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Nele blätterte im Buch der Bücher, während Thyl die vielleicht zwanzigste Karo anzündete und nichts als dreiecke und Quadrate aus den Vorratszigaretten zustande brachte. Lamme schälte hauchgdünne späne vom französischen Emmenthaler aus Thyls Direktoren-Kantine und versuchte vergeblich, die Späne auf der Zunge zergehen zu lassen. Letztendlich zerkaute er sie doch immer wieder, und nur wenn einer von ihnen nach der Wodka-Flasche griff und die Gläser füllte, taten sie für einen Moment gemeinsam und gleichzeitig dasselbe. “Wenn du so alt wirst, wirst du bestimmt Reisekader! Und du warst sogar schon in Hollywood”, sagte Nele und schraubte die zweite Wodka-Flasche auf. “Und ich soll auf diesem Friedhof leben, arbeiten und sterben? Ich soll das auch noch wollen, ja?” Thyl nickte tiefsinnig, Lamme biß ein Stück Käse ab und Nele goß ein. “Jungs! Für nichts sonst würde ich euch eintauschen, ehrlich, und noch am Ende der Welt oder meiner Tage werde ich deshalb ein sauschlechtes Gewissen haben.” Sie warteten zu dritt auf das kleinste Aber, aber sie schwiegen zu dritt und tranken dann die Schlucke über ihren letzten gemeinsamen Durst. Der Nele und Thyl bekannte kupferfarbene und schuppige Teig lag fast ruhig in einem großen und schüsselrunden Raum. Der Couchgarnitur war nicht anzumerken, daß dieser Boden lebte und bebte, und in der medizinisch und optisch richtigen Entfernung von den grünen Cord-Polstern hielten sich, verläßlich wie zwei jaanische Farbfernseher, zwei bunt schimmernde Blasen. Eine zeigte eine feierliche Betriebsbesichtigung mit Polizisten und Dolmetschern, und auf der anderen tanzten sich eine Brünette und eine Blondine ungeschickt aus großmütterlichen Korsagen. Nele, Thyl und Lamme starrten auf die Bilder, spielten ihre Aufmerksamkeit aber nur. “Gott, was ist denn schon dabei”, nuschelte Lamme schließlich, mit erdnußvollem Mund. “Das ist doch die Nebenbeschäftigung aller Zimmermädchen aller Zeiten und Breiten. Und bei unserer letzten Party hast du weder das Manifest gelesen noch deinen Mittelfinger geliebt.” Lamme verschluckte sich und zerhustete sein angestrengtes Lachen. “Jedenfalls nicht nur ihn.” Nele leerte das Whisky-Glas und lutschte den letzten Eiswürfel, bevor sie nachgoß und aus dem Thermos-Kübel nachschaufelte. “Das ist doch diese ewige weiße und männliche Lüge”, sagte Nele, kniff die Augen zu Spalten und preßte die Lippen aufeinander. Ihre Nasenflügel zitterten. “Seit Captain Cook, von dem ich gerade lese, seid ihr mit euren Kanonen, Glasperlen und weißen Schwänzchen angeseglet gekomemn und habt uns mit aller Macht des Nordens lang gelegt und ohne zu fragen gefickt. Und dann erkkärt ihr das mit eurer Schulbuch-Weisheit zu unserer Gewohnheit und liebsten Nebenbeschäftigung! Das ist dabei, du Hefekloß! Und das verzeihe ich dir, du Rassist-Leninist!” Thyl machte nur den Che Guevara. Er hielt die Zigarre mit den Zähnen, kratzte sich den bärtigen Hals und sah mit verträumten Augen. Allerdings sah er nicht mehr die Weltrevolution. Er hätte fast alles gegeben und getan, um an die Stelle des blauen Federschals zu kommen, den die Blondine an ihren weißen Brüsten mit den roten Knospen rieb. Solange diese Sendung lief, fiel es ihm nicht schwer, seine Antwort aufzuschieben. Dann trank auch er einen Schluck. “Deine companheiros machen solche Kleinen zu Huren! Mit ihrer Mißwirtschaft und mit Hunger! Indem sie sich zu sozialistischen Göttern aufblasen! Da war ich noch immer ein