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Ihr Ururur-Opa, der Einsame Leopard, weckte Nele, indem er ihr ins Gesicht sprang, und wie immer tat er das zu einer Unzeit. Nach dem Dachfenster war es kurz vor Sonnenaufgang, nach der Uhr kurz vor fünf. “Monster”, schimpfte Nele und rieb sich die getroffene Schläfe. “Wenn du sowieso immer wie ‘ne bleierne Ente fliegst, kommt das Blei wieder raus aus dem Arsch, klar?” Nele stellte das Plüschtier auf das Bücherbrett mit dem Buch der Bücher und den letzten Filmspiegeln zurück und überlegte, was sie mit dieser angebrochenen Nacht anfangen sollte. Der Kühlschrank war leer, die Küche war auch ohne Badewanne voll, und auf Arbeit wäre sie um halb sechs allein gewesen. Eine Stunde Schlaf aber verlohnte die Mühe des Einschlafens nicht. Fritz würde nur verwöhnt werden, wenn Nele ihn so früh Gassi führte oder knuddelte, und ohne eine solche Belohnung würde er sie nicht an ihre Bücher lassen, nach denen ihr allerdings auch nicht war. Nele sah den Einsamen Leoparden an, der durch ein Näh- und Stopffehler sehr schief und traurig aussah, wie ein vierfüßiger Philosoph. “Oder wolltest du was ausrichten? War es das, companheiro?” Nele glaubte nicht wirklich an Verbindungen mit dem Jenseits, weil ja schon das Telefonieren mit der Mecklenburger Tante schwerer als schwer war. Andererseits hatte ihr der Einsame Leopard freilich von sich und der Panthermuschel erzhlt, die zugleich Neles Aschenbecher und Neles Ururur-Großmutter war. So hatte Nele die Geschichte aufgeschrieben: Im Anfang war der Ururur-Wald. Er reichte von Küste zu Küste und noch ein Stück in alle Meere, und im Wald lebten schon alle Tiere seiner großen und gesunden Zeit, aber noch kein einziger Mensch. So herrschte der Leopard über alle Tiere, und da er herrschte, war er einsam. (Einsam war er auch, weil seine Leopardin in den tiefsten Busch gekrochen war, um zu jungen.) Der Leopard strich durch den Wald und gelangte ans Wasser, und wo es besonders klar und warm und besonders gut gesalzen war, sonnte sich mit geöffnetem Panzer die Panthermuschel. Ihre Flecken deckten gerade jene Stellen, an denen das Fell des Leoparden hell war, und war schon die Begegnung der beiden ein Zeichen, so war ihre Zeichnung ein Gebot. Die Bananen brachen aus den Stauden, die Mammutbäume klatschten die Äste aneinander und die Lianen verfitzten sich, angestoßen von den Schreien ihrer Liebe und Lust. Der Kater schlug Zähne und Krallen in das weiche Fleisch, und die Muschelin drückte die Schalen als Zangen gegen seine zitternden Muskeln. So zeugten sie einen Tag und eine Nacht lang das erste Menschenpaar. Es war dunkel von ihrem verschmolzenen Dunkel, und als Paar und als Hälfte war der Mensch von da an zugleich gefährlich und verletzlich, gewandt und bequem, wild und geduldig, samtig und glit- schend. Nele las den Text, den sie irgendwann in einem Zug geschrieben und nur in der fünften Zeile nachgebessert hatte, sah zu ihrem Urur-Opa und empfing tatsächlich einen Nachsatz: Und da ihn die Tiere aus ihrem Besten erschufen, bestimmten sie den Menschen zum Herrscher über Wald, Meer und Tierreich. Nele schrieb den Satz mit ihren saubersten und rundesten Bleistift-Buchstaben, obwohl er ihr zu optimistisch und zu kurz war. Der