1.

Die Pflasterstraße hatte die Allergien und Geschwüre von Jahrzehnten und zu beiden Seiten die Kratzer der neuen Bauwut. Schon daß die Straßenbahn noch immer durchkam, war ein Wunder, und doch parkten unter uns auch noch ein paar naß glänzende dunkle Wagen. Trotzdem gab es sogar hier Autoströme in beide Richtungen, von den Haupt- und Hilfsampeln portioniert, und die wenigen Fußgänger bewegten sich in dieser Kraterlandschaft wie müde Flipperkugeln.

Interessanter war freilich Margit, die den Kopf ganz bewußt vor dem Spiegel der schlecht geputzten Scheibe stillhielt oder bewegte. Seit der Wende war ihr Gesicht runder geworden und am Hals hatte sie ein paar verräterische Fältchen bekommen, aber die kürzer geschnittenen Haare ließen sie noch immer jung und jungenhaft aussehen.

„Als halbwegs anständiger Mensch wird man Kinder halt schwerer los als ein Land und den Beruf“, sagte Margit und saugte kräftig an der Zigarette. „Und vor den Zwergen kann ich so wenig zugeben, daß es mir beschissen geht, daß ich diesen Bockmist manchmal selber glaube: ganz gut.“

„Naja, wenn du die Kinder noch hast“, tröstete ich. „Ich zum Beispiel lebe der Klassenjustiz grade konsequente Scheidung vor... Noch dazu...“

„Aber du kannst singen, Markow!“

„Was kann der“, fragte Reiner, der aus steuerlichen Gründen die CD und die Premieren-Veranstaltung organisiert hatte. Locker legte er uns beiden die trainierten Arme auf die Schultern. „Aber ich brauche von ihm ja Flops, andererseits. Ich bin ein Manager, der seinen Star feuern muß, wenn er Gewinn einspielt! Mal ehrlich, Compañeros: hättet ihr euch den Kapitalismus so vorgestellt?“

Zwanzig Jahre zuvor hatten wir hinter den fleckenlos blauen Sprelacart-Tischen im Seminar-Neubau der Karl-Marx-Universität die Wege begonnen, die uns in den Zweite-Etage-Klub geführt hatten, irgendwie. Reiner war beim FDJ-Zentralrat für die politische Strategie zuständig gewesen und verkaufte jetzt entlassenen Glühlampen-Proletarierinnen Marketingstrategien für eine Existenz als Avon-Beraterin, Margit hatte in einem Jugendklub oppositionelle Lyriker gehätschelt, und ich hatte schon immer zwischen beiden gestanden.

„Du kommst zum wieder historisch falschen Zeitpunkt“, sagte ich. „Wir haben gerade festgestellt, daß wir zum ersten Mal gleichzeitig in der Krise und zu haben sind!“

Ich tauchte unter Reiners Arm weg und packte die Gitarre in den Kasten, der einmal mein Studentenvermögen von hundertfünfzig Mark der DDR wert gewesen war. Die Gitarre freilich war neu, und ich konnte mich nicht mehr daran aufrichten, vor normalem Publikum ganz gut gewesen zu sein. Wahrscheinlich hatte Reiner das Konzert dadurch gefüllt, daß er es auf den Donnerstag-Skat der Zentralrats-Veteranen gelegt hatte. Als ich die Texte in die Plastmappe raffte, steuerte auch wirklich ein Vierter Sekretär mit seinem Leibwächter auf mich zu.

„Ach, Markow! Die beiden Herren wollten dich schon vor der Internationale sprechen“, sagte Reiner über die Schulter. „Ein Herr Kommissar...“

„Wegner“, dröhnte der Pavarotti im Anzug des Vierten Illegalen Gebietsekretärs. Dem Umfang nach sah er wie ein Generalsekretär der KPdSU aus, und nach der Stummfilm-Logik war der altmodisch gescheitelte Sekretär des Sekretärs der doofe Hardy.

„Hauptkommissar Wegner und Inspektor Kunz. Wir hätten Sie gern mal gesprochen, Herr Doktor Markow. Nur kurz...“    

„Gott, Gitte“, sagte ich zu Margit und klatschte die Arme wie lahme Flügel gegen den Jeans-Anzug. „Das ist mir das letzte Mal bei ‘ner Luxemburg-Diskussion so gegangen, 88 in Dresden.“

„Ich halt sie dir warm“, versprach Reiner und drückte Margit sofort mit dem Arm und dem fitnessgestählten Bauch in Richtung des Tresenzimmers. „Wir trinken was! Und klar, daß ich bezahle...“

„Ich bin aus dem Osten“, behauptete der Hauptkommissar. Er drehte sich einen Stuhl, nahm ihn zwischen die Beine und setzte sich so, daß er die Arme auf die Lehne packen konnte. „Ich habe die Anspielung also verstanden... Aber wir sind von der Mordkommission.“

„Von der Todesschwadron“, fragte ich unbeeindruckt. „Und kann ich vorher meine letzte Zigarette...“

„Kennen Sie diesen Mann“, fragte der Inspektor und hielt mir das große Farbfoto so vor das Gesicht, daß ich das Feuerzeug nicht an die Camel bekam.

