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Sofort war auch die Erinnerung wieder da, so plötzlich und so massig wie dieser Kerl selbst. Mehr noch. Die Farben des einzigen grauenhaften Tages meiner Kindheit waren so wenig verblichen wie die rötlichen Haare, Haupt- und Barthaar, dieses Kerls. Ungealtert machte er sich an meinen Bruder heran, wie er sich vor achtzehn, neunzehn Jahren mit meiner Mutter verschworen hatte: gegen mich. Damals hatte ich nichts begriffen, und nun verstand ich keines der geflüsterten Worte. Das war der einzige Unterschied. “Das Hochwasser fließt ab”, hatte meine Mutter gesagt. “Warum gehst du nicht nachsehen, ob ein paar Fische zwischen den Wurzeln hängen? So ein Abendbrot würde Papa bestimmt freuen! Ich war sicher, daß Mama mit mir angeben wollte, und so betete ich gewissenhaft eine meiner wenigen Weisheiten herunter. Der Schatten des Berges zur Linken berührte noch täglich den Waldrand, der Weizen reichte erst eine Handbreit über Papas Knie. “Es sei, wie deine Mutter sagt”, unterbrach mich der fremde Mann. “Das Wasser fließt ab und läßt Unmengen Fische zurück!” Seine Hand wies mich zur Tür, und Papa war noch an seinen mürrischsten Abenden viel weniger herrisch. Allerdings hatte der Fremde Recht gehabt. Schon in den Dornsträuchern unseres Ziegenkrals funkelte Essen für Tage, und jeder Fisch war dicker und des Fangens werter als der nächste. Soweit ich den Trampelpfad zum Fluß einsehen konnte, entdeckte ich Fische, und anders als gewöhnlich flatterten ihre Kiemen nicht. Die Fische schnellten aus dem Sand, als sei er ihr eigentliches Le- benselement. Zurück lief ich wegen eines Sammelkorbes, und noch bevor ich die Hütte wieder betreten hatte, hörte ich die Angstgeräusche meiner Vollmondnächte. Sehr nahe mauzte eine gewaltige Katze, fauchte einen schmatzenden Eber an und begann schließlich, mit ihm um die Wette zu keuchen und zu quieken. Die Laute kamen aus der Schlafecke der Eltern, machte ich von der Tür her aus, und ich ermutigte mich mit Papas häufigstem Erziehungssatz, die Furcht sei einfach die Schwester der Blindheit. Leise, eben so wie man wilde Tiere beschlich, wagte ich mich in mein Zu Hause. Es waren die Farben, die mich am meisten erschreckten: die Raupenfarben des Fremden. Von sonnenbraunen Armen und Beinen, von Fäusten und Fersen getroffen federte sein gelblich weißes und rötlich struppiges Fleisch auf meiner besiegten Mama. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Kerl sich aufbäumte und mir einen Augenblick des Triumphes bescherte. In seinem Raupenfell kreuzten sich fünffache rote Kratzer, und an seinem Hals bezeugten blaue Halbmonde kräftige Bisse. Mein nächster Blick aber ließ mich zittern. Zwischen den Fingern des Ungeheuers waren Mamas Brustnippel hart und violett geworden, und zwischen Mamas Beinen hatte das Untier eine tiefe, tiefrote Wunde gerissen, die weiß tränte und dennoch nicht geschont wurde. Immer wieder stieß ein bräunlicher Auswuchs des Fremden in den nässenden Spalt. Mein Zittern wurde so heftig, daß ich hinter dem Vorratsregal erstarrte. “Mein Paradiesvögelchen”, schnaufte der Fremde, “Deinem Gesicht werde ich hunderte wechselbare Farben schenken, während goldene Ringe für Hals, Arme und Fesseln die Streifen meiner Tigerin sein sollen.” “Ich bin schöner, ich bin stärker”, protestierte meine Mama noch mit dem letzten