlten oder zumindest gut verschlossen waren, bekam ich einen dicken Band mit dem Protokoll des Prozesses gegen die trotzkistisch-bucharinistischen Scheusale einfach ausgehändigt. In der Hochzeit des Dogmatismus war die Übersetzung durch Heinz Neumann sicher kongenial gewesen, so dass die Veranstaltung als die Geburtsstunde des absurden Theaters gewertet werden durfte und der Grund für die baldige Erschießung des Dolmetschers woanders zu suchen war. Wie eine verschworene Enkel-Bande der Trotzki-Entführer machten es mir die Lehrer, Bibliothekare und Verleger nicht einfach, zu halbwegs vernünftigen Erklärungen zu kommen, aber andererseits hatten ihre Vorfahren zu viele Spuren hinterlassen und gab es auf zu viele Bücher verteilte Zeugnisse, Fragen und Widersprüche, die ich nur noch mit ein wenig kriminalistischem Geschick kombinieren musste. Die Kampfreserve der Partei, wie der offizielle Beiname der FDJ war, organisierte ihre Poetenseminare natürlich nicht, damit dort Sherlock Rainer Holmes uns künftigen Dr. Watsons die Ermittlungsergebnisse wichtete und korrigierte und uns seinen viel weiterreichenden Verdacht erläuterte. Aber fast immer passierte das, und wie die Namen von immer neuen und immer russischeren Autoren verhakten sich in meinem Kopf immer neue Themen: wie war das zum Beispiel mit dem Hitler-Stalin-Nichtangriffspakt? Ungelesen wie die ganze Szene mit Fausts letztem Monolog stand auch eine „Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion“ in den Bibliotheken, und die in der Chruschtschow-Zeit redigierten ersten Bände schlachteten den Mythos des Feldherrn Stalin mitleidlos. Das im Westen immer wieder thematisierte Zusatzabkommen zu jenem Pakt war freilich nicht abgedruckt, aber auch im Westen redeten sie bis zum Ende von Glasnost und Perestroika nur vom Hörensagen darüber. Wäre ich nicht schon slawophil gewesen, wäre ich es bei diesen Gesprächen geworden, auch wenn mich hart traf, dass ein wirklicher Kenner „Der Meister und Margarita“ gegen meine Lesart interpretierte: Das teuflische Geschehen in Moskau habe Bulgakow durchaus nicht auf Stalin zurückgeführt, sondern auf… Wir ahnen es: auch für meine Kronzeugen war Trotzki der Schuldige, die Kraft „die stets das Böse will und stets das…“ Aber so genau und offen sagte das freilich niemand, auch ich nicht, was ich mir mit Rücksicht auf mein Alter freilich ohne Mühe vergeben kann. Immerhin schrieb ich mein Lied über die wilde Jagd in der Walpurgisnacht:
„es ziehn zerlumpt, bespuckt, verlaust
sie ziehn gesteinigt, ziehn verklärt
ziehen weinend oder lachend Obwohl ich unter der Teufelsmaske deutlich Lew Dawidowitsch erkannte, bekam ich auch in meinem zweiten Schweriner Sommer einen Preis, und unzufrieden darüber fragte ich Rainer, was ich dagegen tun könnte: gegen die alten Lügen und das neue Schweigen, zum Beispiel über das verrückte Wettrüsten beider Seiten oder über den Punk-Lyriker als Matratze der Vergewaltiger-Zelle, gegen die Umweltverschmutzung bei Bitterfeld, die wandelnden Kalksteinbrüche von Wandlitz und die Verallgemeinerung des Mangels im Sinne von Marx und Engels 3, 35. „Meine junge Tochter fragt mich“, variierte Rainer ein Brecht-Gedicht, stützte den Ellenbogen auf und ließ das Wodka-Gläschen zwischen den Fingern schaukeln, bis ich ihm das nachmachte und ihn verstand. „Ja, lerne Mathematik“, fragte ich, verzog die Mundwinkel und atmete aus, um dann den Wodka zu kippen. Auch bei den Familien-Geburtstagen hatte ich also Nützliches gelernt, und es hatte mit der Bewerbung für das dazu passende Auslandsstudium geklappt. „Und das hilft wirklich?“ Rainer nickte und schraubte die Flasche wieder auf. „Erst mal schützt es vor der Zelle des kleinen Schmierfinken, und wahrscheinlich wird es nie so schlimm kommen, dass ‚Eins plus Eins beinahe Zwei’ nicht mehr stimmt. Oder?“ Während ich noch nicht einmal angefangen hatte, auf Gorbatschow zu hoffen, hatte er schon geahnt, dass wir endlich als Rotkäppchen am Bett der netten dicken Oma Kohl stehen und vom hungrigen Wolf der Marktwirtschaft geschluckt werden würden. Und alle die späten siebten Geißlein, die Ziege Bohley und der Chef-Jäger von BILD konnten meinen listigen mutmaßlichen Stasi-Wolf nur deshalb nicht mehr steinigen, weil er sich irgendwann nach Tschernobyl und weit von meinem Bilibino auf einer Touristenbank an der Rüganer Steilküste erschossen hatte. Und ich lebe mit Leuten, die zumindest davon träumen, wie Gretel die Oma auf den Gartengrill zu schubsen und die Pfefferkuchen-Datsche einer Bank als Sicherheit für den Existenzgründungs-Kredit zu überschreiben. Bestenfalls haben sie die Scherben des naivsten Kinderglaubens behalten, auf die fleißigen Diener würde es einmal Gold regnen, und schlimmstenfalls hoffen sie auf ein Ende aller Daseinsängste, wenn blonde Herrenmenschen genug widerliche Frösche gegen die Wand geklatscht haben werden. Und liegt nach mehreren 1:1-Umtauschen auch ihr letzter Schleifstein im Brunnen, wagen sie erst recht keinen Jammer und keinen Protest... Der Gestiefelte Kater ist eben das einzige akzeptable Märchen der Deutschen. |
Ich war.
Die Verlobung Ich bin.
Jeremias Ich werde sein.
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