Maßnahman

Der tschuktschische Sommer war so, wie unsere Sommer sind. Es wurde erst zu spät und dann wurde es viel zu warm, und jeder aktuelle Sommer war viel eher als der vorige vorbei. Würden die Erinnerungen an so etwas stimmen, wäre der deutsche Sommer über die Jahrhunderte zu einem einzigen Tag vertrocknet, so wie die richtigen Winter selbst bei den Tschuktschen längst auf einen einzigen Tag zusammen geschmolzen wären.

Ich erinnere mich aber an oft sonnige Sommertage, manche sehr heiß und manche fast wieder polarkalt, und immer reichten sie aus, den so genannten Dauerfrostboden anderthalb Meter tief aufzutauen. Darüber stand das nur langsam abfließende und verdunstende Schmelzwasser, und der Höhepunkt jedes Sommers setzte sich aus den vielen Höhepunkten der Mückenstiche zusammen, die uns vom Winter träumen ließen. Nur den sehr alten Leuten, wie Konstantins Großvater und Großmutter, wuchsen mit den Jahren so braune und lederige Häute, dass die Mücken schon im Anflug abdrehten. Darum konnte der alte Schamane auch unabgelenkt den Papyrossy- und den Lagerfeuer-Qualm der Jahrzehnte aushusten, stöhnend die Arme strecken und mich anstarren. Doch, ich war mir ziemlich sicher, dass er mich nicht nur gern mit seinen Pilzen vergiftet, sondern auch gern einmal so richtig in die Sippe aufgenommen hätte. Vielleicht nach einem uralten Brauch, den in der Schlaflosigkeit des Polartags ersann… Aber er war inzwischen eben wirklich sehr, sehr alt und hätte seine dicken alten Töchter bitten müssen, ihm auf mich zu helfen, und so etwas gehörte sich nicht.

Darum lud er mich und Konstantin immer nur ein, ihm zuzuhören und mit ihm auf den Genossen Stalin zu trinken, den er sehr schätzte. Konstantin war das ein bisschen peinlich, aber der Schamane meinte mit Stalin ja sowieso ein mythisches Wesen, das auf einem vergilbten Zeitungsfoto im dicken Pelzmantel durch das dichte Schneetreiben ermutigend zu seinen Kriegern und - selbstverständlich - seinen treuen Schamanen winkte.

„Vor langer Zeit habe ich Genosse Stalin im Traum durch den verschneiten Wald stapfen sehen, um dem Antichristen persönlich die Axt in den Schädel zu schlagen… Diesem…, na, diesem reichen Juden, ihr wisst schon! Und von nur seinem Gehirn und einer einzigen Handvoll Getreide hat der Große Stalin alle die Armeen satt gemacht, die deine Väter und Großväter besiegt haben, Töchterchen! So deutlich wie dich habe ich ihn vor mir gesehen, und er hat mir die Hand gereicht… Trinken wir auf ihn!“

Gut, solche persönlichen Übersetzungen des „Kurzen Abrisses der Geschichte der KPdSU (B)“ wurden in den 30-er, 40-er Jahren in Millionen-Auflagen und in allen möglichen Sprachen gedruckt, aber der Großvater war eben kein vertrottelnder Parteiveteran. Er war ein ausgebildeter tschuktschischer Schamane, und als solcher hatte er tatsächlich erlebt, was er geträumt hatte. Wie bei anderen Gelegenheiten die Wolfs- und Wal-Götter, so konnte durch ihn nach dem Händedruck auch Stalin sprechen, und er konnte Stalin die Wünsche seines Volkes ausrichten oder um persönliche Gefallen bitten. Was nach verschiedenen Ritualen an Wodka getrunken oder an Fleischbrocken im Wald verstreut wurde, waren ordentliche Opfer… Allerdings, und auch das unterschied den barbarischen Schamanen von einem Parteisekretär mit der einzig wissenschaftlichen Weltanschauung, stritt und schimpfte Konstantins Großvater, wenn es nötig war, mit dem Genossen Stalin auch nicht anders als mit seinen Wolfs- und Walgöttern. Die Eroberung aller kalten Länder hielt der alte Mann, wie schon erwähnt, für einen Fehler, während er es für eine großartige Idee hielt, dass zwischen den Sternen Gagarins Milizstation hing und über uns wachte.

„Denn sie schlafen niemals, die Klassenfeinde, die uns arbeitende Menschen ausrauben wollen, weshalb sie so rote Augen wie die betrunkenen Aiwanalin haben!“

„Aiwanalin, das sind die Eskimos“, erklärte Konstantin zum wiederholten Male und hatte wie immer rote Ohren.