Atem. “Ich bin der bessere Mensch, gib es zu... Gib es zu! Gib es zu!” “Ja”, röchelte der Fremde. “So ist es, ja... Wie feuchte Wäsche, die auf die Reinigungssteine im Fluß geschlagen wurde, so klatschte sein Wanst auf meine verschwitzte Mama: so wuchtig und laut. Um Sauberkeit ging es dem Kerl jedoch nicht, denn als er seinen Auswuchs aus der frischen Wunde zog, besudelte er das Opfer seines Wütens bis zum Kinn mit schwerer, wie von Säure geronnener Milch. “So ist es”, röchelte der Fremde. “Aber bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts des letzten Jahrtausends sollen deine Töchter und die Töchter deiner Töchter das nicht einmal ahnen!” So ungewöhnlich diese Sprüche mir damals schienen, waren sie doch nur das gewöhnliche Gerede eines angenehm überkochenden und schnell abkühlenden Mannes. Derlei gab auch ich von mir, nachdem ich Vater abgesehen hatte, wie die Weibchen der kahlen Affen anzulocken oder zu erjagen und zu gebrauchen waren. Hatte ich eines von ihnen mit Bissen und Stößen am Rande der Ohnmacht, lobte ich seinen unverständigen Ohren statt seiner Gier oder meiner Kraft das Geschick und den Spaß unseres Tuns. Und wenn ich wagen durfte, meine in ihren Bäuchen beschmierte Rute zwischen ihren Lippen zu baden, kam auch vor, daß ich die Breite dieser Lefzen und das hart gelockte schwarze Leder ihrer Körper schön nannte. Sogar meine Lieblingsweibchen hatte ich in jenem kleinen Rudel, das schnell gelernt hatte, die Fischköpfe und anderen Reste des Menschenessens erst anzurühren, nachdem es an mir seine einfachen Kunststückchen verrichtet hatte. Gewiß war ich in jenen Momenten nicht mehr mehr bei Verstand als der rothaarige Herr des einzigen grauenhaften Tages meiner Kindheit, aber nicht einmal dieser Gedanke stimmte mich versöhnlicher. Unsere Freuden mochten sich ähneln, unterschied ich scharf, doch bedeutete das ja nur, daß das Ungeheuer meine arme Mama wie eine nackte Äffin geachtet und gebraucht hatte! War einem solchen Kerl nicht auch zuzutrauen, daß er das Gleiche nunmehr mit meinem jüngeren Bruder versuchen würde? Mißtrauisch schielte ich zu dem Feuer der beiden, in dem knisternd die Fettropfen verbrannten, und beiläufig warf ich eine Handvoll Getreidekörner in das neben mir blakende Elend. Der Regen, der das Futtergras wunderbar gemehrt hatte, war für die Feldfrüchte zu spät gekommen, und so mußte mein Opfer einem gerechten Gott eher das größere scheinen. Die Frage war freilich, ob so etwas denkbar war: Gott der Gerechte. Obwohl wir das Holz aus demselben abgestorbenen Baum gebrochen und in nur geringem Abstand voneinander angezündet hatten, hielt derselbe Wind nur ein Feuer klein: das meine. “Gott”, flüsterte ich dennoch, um mich von dem Fremden abzulenken. “Wenn es dich gibt, und meine Alten behaupten das ja, dann mußt du begreifen, wie mein kleiner Bruder übertreibt. Nicht nur beim Opfer! Nichts gegen Rinder und Schafe, im Prinzip und als Gulasch, aber diese Viecher sollen doch von uns gefressen werden: nicht wir von ihnen! Die halbe Weide Sahara haben die Bestien schon kahl gefressen... Um deines fruchtbaren Tales wegen höre mich an, oh Herr!” “Ach, würden sich deine Felder nur halb so schnell mehren wie meine Herden”, rief mein Bruder von seinem Feuer herüber, “dann wärest du mit dieser beschissenen Welt ganz zufrieden!” Und er schnitt für den Fremden Fleisch