„Das sieht nicht wie ein Mann aus. Höchstens wie ein ehemaliger...“

Auch ohne CD-Premiere mit Wiedersehens-Feier wäre das Foto eine Zumutung gewesen. Ceauçescu, und der war immerhin vom eigenen Geheimdienst nach Schweizer Nummernkonten befragt worden, war eine schönere Leiche gewesen. Das rechte Auge der Leiche war zugeschwollen, und zwischen Schläfe und Kinn lief ein sauberer, geschwungener Schnitt. Das zweite Foto war ein Brustbild, mit kreisrunden, rotbraunen Wunden in einem ziemlich dichten dunkelblonden Pelz. Erst das dritte unappetiliche Bild gab Auskunft über die Todesursache des ehemaligen Mannes. Er hatte ein Loch im Genick, und wahrscheinlich wurde der verdrehte Kopf nur noch von Haut und irgendwelchen Muskeln am Körper gehalten.

„Und“, fragte Wegner. „Haben Sie ihn erkannt?“

„Bestimmt nicht im biblischen Sinn“, sagte ich und versuchte, trotz der Bildbetrachtung zu grinsen. „Und auch sonst bin ich genauso unschuldig wie jeder Ossi! Mein Verleger macht gerade meine verhinderte große Liebe an, und der ist eigentlich der Einzige, dem ich so etwas wünschen würde.“

„Huber“, sagte Inspektor Kunz und hielt mir sein Feuerzeug an die vergessene Zigarette. „Sein Name ist Huber, Frieder Huber. Der Name müßte Ihnen aber was sagen!“

Ich holte tief Luft.

„Also wenn Sie bestimmt nicht vom Arbeitsamt kommen... Ich versuche mich als Privatdetektiv, seit dieser Woche. Mit einem Freund... Und auf unsere Anzeige in der Berliner hatte sich ein Herr Huber gemeldet... Aber da war er noch unrasiert, rauchte nicht und lebte noch. Falls man die Existenz als Versicherungsvertreter so nennen kann... Und das wäre doch unlogisch, Genosse Volkskommissar, wenn wir gleich unseren ersten Klienten so zugerichtet hätten.“

„Niemand beschuldigt Sie oder Professor Haase“, sagte der Hauptkommissar. „Wir wollten nur wissen, wie Ihre Telefonnummer auf die herausgerissene Seite in seinem Notizbuch gekommen ist.“

Ich zuckte die Schultern.

„Sie wissen sicher, daß wir inzwischen ohne besonder Mühe durchgedrückte Schrift lesbar machen können“, sagte der Inspektor in einem Ton, als hätte er das Verfahren selbst erfunden. „Es nützt Ihnen also gar nichts, die belastenden Seiten rauszureißen.“

„Ich denke, Sie beschuldigen mich nicht?“

„Doktor Markow...“ Hauptkommissar Pavarotti entwickelte meinen Namen zum Arientext. „Der Begriffsstutzigkeit müssen wir Sie schon beschuldigen! Vielleicht erzählen Sie uns noch, was Herr Huber bei Ihnen wollte? Wurde er bedroht, hat er Sie als Leibwächter engagiert oder was?“

„Er wollte, daß ich seine durchgebrannte Ehefrau wiederfinde. Aber jetzt scheint es ja, als hätten sie sich auch ohne unsere Detektei getroffen...“

„Detektei“, höhnte der Hauptkommissar und erhob sich ächzend vom Stuhl. „Ich weiß ja nicht, was Ihre Musiker-Kollegen von Ihren Fähigkeiten halten... Aber von Ermittler zu Ermittler würde ich Ihnen raten, lieber zu singen.“

„Einen schönen Abend noch“, verabschiedete sich Inspektor Kunz und trippelte hinter seinem Chef her. Erst im Gehen steckte er die Farbfotos wieder umständlich in die Aktenmappe.

Ich schleppte die Zwei-Zentner-Gitarre mit ins Nachbarzimmer. Daß ich als Privatdetektiv so direkt mit richtigen Verbrechen zu tun bekommen würde, hatte mir Haase verschwiegen. Für ihn hatte dieser Job ein Frührentner-
Hobby sein sollen, während ich dabei Stoff für einen ersten Kriminalroman sammeln sollte. Das große Geld versprach die Branche bei der großen Konkurrenz von entlassenen Polizisten, Geheimdienstlern und Zuchthäuslern ja sowieso nicht.

Daß ich eine gewisse Begabung für den Job hatte, konnte auch nur ein Hauptkommissar übersehen. Wie Margit am Tresen lehnte, klein und schmal, Reiner halb zugewandt und den Oberkörper soweit zurückgebogen, daß ihre winzigen Brüste auffielen, sagte alles. Sie hörte nun ihm zu und wollte für den Rest der Nacht ihm gehören.

„Nu, Towarisch Markow“, lachte Reiner souverän. „Einen Whisky? Oder dem Image gemäß Rotwein?“

Ich winkte mit der Linken ab. „Dafür weiß ich jetzt, was ich bei der nächsten Wende mit dir machen muß.“

„Micha“, sagte Margit. „Du bist doch jetzt nicht etwa...“

„Fast vierzig und ein bißchen weise! Da habe ich mit den Managertypen nur auf geschäftlicher Basis zu tun...“

Ich wußte, ohne nachzusehen, daß es wieder regnete, aber mein Passat stand nur drei Baustellen weiter, im Halteverbot einer Seitenstraße. In zwanzig Minuten würde ich in meinem Büro sein, in dem ich seit der Eröffnung des Trennungsjahres auch wohnte,  und dort konnte ich den Whisky billiger haben und mir dazu noch ein Porno-Magazin oder ein Porno-Video ansehen.

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