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29.Das Nachbardorf von Vlauwitz hieß Groß Irgendwie. Jedenfalls war der Richtungspfeil so abgebrochen, und über dem Warnschild für Schlaglöcher warnte eine Tafel vor einer Sackgasse und den Eigentümerrechten der Braunkohle-Gesellschaft. Krause hatte die Straße trotzdem für befahrbar erklärt und meine Nachfrage gleich noch einmal zum Anlaß genommen, den Terrano anzupreisen. Er würde die ganze Strecke zu einer Vergnügungsfahrt machen, selbst nachts oder bei Regen. Bei Sonne, tags und im Passat war allerdings auch nur ein Zwanzig-Meter-Stück lebensgefährlich. Ein kleiner Erdrutsch hatte den linken Randstreifen und ein Drittel der Straße mit in den Tagebau genommen, und als ich das mitbekam, war kein Platz mehr zum Wenden gewesen. Ich merkte mir das für den Rückweg, den ich ein Dutzend Kilometer länger planen mußte, und für den Fall, daß ich einmal Verfolger ohne einen Schuß in die Grube befördern wollte. Auch ansonsten war der Ausflug ziemlich sinnlos. In Groß Irgendwie gab es nicht nur kein Ortsschild mehr, sondern auch kein Wirtschaftsleben spendendes Bordell. Etwa die Hälfte der Häuser sahen nicht nur trostlos, sondern echt verlassen aus, und über die Thomas-Müntzer-Schule waren die Schergen der zurückgekehrten Rittergutsfrau oder die Opfer des Staatsbürgerkunde-Lehrers hergefallen. Da sich Gabriele den Sportlehrer gesichert hatte, hatten sie eben den bescheidenen Betonbau gefoltert, und auch der Dorfkonsum mußte in der ehemaligen Zeit eines der Hauptquartiere aufständischer Bauern oder der Dorfsicherheit gewesen sein. "Wenn Sie kaufen wollen, müssen Sie zur Gnä'chen", erschreckte mich ein Altfrauen-Stimmchen fast zu Tode. "Sie wollen doch kaufen?" Das Stimmchen gehörte auch einer alten Frau. Sie war wie ein Gespenst aus dem Gehöft neben dem Dorfkonsum aufgetaucht und versuchte mit letzter Kraft, ihren Kampfdackel vom Angriff auf mich zurückzuhalten. "Ich überlege noch... Die Tagebaue sollen ja Seen werden, dann ist das hier eine Top-Gegend, nämlich." "Nichts mehr für unsereinen, ja... Nur solange lassen sie uns noch leben, die Gnä?che und das Bergwerk, jaja!" Mit Fernsehbildern so zerrzauster Gutshöfe hatte ich meine Geschichtsstudien begonnen, und nur Parteisekretär Manne Krug war kurz auf ein Schultheiss verschwunden. Die vier Fassadenmaler aus der Statisten-Brigade aber gaben weiter die sozialistische Produktionsweise, während mitten im Hof eine durchgeknallte Gnädige Mumie zeterte. "Ostfront! An die Ostfront gehört ihr, faule Bande!" Obwohl sie nur zwergengroß war, trug die Gnädige Mumie drei verschiedene Kostüme: Wanderschuhe und wollene Kniestrümpfe, ein zu großes Kleid aus ihrer großen Zeit und eine Schnäppchen-Schürze. Sie schlurfte auf den T34 zu, der doch nur mein blauer Passat war. "Und du? Hier ist kein Ausverkauf, verdammter..." "Ich? Ich bin Arbeits- und Kriegsdienstverweigerer", sagte ich, während ich vorsichtig ausstieg. Dann machte ich einen artigen Diener und griff in die Jacke, um die obligatorische Karte zu zücken. "Der neue Schwanz", freute sich die Gnädige Mumie und faßte mir vor der ganzen faulen Bande an die Hose. "Das ist auch höchste Zeit! Von Schenken war ja nie die Rede! Komm, komm! Sprung auf..." So wie die faule Bande auf uns herab sah, schien es mir das Klügste, auf dem kürzesten Weg zu verschwinden und mich erst dann zu erklären. Darum folgte ich der Gnädigen Mumie brav in das niedrige und schon renovierte Gesindehaus und drehte mich erst in der Tür noch