Satz ließ die typisch menschliche Zerstörungs- und Mordlust ebenso unerklärt wie die Abstammung der Bleichgesichter, aber der Ururur-Opa zwinkerte ihr kein weiteres Wort und eine Dichterin war Nele nun ganz entschieden nicht. Eine Zigarette zu rauchen, war auch an diesem Dienstag-Vorvormittag die einzige Idee, auf die Nele von selbst kam. Nele holte die Karo-Schachtel aus dem linken und die Streichholzschachtel aus dem rechten Pantoffel. Ihre Ururur-Großmutter stand immer dazwischen, wie der Schuh für den Fuß am Raucherbein. Diese Ordnung war Nele schon wichtig. Wenn sie von Uropa, Vater oder Mutter träumte, heulend aufwachte und kein Trostpflaster im Besucherbett hatte, erkannte sie den rechten Pantoffel an seiner fehlenden Bommel. Nele mußte kichern, weil ihr einfiel, daß ihre Ordnungsliebe seit drei Wochen damit begann und damit endete, und sie verschluckte sich am Rauch und hustete ein Weilchen. “Und dann sieht es bei Ihnen auch noch echt wie bei den Hottentotten aus”, zitierte sich Nele ihren letzten Besucher. Er war ein näselnder Doktor gewesen, der sicher nur der Buchhalter der Deutschen Staatsbibliothek war. Daß zwischen Nele und den muschelschlürfenden Hottentotten seit fünfundzwanzig Jahren Krieg war, hatte der Doktor natürlich nicht wissen können. Sein Satz war aber als Witz so schlecht und als Begeisterung so falsch gewesen, daß Nele ihren Fischzug sofort als beendet und mißglückt verstand. Weder die Nachtpause der Verkehrsbetriebe noch Doktor Michels Verfluchung seiner losen Zunge stimmten sie um, und solange sie wach blieb, konnte sich Nele noch jeden Buchhalter vom Bauch halten. Nur weil der Doktor vor dem nächsten Bürommorgen nicht hatte gehen, Nele aber hatte schlafen wollen, schlief seitdem Fritz unterm Wohnzimmer-Schreibtisch, Neles künftiger Wachhund. Nele schielte noch einmal nach dem Einsamen Leoparden, dann klappte sie ihr Heft zu und schob es wieder unter das Besucherkissen. “Jetzt, wo ich losmuß, die Bockwürste verdienen, mimst du den müden Kater”, schimpfte Nele und haute dem Ururur-Opa mit der flachen Hand auf den Kopf. “Ins Tier-Altersheim sollte ich dich bringen, mondsüchtige zahnlose Bestie!” In der Küche machte sich das Dach am bemerkbarsten. Der Topf- und Teller-Turm im Abwaschbecken reichte fast an einen Querbalken, und wo das Dach noch schräger und niedriger war, war die Herzchentür zur umgebauten Räucherkammer. Daneben konnte nur noch der Kühlschrank aufrecht stehen, und praktisch verbeugte sich Nele vor jedem neuen Tag. Wenn ihr Vater wirklich die von der Mutter behaupteten zwei Meter groß gewesen war, war das wohl nicht sein geringster Grund gewesen, nach Hause und in den Aufstand zu fliehen. Nur an ganz milden Wintertagen wurden die Dachstuben halbwegs warm, während im Sommer das Kaffeewasser in der Leitung kochte, und in der ganzen Gegend hatten nur die nichts gegen Neger gehabt, die selber einen besaßen. Andererseits war es fast ein Wunder gewesen, daß Neles Eltern als Tierarzt-Studenten am Ende ihrer Klingel-Expedition auf eine Hausbesitzerin mit gichtkrankem Mops und freiem Dachboden gestoßen waren. Das Hündchen war inzwischen auch gestorben, und seine Rolle als unartiger Liebling der kaum noch lebendigen Dame hatte Nele übernommen. Für das