„Während wir die Luorawetlan sind, ich weiß…“

Was ich damit sagen will: Obwohl ich allerhand Bücher über die Revolution und den Stalinismus gelesen habe, eher mit Trotzki sympathisiere und Stalins Biographie kenne, kann ich doch nicht vergessen, dass der Verdiente Mörder des Volkes für verschiedene Leute verschiedener Zeiten ganz Verschiedenes bedeutete. Für die alten Tschuktschen etwa war er eine Kreuzung aus Zar, ihren kosakischen Eroberern und einem zweibeinigem Wal, ein jähzorniger und doch guter Vater, der die Kinder schreiben lehrte, eher unsinnige Kriege gewann und irgendwann auf die idiotische Idee gekommen war, die Rentier-Herden auf Kolchos-Wiesen zu weiden… Er war in mythischen Zeiten geboren und nie gestorben, aber auch wenn der Schamane sich ab und zu mit ihm besprach, wäre er wohl nie auf die Idee gekommen, Stalin für einen auch im Winter zu nutzenden Weideplatz, einen erjagten Wolfspelz oder die Gabe des Fährten-Lesens zu danken.

„Von allen diesen neuen Göttern, Töchterchen, ist Stalin der einzige richtige! Denn nimm nur mal diesen Jesus, von dem sie meinem Großvater erzählt haben… Er liebt sogar die Aiwanalin, er will nicht reich werden und lässt sich jeden Freitag von diesen Römern den Rücken blutig peitschen. Und: jeder Eisbär steht nach dem Winterschlaf wieder auf! Nicht ein Kind hat dieser Jesus! So einer kann doch kein Gott sein, wenn er noch nicht mal ein Mann ist!“

Wie konnte der Schamane in seinem Zelt aus Walross-Häuten, in dem ich die erste ausländische Besucherin war, auch davon gehört haben, dass Gott eigentlich sogar eine Schwarze ist? Mir offenbarte sich das auch erst Dunkelblau auf Blasslila, in Köln und als das Bekenntnis-T-Shirt schon ziemlich lappig gewaschen war. Und ich könnte noch immer losheulen - bei dem Gedanken, dass einer Revolution nicht einmal Gott helfen kann…

Denn ich verliebte mich als großes Kind in die Fotos, die Geschichten und Gedichte der Sandinisten, in all die Filme über Nikaragua, bei Sandino selbst angefangen. Ich hatte das nicht überlesen, dass sich einer seiner Offiziere Würfel aus den Knochen eines abgeschlachteten Gringos gemacht hatte, nein. Der Punkt war, dass die Kerle da unten nichts zu suchen gehabt hatten, und dass der gestürzte nationalistische Präsident vor ihnen kapitulierte: „Alle meine Männer ergeben sich. Außer einem.“ Und als dieser Rebell schon seit zwanzig Jahren ermordet war, ging ein einziger Dichter zu einem Tanzabend, um den siegreichen Diktator zu erschießen. Und auf einer kleinen Insel in einem großen See brachte ein Missionar, den Bauern das Nachdenken über Gott, das Schreiben und das Schreiben von Gedichten bei. Und als sie genug Dichter waren, und so viele, so junge und so schöne Frauen darunter, gingen sie mit alten Pistolen auf die Panzer einer der ältesten und miesesten Diktaturen los - und gewannen. ¡SANDINISTA!

Dieses Album von „The Clash“ war bei den ersten CDs, die ich mir kaufte, dreizehn oder vierzehn Jahre danach, und es klang da noch immer so, wie meine Erinnerungen an das Ganze waren: Eine eher dünne Punk-Revolution, frech und verspielt, und zusammengesetzt aus allem, was in der Musik eben Spaß machte. Und der Titel des Albums stimmte auch, weil er Maggie Thatcher ärgern sollte, die damals begann, die Gewerkschaften und das Öffentliche Gesundheitswesen nieder zu kämpfen und diese Welt einzurichten, die sich noch immer überlegen und christlich dünkt, obwohl sie sich keine Kultur und kein Mitgefühl leistet, für ein Drittel der Leute nur Gelegenheits-Jobs hat und das letzte Drittel als working poor oder Arbeitslose hält. In Deutschland, das Thatcher allerdings geteilt halten wollte, wird die Baroness ja weiterhin von Politikern aller Parteien nachgemacht, aber daheim wurde sie von der eigenen Partei gestürzt. Und sie wird einmal nur als Taufpatin dieser Schallplatten und als Mit-Erfinderin des Soft-Eises in Erinnerung bleiben…

Das mit dem Eis habe ich übrigens aus dem Internet, während ich noch allerhand Buchtitel über die nikaraguanische Revolution vor mir sehe und im Kopf habe, was ich wo ich in diesen Büchern unterstrichen hatte. So funktioniere ich nun mal, beim Erzählen: etwas surreal. 