einmal zum deutschen Autofahrergruß um: Arm und Hand erhoben und den Mittelfinger steif. "Den brauchst du auch noch", johlte es vom Gerüst. "Jede Wette!" Im überladenen Museum ihrer Jugendzeit griff die Gnädige Mumie sofort eine Stielbrille und hielt sie mir vor den Hosenschlitz, bückte erst dann den unfrisierten Kopf mit dem dick und bunt gekalkten Gesicht hinter die Gläser. "Keine Lust, wie? Aber daß du mir absolut gehorchen mußt, hat dir die rote Hure doch gesagt?" "Tja, Gnädige Frau... Vielleicht verwechseln Sie mich?" "Du bist aus Vlauwitz her, also rede nicht! Der neue Erik!" "Ich bin Doktor Michael Markow", begann ich noch einmal von vorn. "Uninteressant!" "...und ich arbeite in der Werbung, aber eben nicht als Modell. Ich recherchiere über die Vergangenheit und Gegenwart der Gegend hier, für einen Katalog zu ihrer Zukunft." "Was für eine Zukunft hat man denn mit sechsundsiebzig", mißverstand die Gnädige Mumie und streckte den Muränenhals. "Das verstehe ich gut. Ich habe schon mit vierzig keine mehr", sagte ich und half ihr in den spitzenverzierten Sessel. Selbst setzte ich mich auf den Hocker vor der Schminkkommode für ein Bordell von der dreifachen Größe des Deutschen Hofes. "Sie sind von weiter westlich zurück, gnädige Frau?" Sie schüttelte heftig den Kopf. "Ich war ja nur die Zofe des Gnädigen Herrn, damals. Und ich bin unter die Mongolen geraten, wie alle! Die Russen, weißt du... Die sind die Eriks der Mongolen, sozusagen, und die Mongolen sind der verlorene zwölfte Stamm Israels: auf gelb gemachte Juden also!" Ich wackelte mit dem Kopf, als sei ich davon noch nicht ganz überzeugt. "Da! Gieß mir ein", wechselte die Mumie das Thema und ließ ihre Hand in Richtung des Fensters zittern. "Wir verplaudern uns sonst!" Ein himmelblauer Katalog-Vorhang verdeckte ihre Likörsammlung nur halb, und auch das polierte Silbertablett mit den unabgewaschenen Kristallgläschen stand am Boden, ein bißchen von der Kommode getarnt. Ich kniete mich vor das Versteck, goß Kirschlikör in ein Glas mit rötlicher Kruste und hing das Glas zwischen die knochigen Finger der Alten. Das war wenig galant, aber weil ich sie immerhin von unten bediente, schmatzte die Gnädige Mumie schon vor dem ersten Schluck. "Gut! Das tut gut! Da kann ich der Vorsehung gar nicht genug danken, dafür. Denn geerbt... Geerbt habe ich natürlich nur, weil der Gnädige nicht mehr geglaubt hat, daß wir das dem Russen wieder abnehmen. Ich war ja auch nur die Zofe, damals..." Als die Gnädige Mumie die Hand mit dem Glas sinken ließ, goß ich ihr sofort nach. "Und ich war schon weg: Beiköchin, Klapsmühle, Altersheim..." Was wie ein fernes und angerostetes Maschinengewehr klang, war ihr schadenfrohes Kichern. "Vom Russen vergewaltigte Baronin, Säuferin und mannstoll... Ohne die Vorsehung hätte mich Herr Laabs doch nie gefunden, mit dem letzten Willen des Gnädigen Herrn! Und deshalb soll er es haben, mit seiner roten Hure, alles! Wenn ich nur meinen Spaß habe, die letzten Jahre, mit den gefangenen Roten! Du warst doch auch in der Partei?" Die Gnädige Mumie ließ das Glas fallen, zerrte mit dem rechten Zeigefinger den Rand des lappigen hochherrschaftlichen Ausschnitts nach vorn, starrte sich an und leckte sich mit einer erstaunlich saftigen Zunge die Lippen. Ich stand schnell auf und steckte die Hände in die Jackentaschen. "Ich bin Doktor Michael Markow", variierte ich schnell. "Professor Haase schickt mich zu Ihnen, zu einer sehr, sehr kranken Patientin..." Es war, als sei der Tonarm über die immer