Viertelgöttchen eben, und so ein Klaps halt ein Befehl für ein Zimmermädchen. Erstens...” Thyl nahm Nele die Whiskyflasche weg und goß sich und Lamme tröstlich viel nach. “Und auch mein Zweitens hör dir noch an, bevor du dich taub säufst! Die Kleine und ich, wir haben einfach gehorchen müssen, bunt oder weiß, Kerl oder Girl! Hatte ich denn eine Wahl, als dir der Bruder des Ministers an die Wäsche ist? Und nicht diese Party-Überraschung an sich hat mich aufgeregt, sondern daß du gerade diesen Gorilla rangelassen hast! Und den Gorilla, mein Schatz, meine ich nicht rassistisch, sondern ausgesprochen politisch!” Nele beugte sich über den Tisch, um die Flasche zu greifen oder Thyls Augen auszukratzen, und vorsichtshalber stoppte Lamme sie, indem er nach neuen Erdnüssen langte. “In Wirklichkeit, ihr Turteltauben, vertragt ihr doch nur nicht, daß ihr in fremden Nestern wart”, sagte Lamme versöhnlich. “Spielt also nicht zwei Krähen, die sich die Augen aushacken wollen! Wir sind schließlich zwei und ein halber weißer Rabe unter Millionen schwarzen und so weit von...” Er stopfte sich den Mund, kaute gründlich und holte tief Luft. “...von Zu Hause!” “Quatsch”, riefen Nele und Thyl einstimmig, und es war ihre letzte Übereinstimmung. Noch an diesem Abend verließen sie die enteignete Villa des portugiesischen Kolonialbeamten in verschieden Richtungen. Thyl zog zu den Verdammten der Erde, und Nele wandte sich endgültig deren schwarzen Erlösern zu. Dann saß Thyl neben der Tür einer Papphütte, bewegte die Füße nur, wenn der kupferfarbene Schlamm zu sehr spannte, und starrte abwechselnd in das Kommunistische Manifest und in die kubanische Rum-Flasche. Irgendetwas hatte er falsch gemacht. In Ordnung war, daß er in die Vorstadt gegangen war, und außer Schreib- und Rechenstunden und Sozialismus-Lektionen hatte er ja nichts gehabt, was er Schwagern und Schwägerinnen, Nachbarn und Freunden verkaufen konnte. Anders hätte er den Reis und den Schnaps, um das entlassene Zimmermädchen, die hellhäutigen Drillinge und sich selbst vor dem Verhungern und Verdursten zu retten, gar nicht bezahlen können. Falsch war auch nicht, daß er die Leute seiner nächsten Umgebung dazu gebracht hatte, Knüppeldämme in den Ghetto-Schlamm zu legen. Der Fehler lag erst, aber gleich danach. Daß seine Leute mit der eben erlernten Schrift Plakate gemalt hatten, war der Wahnsinn. Ausbeutung hat keine Hautfarbe hatten sie geschrieben, Jeder Funktionär hat einen weißen Kern und sie hatten den Knüppeldamm mit zu der Wahlkundgebung genommen. Vielleicht aber waren sie im Recht und vernünftig gewesen, und er war nur ewin besoders weitgereister und ein bißchen wortgewandter Feigling. In der Hütte greinten die Drillinge, Thyl wedelte mit dem Manifest die Fliegen von seinen Füßen und war fast froh, als Lärm näherrollte. Das war eine Flucht, die ihn erinnerte, was er zu tun hatte. Er hatte der Jesus oder der Che Guevara dieser Vorstadt zu werden, und Thyl trank die Neige und wankte in sein letztes Gefecht. An der Spitze der Jagdgesellschaft ging ein weißer Offizier, einen langen und schon blutigen Schlagstock gegen die Uniform-Stiefel klopfend. Thyl schüttelte die Hände seiner besorgten Nachbarn ab und ging dem Hauptmann entgegen, der bei seinen Menschenjagden abgemagert, aber noch unverkennbar sein Kumpel Klaus Lammert war. “Altes Haus”, rief Thyl und streckte die Hand aus. “Du hättest schreiben sollen, daß du zur Taufe kommen willst! Und du hättest nichts soviele von deinen Freunden mitbringen