Auch ein Erzähl-Faden hat, so schnell ich ihn auch abspule, kleine Unebenheiten und Knötchen, an denen ich anhalte, um einen Querfaden daran zu knüpfen oder vorsichtig die Fortsetzung zu finden. Und die Querfäden nehme ich aus einem Fass, das mir die Zettelkästen berühmter Dichter-Kollegen ersetzt. Ich habe in meinen verschiedenen Wohnungen mehrmals solche Sammlungen angefangen, und im Keller des Eltern-Eigenheimes steht meine Umzugskiste mit verschiedenen weit geschriebenen Notizbüchern, aber einigermaßen vollständig bekam ich nur einen einzigen, schmalen Stapel dunkelgrauer und deshalb nie gut lesbarer, inzwischen ziemlich speckiger Kartei-Karten. Sie beschrieb ich im Schatten der Internats-Mauer, der als Raumteiler gestellten Schränke aus Pressspan-Platten und unnatürlich dunkelbrauner Furnier-Folie, eine Nacht und einen halben Tag lang, am Ende wohl wirklich fiebrig. Ja, Karin und Andrea: Ich bin an eurem Lungenkrebs schuld, durch euer Passivrauchen, während ihr von den lächerlichen Jungmännern träumtet, aber… Aber ich hatte nun einmal versprochen, dieses Buch nicht nur nicht weiter, sondern nicht einmal aus der Hand zu geben, und es war ein dickes Buch, wie es den meisten nicht einmal geliehen wurde: „Die Wahrheit ist unsere Stärke“.

Ein sowjetischer Historiker hatte es geschrieben, Roy Medwedjew, der DGB-Verlag hatte es veröffentlicht, und daraus schrieb ich mir mit Daten und Statistiken, Anekdoten und Zitaten die sechs Jahrzehnte des Stalinismus heraus. Nachgelesen habe ich auf den DIN-A6-Karteikarten nie mehr. Ich beschrieb sie, um mir Alles zu merken, und die Papp-Stückchen habe ich heute in der zerfledderten Paperback-Stalin-Biographie, wie ein paar alte Fotos. Wenn ich sie berühre und dabei die Augen schließen, sehe ich mich wieder in dem Internatszimmer sitzen, das Hemd vom Rückgrat her nass geschwitzt, neben einem handgroßen, vollen Aschenbecher aus dunkelblauem Glas. Eine Lampe vor mir, mit einem runden graubraunen Fuß aus Metallguss und einer verchromten Stange… Und mit dem Rest der letzten darauf verwandten Filterzigarette „Juwel 72“ drückte ich auch die drei Fingerspitzen in die Asche und zwischen die Papierrollen. Ich wusste nun also voll Bescheid, und ich würde in einer nassen Gefängniszelle doch nur den Einen verraten können, der mir das Buch geliehen hatte. Den mussten sie dann schon extra foltern, um weiter zu kommen, und wahrscheinlich auch nur um eine weitere neugierige Nase!

Allerdings kam ich mir nicht besonders mutig und nicht besonders subversiv vor. Ich schwankte nicht im Vorsatz meines Studiums in Moskau, und ich hätte im Staatsbürgerkunde-Unterricht oder meinem Genossen Vater guten Gewissens versprechen können, jeden Angriff auf die Staatssicherheit sofort den zuständigen Organen zu melden. Denn ich hielt dieses verrückte Intensiv-Studium so wenig für Widerstand, wie ich an der Wahrheit zweifelte, die ich kopiert hatte und die eben unsere Stärke war. Eher war doch… sagen wir: der damalige Kandidat des Politbüros der KPdSU, Genosse Michail Sergejewitsch Gorbatschow, ein Feind des realen Sozialismus und wissen-
schaftlichen Kommunismus, als dieser Dissident Roy Medwedjew!!! Der ist, und erst  jetzt kommt der eigentliche Witz, im Unterschied zu Gorbatschow und genau wie ich noch immer Kommunist ist oder eben doch Bolschewik. Oder - wie man zeitnäher sagen konnte - Sandinista…