Kohlenschleppen, für ein gelegentliches Kuchenpäckchen und für den Fisch vom Freitag-Heimweg durfte Nele an den Wochenenden oder vor sehr besonderen Anlässen in die alte, herrschaftlich große Badewanne der alten Dame. Ein Dienst-Dienstag war aber kein so besonderer Anlaß, und vorsichtig, um den babylonischen Geschirrturm nicht umzureißen, streckte Nele die Hände unter den fast nur tropfenden Wasserhahn. In diesem heißen Mai seifte sie sich lieber gar nicht erst ein. Wäre in der Nähe nur noch ein weiterer Rasensprenger angedreht worden, hätte sie schließlich mit brennenden Augen in der Sahel-Zone gestanden. Mit ein und demselben Waschlappen fuhr sich Nele um die Brüste, unter die Arme und zwischen die Beine, dann stellte sie den Zahnputzbecher zum Volltropfen unter den Wasserhahn. Im Schlafzimmer dehnte und gähnte sich Nele endgültig wach, und im Korridor erschrak sie, als sie ohne hinzusehen im Höschenfach des Kleiderschranks suchte und es leer fand. “Gottverdammte Scheiße! Nun werde ich auch noch wie die Hottentotten riechen, die armen Wüstenfüchse die!” Nele schnüffelte am Montag-Slip, bevor sie doch hineinstieg, und klaubte den Overall von den Jesus-Sandalen, fast noch auf der Schwelle der Wohnngstür. “Ja doch, du Baby-Wolf, Guten Morgen”, grüßte Nele durch die Tür Fritz, der durch das Wohnzimmer tobte. “Aber wenn du nicht bald ein disziplinierter Deutscher wirst, wird Frauchen am Sonntag chinesisch essen: Schäferhund statt Schäfchen. Platz!” Nele knöpfte sich zu, ehe sie die Tür aufklinkte und mit den Fingerspitzen winkte. Der junge Hund sprang kleffend an ihr hoch, ließ sich die Ohren ziehen, den Nacken und die Zunge kraulen und folgte Nele gehorsam in die Küche. “Das war ein Witz, du Preuße!” Den Rest des Zahnputzwassers trank Nele, um nicht mit völlig leerem Magen aus dem Haus zu gehen. Nach der nie abgebundenen Armbanduhr war es nach Viertel sieben, als sie die Zigaretten und die Streichhölzer in die Brusttaschen des Arbeitsanzugs steckte. “Heute kaufen wir aber ein, Fritz! Und sobald du wieder mal abgewaschen hast, kommt auch mal wieder Fleisch für Frauchen ins Haus. Na, du verstehst schon!” Die Treppen vom zweiten in den ersten Stock und vom ersten Stock ins Parterre rannte Nele seit gut zwanzig Jahren an allen guten oder nur normalen Tagen, und immer dann übersprang sie auch die letzten drei Stufen vor jedem Absatz. In den Augen, Ohren und Gedanken dieser Mieter war sie sowieso, leise oder laut, ein lasterhaftes, unordentliches und halbverrücktes Buschgespenst, und das Poltern war ihre Rache dafür, für den Hottentotten- und den Muttermord. Wie immer wollte Nele Fritz bis in das Gras am Abwasserbach führen, und wie immer hockte sich Fritz in den kleinen Vorgarten, den der Wasserwirtschafts-Funktionär aus dem Erdgeschoß zwar nicht pflegte, aber doch als sein Eigentum ansah. “Gottverdammte Scheiße”, fluchte Nele schon wieder, suchte eine Konservendose aus der Mülltonne und schaufelte die Bescherung aus dem gelben Gras. “Der bringt es doch fertig, zu behaupten, daß ich das persönlich war! Blöder Hund...” Der Arbeitsweg war auf dem ersten und auf dem letzten Drittel immer wieder schön und versöhnlich. Zwischendurch freilich lagen er Bus- und der S-Bahn-Bahnhof, der stinkende, ewig nasse Tunnel