wieder gespielte Platte gerutscht. Die Gnädige Mumie verstummte mit offenem Mund und ohne die Augen zu schließen. Allerdings atmete sie weiter, kräftig und ruhig, und ich beeilte mich, aus dem Zimmer zu kommen. "Warst nur nicht ihr Geschmack", rief mir der Brigade-Sprecher vom Gerüst aus zu. "Sonst würdest du nämlich kriechen!" "Tja, etwas bizarr die Gnädige", sagte ich und hielt ihnen die Zigarettenschachtel hoch, bis der Umschüler sie erreichte. "Aber verrückter seid ihr! Na, für einen absoluten Idioten zu arbeiten und auch noch an das Gehalt zu glauben!" "Hast du 'ne Ahnung, Stranger", sagte der quadratische Gewerkschaftsvertrauensmann, der den Bierkasten auf der mittleren Gerüstebene verwaltete. "Das ist er pur, der Aufbau Ost! Und ob nun die Mäuse über 'n Hotel-Tresen springen oder ob das nächstes Jahr weggebaggert wird: Frau Herrmann, gebumste Laabs, wird sich auf jeden Fall goldene Titten verdienen." "Für die Entschädigung kann sie Mallorca kaufen", träumte ein Zweiter. "Jedenfalls die Hälfte." "Die dritte Hälfte", verriet der Dritte. "Die erste schaffen ihre Bienen ran, und die zweite preßt Laabs aus seinen Rentner-Transporten." Der Umschüler brachte mir meine Zigarettenschatel zurück und erinnerte die Kollegen daran, daß die beste Lebensversicherung von Vlauwitz und Umgebung eine abgebissene Zunge war, und ich gähnte sie herzlich an und stieg kopfschüttelnd in den Wagen. Weil ich trotz oder wegen meines dritten oder vierten Jobs Überraschungen eigentlich haßte, nahm ich doch wieder die Abkürzung nach Vlauwitz. Kein Horizont. Nicht mal vom Kreuz aus, probierte ich an der Vortagszeile. Nun häng ich schon am Kreuz und sehe doch kein Land... Irgendwie ging die Strophe nicht weiter, in dieser Gegend, wo hinter der größten Trostlosigkeit die größere kam, und dann schien alles zu Ende. Die drei Gorillas des Deutschen Hofes hatten sich mit ihrem Opel Omega nur bis an den Rand des Erdrutsches gewagt, aber bei meiner poetischen Kühnheit genügte das auch. Wenn ich die letzten zehn Meter nicht auswendig kannte und auch im Schlaf rückwärts fahren konnte, mußte es weniger lebensgefährlich sein, den Kopf freiwillig unter die Baseball-Schläger der beiden Ausgestiegenen zu legen. "Der Katalog wird uns zu dick", sagte der Schweinekastrierer. "Und Erik kriegt auf dieser Strecke neuerdings einen ganz eigenartigen Schüttelfrost." "Aber zu zweit haben wir ihn noch immer hin bekommen", sagte der Alptraum der Vlauwitzer Bullenkälber. "Und Erik hat uns immerhin das Boxen beigebracht, in eurer guten alten Zeit." "Dieser Werbe-Gangster aber auch! Läßt eine alte, sehr alte und hilflose Nymphomanin einfach sitzen! Das stell dir mal vor! Wenn sie nun wie unter der Diktatur zum Telefon vom Parteisekretär gemußt hätte!" "Er läßt ja schon den Motor an", sagte der Bullenschreck und verbeulte mir mit Holzknüppel die Motorhaube ein paar hundert Mark tief. "Und dann fährt er ganz langsam zurück, und dann entschuldigt er sich bei Frau Rittmeister: ganz lange und intensiv..." Zu meinem Glück waren die beiden so vernünftig, nicht sofort zu mir einsteigen zu wollen. Der Rivale der Vlauwitzer Eber wollte hinter dem Erdrutsch warten, und deshalb schien mir der Vorwärtsgang ungefährlicher und appetitlicher. Der Baseballschläger des Bullenschrecks traf noch einmal die Motorhaube, um den Fluchtsprung in die Tiefe zu tarnen, und um den Omega samt Fahrer zu schonen, hätte ich meinen Wagen auf die linken Räder kriegen müssen.
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