Ich konnte nach diesem Buch nicht behaupten, dass ich alle Terror-Anekdoten kannte, die Solshenizyn im „Archipel GULAG“ gesammelt hatte, aber wirklich neu war für mich keine davon. Und was die neutrale Wissenschafts-Legende vom noch essbaren Mammut anging, hinter der auch nur eine sowjetische Sträflingsgeschichte stehen sollte, die Häftlinge weder Forscher noch Versuchskaninchen, sondern einfach hungrig…

Ob ich auch das glauben sollte, wusste ich nicht, und es wäre ja noch schlimm genug gewesen, wenn sie so glaubhaft erfunden worden wäre. Die Matrosen des von Moby Dick versenkten Walfängers oder die Überlebenden des Flugzeug-Absturzes in den chilenischen Anden hatten sogar einander verspeist, weder wie die Azteken rituell noch nach Dr. Hannibal Lecters Kochbuch. Und wenn es die kleinliche Wirklichkeit zu Maos Großem Sprung und der persönlichen Speiseplan von Idi Amin gab, die Marktwirtschaft in der Sahel-Zone und die koreanische Treue zum Geliebten Führer… Warum sollte es damals also nicht im GULAG dieses Mammut-Essen gegeben haben?

Uwe hielt das allerdings für Unsinn, und er hielt sich nicht ganz unbegründet für einen der führenden Experten auf diesem Gebiet. Seine ganz große Karriere gründete darauf, dass er für eine Plastiktüten-Firma den Gefrierbrand erfunden hatte, also das neue geniale Wort für das ewige Schicksal tief gefrorenen Fleisches. Denn natürlich trocknete es aus schon immer Eiskrusten treibend aus…

„Ja, sicher muss man Stalin alles zutrauen“, sagte er lachend. „Aber ein Tiefkühl-Mammut und ohne diese reißfeste, auch bei Minus dreißig Grad geschmeidige Folie mit dem neuen Luftdicht-Clip… Ein Gott war er doch nicht, oder?“

Wir riefen uns das zwischen Badewanne, Bett und Badewanne hin und her, beim zweiten Date im selben Hotelzimmer. Uwe war dafür offiziell zu einem Workshop gefahren, und für mich war es ein Heimfahrt-Wochenende, das ich nicht tarnen musste. Nur für den Fall eines weiteren Wodka-Rausches hatte ich das Buch eingesteckt, und besonders gefiel mir seine Durchsuchung meines Kram-Rucksacks aus Kamel-Leder nicht. Aber er hatte mich kaninchengeil und hengstgroß befriedigt, und ich genoss das dampfende Bad danach, in dem ich gleich noch mit den Fingern Tiefseetauchen spielen konnte. Das dritte Tier-Teil im Bett war ja nur das Lustzentrum eines Mönchsgeiers in der Missionars-Stellung gewesen…

„Diese Pharma-Sache, nach der ich neulich gefragt habe… Würdest du das wirklich tun, Dr. Zorn, Tatjana Petrowna? Eine spät ausgesiedelte Russen-Ärztin geben, die sich an einen dicken deutschen Bauch anlehnen möchte?“

„Oder eine vom Straßenstrich geflohene russlanddeutsche Kindergärtnerin… Das kam jetzt mal bei RTL!  Glaubst du wirklich, dass du das bezahlen kannst? Ich meine: Jetzt, nachdem du mich nüchtern genossen hast, Genosse?“

Uwe lehnte sich in den Türrahmen, eine Feinzeichnung vom Zeichenbrett seines Art Directors: trapezförmig, an der Brust und vom Nabel an dicht behaart. Konstantins Killermuskeln hatte er nicht, aber er war auch nicht das, was ich mir aus beruflichen Gründen erst als meine eigentliche Leidenschaft zu suggerieren begann.

„Es ist ein sehr dicker deutscher Bauch…“ Und er bekam, der angeblich abgebrühte Werbe-Fuzzi, zu seinem HKS-28-farbenen Geschlechtsteil noch Ohren in HKS 14, sprich: fahnenrot. „Vor allem im übertragenen Sinn! Sag schon, was das bei dir kostet!“

Ich schwappte ihm eine Handvoll Wasser entgegen.

„Prozente!“

„Einen Tausender kannst du haben! Und du weißt nicht, wie lange die Agentur dafür arbeiten muss…“

Schön, dass die Wanne groß genug war, dass ich fast der Länge nach untertauchen und meine marktwirtschaftlichen Ellenbogen abspreizen konnte. In den Ohren knisterte der teure Schaum, und das zum dritten Mal zu gelassene heiße Wasser stand mir bis zum Kinn.