unter den Gleisen, der Kohlenplatz und der Fischladen. Dort hatte Nele zuerst nach Arbeit gefragt, und die Verkäuferin hatte die Backen aufgeblasen und lange gedruckst, bevor sie mit einem ganz guten Argument herausgerückt war. “Eine halbe Schwarze und noch nach Fisch riechen? Ja, Mädchen, willste dich denn mit aller Macht unglücklich machen?” “Nee, noch unglücklicher nicht! Dann geben Sie mir doch mal zweihundert von den Zwergmakrelen und einen guten Rat!” “Zweihundert Gramm geräucherte Sprotten, und... Tja, in dieser Richtung liegt dann nur noch, rechts ab, der Friedhof...” Nele hatte die Sprotten aus dem Papier und mit Köpfchen und Schwänzchen gegessen, weil sie den Betonpfad vor den uniformen Neubau-Eigenheimen nicht hatte beschmutzen wollen, und der Gedanke hatte ihr wirklich Spaß gemacht: als halbe Schwarze würde sie kaum auffallen, wo alle mehr oder weniger schwarz he- rumliefen. Im Tunnel holte Fritz den freischaffenden Maler Kurt ein, der sich über das Tier erschrak und gleich darauf für Frauchen als Unbekannter Macho erstarrte. “Nele mit Töle”, reimte Kurt und küßte Neles Haaransatz. “Auch noch breit? Mensch, wenn du erlebt hättest, was ich überlebt habe, würdest du dich erst mal in den erstbesten Sarg packen.” “Ausstellungseröffnung, Gruppensex oder Haussuchung”, fragte Nele Kurts Lieblingsthemen ab. “Der Frau dort faß mal an den Kinderwagen, du Künstler!” “Gruppensex mit denen, die wegen der Ausstellungser- öffnung Haussuchung ‘macht haben... Das wäre doch mal was, nicht?” Kurt strahlte die Kinderwagen-Frau an. “Au, Mann, Nele, Negermädchen! Einen Galeriechef habe ich mir über den Tisch gezogen.” “Und? Kriegst du nun deine Ausstellung?” “Nee, das nun nicht gleich. Aber wenn der Typ nicht einen sauguten Doktor gekriegt hat, wird er morgen bei uns ausgestellt. Mit einer Zitrone im Maul...” “Danke”, sagte die Kinderfrau, noch bevor der Wagen wieder Boden unter den Rädern hatte. “Wirklich nett von Ihnen!” Sie schob schnell aus der Reichweite der offenbar Verrückten. “Hast du dich wirklich geprügelt”, fragte Nele. “Nicht geprügelt. Es war mehr ein Schlachtfest. Na, so ein Typ ist doch weder ‘s Kistenschleppen noch ‘n Schluck gewöhnt... Kopf kleiner war er auch... Mensch, frag doch nicht so genau! ‘n ganzen Spaß vermieste einem so!” Kurz vor dem Eingang zum Friedhof holte sie Franz, der letzte Überlebende einer alten Totengräber-Dynastie, mit seinem hellblauen Trabant ein. “Beim Zirkus wärt ihr besser aufgehoben”, grüßte Franz wie gewöhnlich und fuhr im Schrittempo weiter. “Wer nicht für’s Leben taugt, der sollte weder beerdigen noch sterben dürfen.” “Wird ein trockener Tag”, fragte Nele und klopfte auf das Pappdach. “Tja, auch dieTomaten müssen in die Erde. Kommt doch dann mit auf die Datsche!” “Dann”, stöhnte Kurt. Zu dritt hatten sie zwei der für den Tag bestellten drei Gräber ausgehoben, als sie der Halb abgereiste Kernphysiker mit seinem Standardwitz zum Frühstück rief: die Werktätigen des VEB Bestattungswesen sollten ihren Kampfplatz für den Frieden zu ihrer gewerkschaftlich erkämpften Pause verlassen. Noch ein Vierteljahr nach der so höflichen wie bestimmten Abfuhr mußte sich Nele zwingen, das Werkzeug vorsichtig abzulegen und nicht schneller als die Kollegen zu schlendern. Es