6.

Die Umleitungsstraße war der Grat zwischen zwei toten Tagebauen vom Grand-Canyon-Format, und hinter diesen Kratern begann ein ziemlich vertrockneter Wald. Dafür war das Unkraut auf den ehemaligen Feldern der ehemaligen LPG höher als der Weizen des Sozialismus je aufgegangen war, und danach kam nur noch Vlauwitz.

Ich wußte nicht, was ich erwartet hatte, und wahrscheinlich sahen bayerische Dörfer mitten in einem Russ-Meyer-Film auch nicht anders aus. Trotzdem war ich mir, sobald eine gepflasterte Kampfbahn die Teststrecke für Geländewagen ersetzte, ziemlich sicher. Es mußte nicht Florenz heißen, sondern Vlauwitz. Vlauwitz sehen und sterben, das war das absolute Muß, und ein Genickschuß war einfach noch die glimpflichste Lösung.

Selbst mit aufgeblendeten Scheinwerfern sah ich nichts, was in Vlauwitz eine Versicherung wert gewesen wäre. Es war möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß in den Ziegelställen mit scheibenlosen Fenstern die landesüblichen neuen Opel und gebrauchten BMW standen, nur standen sie dann schon für den Gerichtsvollzieher bereit. Der letzte Zwangsumtausch hatte auch hier nur genügt, um die unvermeidlichen roten Fahnen durch Satelliten-Schüsseln zu ersetzen, und wahrscheinlich bedeuteten die auch nicht mehr. Hier war der Wendewut nicht einmal das abgeblätterte Konsum-Schild über den papierverklebten Schaufenstern zum Opfer gefallen, und im Schaukasten der Kirche blinkte nur eine Glasscherbe.

Nach einer Biegung der einzigen Straße sah ich dann doch noch Licht. Ich dachte an die rote Laterne der M’c Donalds-Hallen, aber das rot-gelbe Licht sollte einen Deutschen Hof signalisieren. Anders als auf den deutschen Höfen seit dem Dorfeingang verbellte auf ihm kein müder Schäferhund die Erfindung des Automobils. Girls just wanna have fun jubelte Cindy Lauper in die dazu unpassende nächtliche Landschaft, und der Parkplatz des Schuppens hätte besser nach Berlin gepaßt. Mein Passat sah nicht gerade klein und häßlich darauf aus, aber doch ziemlich alt, und ich redete mich auf detektivische Akribie hinaus, um mich nicht der Freßsucht zu überführen. Nicht einmal für das bißchen Rangieren gönnte ich mir Ruhe, und dann mußte ich noch einmal den halben Weg zurück, um das Licht und den Recorder auszuschalten.

Nur in Vlauwitz war das Licht, in das sich der Deutsche Hof hüllte, werbende Helle, und die weiße Fassadenfarbe hatte gerade für die Vorderfront gereicht. Außer der Fassade war an der vor Zeiten zur Dorfgaststätte umgebauten Scheune nur noch die Leuchtschrift und ein Schaukasten neu, der dann allerdings nicht nur eine unzerschlagene Scheibe hatte.

Winzige bunte Lämpchen beleuchteten Farbfotos, die meiner feministischen Tochter gar nicht gefallen hätten. Nicht einmal Hannes Partner-Vermittlung hätte derlei ansehen lassen, obwohl ich dieses Unternehmen immer in der Nähe des Deutschen Hofes vermutet hatte. Im Schlamm des Dorfplatzes rang eine Letzte Kaiserin ein Modell für Silikon- und Rotfärbe-Arbeiten nieder. Ein erfahrener Bodybuilder paßte einem offenbar eben erst arbeitslos gewordenen und also noch untrainierten Scheckbuchhalterchen das Posinghöschen an, und das Barmädchen war aus einer zentralafrikanischen Milchbar nach Vlauwitz umgesiedelt. Dieses Bild war wohl das gemeinste, und doch holte ich gerade vor ihm tief Luft. Vielleicht war es ja auch meinem toten Klienten nicht um ein Vlauwitzer Bier und eine deutsche Dorfbockwurst gegangen.

Ich stieg die fünf Stufen hinauf und klingelte.

„Ja?“

„Tschuldigung“, setzte ich einen Witz an, weil mir die Frage selbst für ein Dorf zu naiv schien. „Ich wollte fragen, ob ich ein Glas Milch haben kann.“

„Und chaben Sie Ämfehlung?“

„Von den Gebrüdern Grimm!“

„Grimm?“ Das Schalterfensterchen schloß sich wieder, und ich hätte darauf wetten können, daß der Mann ja gerade dort stand, weil er schon mit Bettina von Arnim zufrieden war. Wieder knarrte das Fensterchen. „Sorry, aber brauchen Ämfehlung von Gäste.“

Mit einem Karate-Block, den ich mit einiger Kraft und Geschwindigkeit hinbekam, auch wenn ich mir den Namen einfach nicht merken konnte, hielt ich das Fenster auf.

„Grimm kenne auch ich nur vom Hörensagen, Towarisch! Herr Huber schickt mich, Huber wie Frieder Chuber!“

Das war nicht unwahr, aber anders als in den Filmen mit Humphrey Bogart nutzte mir dieser detektivische Genie-Blitz gar nichts.

„Sorry!“ Der Türsteher war der aktfotografierte Bodybuilder oder stemmte sich mit dem ganzen Gewicht gegen das kleine Fensterkreuz. „Brauchen Ämfehlung!“

Ich winkte ab, und zog die Camel-Schachtel aus der Tasche der Lederjacke. Eine Rauch- war zwar nicht gesünder als eine Snackpause, aber sie würde meine Chancen erhöhen, wenn ich einmal ernsthaft auf einen Hof wie diesen wollte.

Zu Ende rauchte ich vor dem Schaukasten, und ich dachte mir noch ein paar Unterschriften aus: Miß Skinhead 1993 in der neuesten Kreation des Dorf-
schmieds. Der Busen ohne Frauenleib. Eine zweite, eine Halb-Schwarze tanzte sich aus einem leopard-gemusterten Bikini, und die Letzte Kaiserin wagte sich nach ihrem Erfolg über die Kosmetik-Industrie an einen ausgewachsenen und vlauwitz-kahlen Gummibaum.

Ich nickte der Afrikanerin, die sich über die Eiswürfel im Whiskyglas ausquetschte, zu, und schlenderte zum Auto zurück. Am Ortsausgang würde ich also endlich den Aufschwung zu sehen bekommen, die Villa des Zuhälters, und wieder würde er mir nicht gefallen. Davon sang ich, auch wenn ich nicht singen konnte, und ich würde verdammt aufpassen müssen, damit ich auf den restlichen hundert Kilometern nicht noch einen Passat als Trabbi abstellte.

 

 

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