„Du um die drei Stunden… Nach Pflaum, Dieter!“

Er setzte sich auf den Wannenrand.

„Pflaum… Woher, zum Teufel, kennst du…?“

„Tschernobyl… Da habe ich das letzte Mal was angepackt, ohne vorher die Gebrauchsanleitung zu lesen.“ Ich zog die Knie an, legte die Arme darauf und stützte das Kinn auf. „Mein Armer! Du dachtest mehr an diese Kindergärtnerin, nicht?“

Das war unser Anfang, als ich ihm noch nicht von der zweiten Straße zu meiner Kinderstube erzählt hatte, von der Heine-Straße die für mich in die Brecht-Allee mündete:

„Weiß ich, was ein Mensch ist?
Weiß ich, wer das weiß!
Ich weiß nicht, was ein Mensch ist
Ich kenne nur seinen Preis.“

Das war der radikalste Brecht, das ganze Theater nur eine „Maßnahme“ der Erziehung, und darin war es das Lied des Händlers. Der junge Genosse, der nach dieser klaren Ansage nicht mehr mit dem Herrn des Landes speisen wollte, musste erschossen werden: so wurde es zur Diskussion gestellt. Und weil Brecht sich spät über die realen Erschießungen entsetzte und seinem Stück nicht mehr traute, wurde es bei uns nie mehr aufgeführt. Höchst praktisch für die alt gewordenen Schützen: Man musste nicht mehr über die Notwendigkeit solcher Erschießungen diskutieren, also brauchte man darüber auch nicht mehr zu reden, und wirtschaftlich war es sowieso besser, wenn man nicht über die Geldleute im Westen her zog. Man brauchte ja ihre neuen Kredite, um die Zinsen für die alten zu bezahlen…

Gedruckt wurde das Lehrstück aber immerhin, und eigentlich durfte niemand behaupten, der 1990 mit der Allgemeinheit, frei und gar nicht geheim dafür gestimmt hatte, er hätte DAS doch nicht geahnt und nicht wissen können. Das „Nicht Gewollt“, das nahm ich meinen Landsleuten eher ab, doch das war nun nur noch eine theoretische Diskussion, wie die des Stücks.

Und hatte man seine Lage erkannt, nämlich in der Hand der Händler zu sein, dann hatte man diese einzige Möglichkeit doch klar vor Augen: Man musste ihnen seinen Preis selbst nennen, damit sie einen verstanden, auch und gerade, wenn man mit ihnen im Bett lag oder sich im Hotelbadezimmer befummelte. Der Basar war einfach überall, und jedes Kompliment und jeder erzählte Traum war ein Feilschen. Ich hoffte nicht wirklich auf Prozente, sondern ich wollte mir eine Existenz puzzeln, aus dem was ich noch und schon wusste. Konnte Uwe nicht Fördermittel beantragen, wenn er mich zu seiner fest angestellten Kundenbetreuerin umschulte, und konnte er dann nicht mein Dienst-Appartement von der Steuer absetzen?

Dazu fasste ich ihm zwischen die muskulösen und behaarten Schenkel, und massierte ihm in die empfindlichste Stelle, dass er mich doch als seine neue Filiale unverdächtig oft besuchen konnte.

„Den Staat auszubeuten“, lachte Uwe, während er mir unterhalb des Nabels gehorchte und oberhalb offenbar schon rechnete. „Du bist mir ja eine schöne Kommunistin!“

  Ich hätte ihm da mit Brecht antworten können, dass ich mir für keine Niedrigkeit zu schlecht war, um die Niedrigkeit auszurotten, dass ich im Schmutz versinken und den Schlächter umarmen wollte, um die Welt zu ändern… Aber damals war ich aufgeweicht und weich gekocht, aufgestachelt und aufgewühlt, und ich dachte nur daran, dass ich nicht von der Massageliege hoch kommen würde, wenn ich nicht jemanden von der Chef-Ebene fest hielt.

Ich war.

Die Verlobung
Levi´s
Das Nest
Frank. Und fast frei.
Star Trek
Grimms Märchen
Die deutsche Ideologie
Der invertierte Columbus
Wolf auf Pilzen
Zwischensumme

Ich bin.

Jeremias
Vorspiele
Galeeristin
Matka
Ehemals
Erkennen
Aphrodite
USP
Maßnahmen
Aspasia
Rückwege

Ich werde sein.

Silicon Plain
Das achte Kreuz
Aschermittwoch
Stockholm
Marketing
Sympathy for the Devil
Das Regionalwetter
Circenses
Frühstück mit Nazis
San Antonio de la Florida