störte sie nicht, daß der Halb Abgereiste ein verheirateter Intelligenzspargel über vier- zig war. Trotz der politischen Witze war er wunderbar traurig, und weil er im Unterschied zu Kurt nie ein Wort darber verlor, hatte Nele ihn von Anfang an für ein verkanntes und schon halb vertriebenes Genie gehalten. Er hatte wohl vor allem befürchtet, erkannt und zurückgehalten zu werden, als Nele ihm von den schweren Kohleneimern und den lüsternen Nachbarn geklagt hatte. “Und wir dachten schon, Sie würden schon auf dem KuDamm nach den Brötchen anstehen”, sagte Nele und starrte in den aufgebrühten Kaffee. Zum Glück konnte sie bei ihrer Hautfarbe keine roten Ohren bekommen. “Und das haben Sie mehr bedauert oder mehr gewünscht? Nein, nein, bevor ich zum KuDamm mache, lassen wir hier noch eine Kuh fliegen.” “Zwei Stunden sind zwei Runden”, sagte Franz prosaisch. “Und die sind außerdem fällig. Nicht gerade heute, auch die Tomaten müssen in die Erde, aber noch diese Woche...” “Als ehemaliger Angestellter der Apokalypse rate ich euch, das nicht solange zu verschieben!” Der Halb Abgereiste mußte nur mit dem Stuhl kippeln, um bis an den Kühlschrank zu reichen, und während er die Halbliter-Biere Kurt gab, der die Kronkorken mit den Zähnen abhebelte, öffnete sich knarrend die Tür. Hinter einem großen rosa Nelkenstrauß trat die Angehörige eines Kunden ein, klein und schlank, schön und streng, und der ehemalige Kernphysiker zog das schuldbewußte Ge-sicht aller beim Frühstück ertappten Neulinge. “Oh, entschuldigen Sie, Kollegen”, sagte die Frau nicht weniger schuldbewußt. “Natürlich werde ich warten, bis Sie...” Franz schluckte seinen Bissen fast unzerkaut, so gefiel ihm die Frau. “Na, zu wem wollen Sie denn?” “Uhlmann. 22. April. Aber ich warte wirklich gern!” Wieder knarrte die Tür. “Jetzt verstehe ich die mittelalterlichen Kollegen, die ihre Modelle nur auf Friedhöfen gesucht haben”, sagte Kurt und strich mit dem Zeigefinger Kaffeegrund aus dem Schnurrbart. “Kinder, wie kann man nur so blöd sein, zu sterben, wenn man so einen Körper kennt? Wie hieß der Idiot? Ich mache das schon!” “Sogar hier Amtsmißbrauch”, knurrte Franz. “Nele wird gehen!” “Aber frage unbedingt, ob sie mir Modell steht”, seufzte Kurt, “als Amazone, Salome oder Sadistin, egal! Davon hatte die doch was, nicht?” “Vielleicht wollte sich der Uhlmann deshalb hier verstecken”, sagte der Halb Abgereiste und setzte die Bierflasche an. Nele kettete Fritz vom Belegschafts-Wasserhahn ab und mußte ihn ein paar Mal Bei Fuß kommandieren, ehe er ihr einigermaßen ordentlich in Richtung des Tores folgte. “Würdest du, wenn du hier Direktor wärest”, fragte die Frau mit dem Nelkenstrauß laut, “ein Mannequin und Aktmodell einstellen?” Sie sah nicht, daß dieses Monster ihr fast schon im Nacken saß, und ihr rundlicher Ehekrüppel konnte sie nicht warnen, weil er sich mit zurückgebogenem Kopf das Gesicht sonnte. “Nein”, sagte der Ehekrüppel, eher belustigt, “obwohl ich die Kadersituation dieses Bereichs nicht kenne. Und als Direktor eines Betriebskulturhauses könnte ich mich vielleicht noch vorstellen, aber ganz direkt auf dem Friedhof...” An der Stimme erkannte Nele den Katastrophenfahrer. Der Anzug machte ihn förmlicher, älter und eben noch rundlicher, aber er war