von den Schenkeln des Opferstiers. “Du magst ihn nicht besonders”, fragte der Fremde und grub seine Zähne in das Bratenstück für eine ganze Familie. “Ein Bruder ist ein Bruder, nicht? Und besonders wird er von Papa gemocht... Andererseits: klagen kann ich nicht über ihn. Mit dem Korn-Schnaps ist dem Ackerkratzer mal etwas geistvolles gelungen, und der Herrgott wird schon wissen, warum er uns ein so dummes Brot beschert hat, nicht?” Sie sprachen mit vollen Mündern und nicht besonders laut, aber die mir mißgünstigen Winde trugen mir Wort für Wort zu, und so verließ ich mein mißratenes Opferfeuer. Daß ich mir den Schweiß der Feldarbeit abwusch, konnte Gott sowenig mißfallen wie mein Bestreben, im lauen Wasser die Wut auf den Bruder und seinen fremden Kumpan abzuspielen. Auf den Abend ging es außerdem zu, und tatsächlich sprangen, wo der lichte Wald an den Fluß reichte, auch die nackten Affen herum. Ich hörte sie fröhlich grunzen, und wie an einem gewöhnlichen Tag schwamm ich fast an das gegenüberliegende Ufer und von dort auf die kleine Herde zu. Daß sie aus dieser Richtung angreifbar waren, ging nicht in ihre Köpfe, und ich holte tief Luft für den Tauchgang. Jagte ich ein Affenweibchen im Wasser, wählte ich es von unten aus, verbiß mich in seine Zitzen und hielt es so trotz seiner Schlüpfrigkeit von der allgemeinen Flucht zurück. Allein: der Gedanke an meine nahe Entladung und Entspannung sprang zurück, als ich mich für ein Paar nicht mehr ganz feste Schenkel und das viel gebrauchte Gesäuge entschied. Diese Gier mußte die fremde, rothaarige Raupe auf meine Mutter getrieben haben. Ich tauchte auf und schwamm flußaufwärts zurück. “Sieh dir das an”, rief mir mein Bruder zu, als ich die Uferböschung herauf war. Er hing auf dem Rücken eines großen schwarzen Tieres, daß eleganter und geduldiger als die Kühe waren, auf denen wir im Kinderspiel geritten waren. “Eine perfekte Reitkuh hat er mir geschenkt! Für ein einziges Stück Fleisch!” Der Fremde war verschwunden, und mein Bruder ritt große Kreise, jauchzend und seine Herden erschreckend. Nur eine kurze Weile trotzten sie seinen Angriffen, dann wandten sie sich zur Flucht und stürmten auf unsere Felder zu. Vor allem mit seiner Reitkuh hätte der Bruder ihnen ihren Weg verwehren können, doch seine neue Größe und Macht berauschten ihn, und er trieb sie noch an. “Nein”, schrie ich und sprang der Reitkuh entgegen, den schnell gegriffenen Grabstock hebend. “Zurück, du Idiot!” “Nein”, kreischte auch mein Bruder. Er versuchte, die Reitkuh zu stoppen, aber sie wechselte nun ganz in den Galopp und trug meinen Bruder in meinen für sie bestimmten Hieb. Noch während mein Bruder fiel, verdunkelte sich der Himmel. “Gott... Gott”, stammelte ich und kniete mich neben meinen Bruder, der schon reglos war. Nur aus seinen Nasenlöchern war Blut gesickert, und doch hatte er sogar mit dem Atmen aufgehört. “Wo ist dein Bruder”, hörte ich aus dem Dunkel die Stimme des Fremden. “Wo ist dein Bruder, Kain?” Daß er meinen Namen kannte, ließ mich zusammenzucken, und ohne Zweifel würde er diesen Unfall vor meinen Alten als einen Mord hinstellen: aus Neid auf das größere Feuer, auf die hinter einem Hügel verschwindende Reitkuh, auf was wußte ich. Auch daß mir seine Frage gar keine Gelegenheit zur Antwort ließ, machte mich wütend. Abel war, wo alle geschlachteten Tiere waren, und das war zu sehen und tat mir unendlich leid. Ich faßte den Grabstock fester und stand gegen den Fremden auf. “Wüste soll die Sahara sein”, sagte der Fremde unbeirrt und genoß die Szene geradezu. Den Wind, der ihm die langen roten Locken zauste. “Und jedes Feld, das deine blutbefleckten Hände bestellen, soll im dritten Jahr Wüste werden! Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden, Amen!” Gerade den Schlag stoppte sein Zauberspruch. Ducken konnte er mich nicht. “Wegrennen ist nicht mein Ding, Fremder! Mag mein Vater mich richten, wenn es ihm gut dünkt, aber fliehen werde ich nirgendwo hin!” Der Fremde glotzte ein Weilchen, bevor er sich an den Haaren zerrte. “Das ist doch...! Freilich verstehe ich dich, aber... Du mußt auch mich verstehen, andererseits! Ich kann mich per Definition nicht widerrufen! In Berufung auf wen oder was denn?” Ich zuckte die Schultern und zog dann den Kopf ein. Aus der Richtung der Hütte kam Vater gerannt, vielleicht nur wegen des heraufziehenden Unwetters. “Vielleicht”, sagte der Fremde ohne Eile, “vielleicht können wir uns darauf einigen? Du bist unstet und flüchtig und ich drohe jedem, der dich erschlüge, Vergeltung bis in die vierte Generation an?” “Bis in die siebte”, sagte ich schnell. Ich wußte nicht, was eine Generation war, aber sieben war mehr als vier. “Und da du so ein großer Bescheidwisser zu sein scheinst: leben denn irgendwo noch andere Menschen?” “Kain, Kain”, schrie mein Vater. Er sprang mich an, aber er nahm mich in seine Arme und drehte sich zwischen mich und den Fremden. “Gut, daß dir nichts passiert ist!” Um uns zuckten Blitze, und auch die Wolken platzten nun. Haßerfüllter als ich es je vermocht hätte, sah mein Vater den Fremden an. “Ah, gut daß du da bist, jetzt! Da kannst du diesen Bastard Abel gleich mitnehmen!” “Papa”, sagte ich erschrocken. “Abel ist doch euer... ...ist doch zumindest Mutters Sohn! Und das wiegt doch ungleich schwerer als die fragwürdige Seite seiner Herkunft!” “Fragwürdig? Fragwürdig”, wütete mein Vater weiter, und hielt sich zurück, indem er mich immer fester umarmte. “Was ist daran fragwürdig? Sieh dir den Typen doch an! Jedes Weib könnte der haben! Mit dem kleinen Finger könnte er sich ganze Rotlicht-Viertel erschaffen! Aber nein! Mein einziges Weib mußte er zur Hure machen! Schöne Welt, die von so einem Gott geschaffen worden ist! Untergehen wird sie, untergehen an Gier und Ungerechtigkeit...” “Gott”, fragte ich. “Das ist...” Der Fremde sah mich verlegen an. “Am Anfang war alles wüst und leer, verstehst du? Und da wollte ich einfach...” Ein Ruck ging durch den Fremden, der unser Gott war. “Jedenfalls haben wir einen Vetrag, Kain! Vergiß nicht, unstet und flüchtig zu sein! Und was die anderen Menschen angeht: daß du dir zuviel auf dein weißes Fell und dein Stückchen Feld einbildest, wollte ich dir schon lange einmal sagen!” Ich legte den Arm um Vaters Schultern. Nachdem die Furcht um mich und die in Jahren angestaute Wut heraus waren, drückte ihn die Trauer und die traurige Pflicht, Mutter von unserem schrecklichen Unfall zu erzählen. “Und du, erster meiner unglücklichen Söhne”, dröhnte hinter uns Gott, der Fremde, “du erstehe auf und wandele in der anderen Richtung! Und wissen sollst du, daß ihr ewig leben werdet, solange ihr euch nicht wieder begegnet!"
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