es ohne Zweifel, und Nele hätte den Job gern Kurt überlassen. Sie war nur schon zu nahe. “Scheiße”, sagte Nele unpassend und biß sich schnell auf die Unterlippe. “Du willst doch nicht etwa... Ist das...?” “Leider doch”, sagte Klaus Lammert. “Er ist, das heißt: das war... Ines!” Er faßte die Hand seiner Frau, und die Frau schaute nun tatsächlich so aus, wie Kurts Künstlerauge sie sofort gesehen hatte. “Von der Anhalterin hatte ich dir doch erzählt, Ines. Doch! Quasi wegnen diesem Hund ist Till...” “Thyl”, fragte Nele laut. “Also das ist ja echt komisch! Ich heiße nmlich...” “Komisch”, kreischte Ines Lammert. Sie verfärbte sich, riß ihre Hand los und drückte den Nelkenstrauß mit beiden Händen gegen das Oma-Kostüm, die Lehrerinnen- und Sadistinnen-Uniform. “Versuchen Sie es doch wenigstens, Fräulein, Ihre verschiedenen Beschäftigungen auseinander zu halten! Versuchen Sie es doch wenigstens!” “Der Hosenanzug, letztes Jahr, in der Sibylle, müßte Ihnen gefallen haben”, versuchte Nele, gelassen zu bleiben. “Der war doch klassisch, streng, in der Art...” “Und das Ferkel-Foto von Ihnen hielten meine Kollegen damals für das schlüpfrigste seit..., seit es Das Magazin gibt! Und das, das versuchen Sie gefälligst auseinander zu halten, mit dieser Arbeit hier!” Nele ruckte am Halsband ihres Hundes und ging stumm vor dem gewöhnlichsten Spießerpaar her, und damit hatte sie ihren Ärger auch fast schon wieder abgearbeitet. Da sie ihn nun einmal besaß, mochte Nele ihren afrikanisch großen Mund trotz der Schwierigkeiten, die er ihr machte. In Italien, fiel ihr ein, war ein Aktmodell, ein Pornomodell sogar, sogar Abgeordnete geworden, und erstens mußte die Dame Ines Lammert das Farb-Ferkel-Foto sehr genau angesehen haben, wenn die Erinnerung und Empörung noch immer nicht verjährt waren. Zweitens war es wohl schlimmer, daß ihr Mann seinen Freund direkt hierher befrdert hatte, und drittens war das Wort sehr komisch: Farb-Ferkel-Foto. Ein bißchen Dichterin war Nele vielleicht doch: Schneller, Nele! Wirf Thyl in Lammerts Pfanne, amen! Nele zuckte zusammen. Nele zeigte nur nur flüchtig auf das gesuchte Grab und traumwandelte dann, die Fingerspitzen am Maschendraht-Zaun, zur Klageweiber-Bank vor dem nächsten Gräberfeld. Die Erleuchtung, daß sie die Dreieinigkeit aus dem Buch der Bücher gewesen waren, Thyl, Nele & Lamme, hatte sie echt geblendet. Mystisch war schon gewesen, daß Nele seit ihrer Fernscheidung immer wieder an die Beschaffung eines Fritzchens gedacht hatte, dann aber ausgerechnet an einem Tag losgetrampt war, an dem es nach dem Wetterbericht und nach allen Wolken ganz sicher kalt regnen mußte. Auch, daß das gewohnt flaue Tramp-Gefühl zum Magenkrampf geworden war, ohne daß es sie abgehalten hatte, in den alten Trabbi der beiden Typen zu kriechen, hatte ein übersinnliches Zeichen sein sollen. Ganz eindeutig aber war alles mit dem merkwürdig sinnlosen Unfall: Thyls Griff in das Steuer hatte nicht eine Zufallsbekanntschaft beendet, sondern eine neue große Geschichte eröffnet. Der große Geuse Thyl Ulenspiegel starb nicht, solange ein Stück Niederlande unfrei und ohne Glück war, das ging aus dem Buch der Bücher zweifelsfrei hervor, und es gab auf der ganzen Welt kein Land, das nicht auf die eine oder andere Art danieder war... “Fritzchen”, flüsterte Nele, weil sie nur noch verschwommen sah und dafür klar vor Augen hatte, daß sie Franz nach Feierabend die Stiefel küssen oder das Grab bei Vollmond selbst aufwühlen würde. “Gehört Frauchen nun in die Klapsmühle oder ist die ganze Welt eine, und Frauchen ist das einzige gesunde Wesen drin? Urur-ur-Opa und alles das, das habe ich doch immer nur witzig gemeint.” Der Hund kleffte weit entfernt und zu fröhlich, als daß er die Frage verstanden haben konnte. Wenn Franz ihn hörte oder vielleicht gar ertappte, wie er eine Trauergemeinde auf die Birken jagte, würde Fritz einen Fußtritt fangen und in den werktäglichen Hausarrest müssen. “Fritz, du Ungeheuer!” Nele sah zum Hauptweg, und obwohl sie nicht mehr ahnungslos war, erschreckte sie der Kahlkopf im schwarzen Motorrad-Leder doch. Mager, bleich und etwas betrunken kam er auf Neles Bank zu. Er hielt einen zerbeulten Sturzhelm am Riemen, und darin steckten ein angebissenes Weißbrot und eine Schnapsflasche. Fritz umtanzte den Mann, eher ein vierbeiniger Zuhälter als ein Wachhund, und Nele bog die sowieso zu breite Unterlippe zwischen die Zähne und kaute heftig darauf herum. “Du ist auch noch aus der Nähe und tatsächlich die Königin von Saba”, sagte Thyl zufrieden. Er ließ den Helmriemen in die Ellenbeuge rutschen, angelte die Wodka-Flasche und schraubte sie auf. “Also als ich dich hier hocken sah, vermutlich dich, wäre meine schöne Auferstehung beinahe am Herzschlag gescheitert. Na, auf unsere Schocks schlucken wir erst mal einen!” Trotz der Pausen-Übung mußte Nele husten, aber sie setzte noch einmal an und trank, bis ihr Thyl das Rohr einfach wegnahm. “Wir waren nicht wirklich, nicht direkt schuld” behauptete Nele und rutschte an das von Thyl entfernte Ende der Bank, um ihr Gesicht gegen den Hundehals zu drücken. “Und du sahst ziemlich tot aus, und ein Doktor Lehmann hat deine Sterbeurkunde unterschrieben und Lamme gleich mitgegeben.” “Lammert, Klaus Lammert, heißt er.” “Jaja, und Klaus Lammert sein Auto war nur halb so kaputt wie du... Nach allem, was da so stand... Und ihr müßt euch eben ganz knapp verpaßt haben, du, er und seine Ziege...” “Und dabei war es eine ganz simpele Verwechselung. Außer dem Bewußtsein hat mir gar nichts gefehlt”, sagte Thyl und drehte wie ein Aufziehbär den Kopf. “Aber nun ist mein Bürostuhl schon neu besetzt, da habe ich anonym angerufen, und Margit, meine Frau war das... Sie wird ihrem Herrgott schon gedankt und von der Lebensversicherung die Stereo-Anlage und die elektrische Nähmaschine gekauft haben.” Nele schlug sich die Hand auf den großen Mund, so komisch fand sie den letzten Gedanken und so müde und traurig sah Thyl aus. “Elektrische Nähmaschinen soll es nur selten geben”, versuchte sie, zu trösten. Thyl trank einen großen Schluck und stierte Nele lange an, als habe sie irgendeine Schuld an allem. “Und sogar in meinem Sarg liegt schon einer. Okay, ich habe seinen Ausweis und seine Schlüssel, und seine Frau hat mich in der ganzen Zeit nicht einmal besucht... Aber deshalb kann ich doch reinschneien wie der Wolf zu den sieben Geißlein: April, April, euer Papi ist längst tot und liegt unter einem gefälschten Grabstein! Oder?”
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