sollen! Die kriegen wir unmöglich satt und blau!” “In aller Freundschaft”, sagte Lamme und hob den Knüppel. “Vor die Konterrevolution sollte sich nicht einmal mein bester Freund stellen!” Thyl grinste. “Das würde ich doch auch nie machen! Ich stehe nur vor meinen Kindern und den Verwandten meiner Frau.” “Deine Frau, Nele, ist von diesem Pöbel in ihrer Rede unterbrochen und mit Dreck beschmissen worden”, sagte Lamme. Immerhin schien er unglücklich, daß sich hinter Thyl die Vorstadt und hinter ihm eine Eliteeinheit zum Angriff formierte. “Das kannst du doch nicht vergessen haben, daß du zu Nele gehörst!” “Und Seine Exzellenz, der Bruder des Genossen Minister?” “Na, du lebst, wir haben da unsere Informationen, auch nicht gerade wie eine Slum-Nonne!” Lamme grinste ebenfalls. Er hielt es für möglich, daß sie mit den nächsten zwölf Witzen die beiderseitige Wut zerreden konnten. Dann konnte Lamme mit zehn, zwölf Mann und ohne Zwischenfälle die hundert, hundertzwaanzig Rädelsführer greifen und abführen. “Was ist los bei dir? Machst du ein Skat-Turnier?” In dem heranrasenden Jeep stand Nele, dick geworden und in einem bunten Kleid mit dem Bild des Präsidenten. Die meisten Schlammbatzen hatten dieses Bild getroffen, und die Platzwunde auf Neles Stirn war Thyl nur ein verirter Steinwurf, der bestimmt ihrem Minister-Bruder gegolten hatte. “Was für Beweise braucht ihr denn noch”, kreischte Nele, “daß diese Hungerrevolten kein Jux sind?” “Genau”, sagte Thyl und trat auf das Auto zu. Daß ihm seine Leute und sein Zimmermädchen sofort folgten, störte ihn in diesem Moment. “Hunger ist kein Jux, und weil wir endlich mal zusammen und Vor Ort sind, könnten wir doch zusammen los und das Gefängnis stürmen!” “...sondern getarnte Konterrevolutionen”, vollendete Nele nach einem kurzen Zögern. Sie streichelte Thyl über den Kopf, sah ihm traurig in die Augen und krallte dann die Finger in seinen dünnen Che-Guevara-Bart. “Ihn mußt du einlochen”, rief Nele Lame und den schwarzen Bullen zu. “Das Geständnis haben wir, und wer ihn bezahlt, kriegen wir auch noch raus! Versteht ihr das, ihr Kaffern?” Hinter Thyls Rücken entstand Unruhe. Seine Leute wichen wohl zurück, aber als das Greifkommando auf Thyl zustürmte, flogen Steine. “A luta continua”, schrien Nele und das Zimmermädchen gleichzeitig und gleich laut. “Die MPLA ist das Volk”, sang Nele ihren Polizisten Mut zu. “Das Volk ist die MPLA”, sang das Zimmermädchen. “Der Kampf geht weiter!” Der Motor des Jeeps heulte auf, Schüsse krachten. Als Thyl aus einer kurzen Ohnmacht aufwachte, drückte die Seitenwand des Jeeops Neles Brust ein und Lamme rannte mit gezogener Pistole auf sie beide zu. Das Zimmermädchen, das Lamme erst seit Minuten kannte, sprang ihm in den Nacken, und Lamme schüttelte das Angreifende ab und schoß es ohne hinzusehen zwischen die Augen. Thyl drückte das Gesicht in den Schlamm, stieß sich die Stirn an einem Stein, nahm den Stein in die Hand und erwartete seinen besten Freund. Es war ihr letztes gemeinsames Trinken, und es fiel Nele in jeder Beziehung schwer. Die Gläser auf den beiden Zinksärgen blieben unberührt, und wenn Nele ihr Glas an die Lippen brachte, mit dem linken, nur zweimal gebrochenen Arm, brannte ihr der Wodka in den Wundlöchern der sieben ausgebrochenen Zähne. Die Tränen weichten die Laschen im zerkratzten Gesicht auf, und wenn sie seufzte, bohrten sich die Rippenstücke trotz aller Flickdrähte in ihre Lunge. Der Leutnant, den der Bruder des Minsiters zu Neles persönlicher Verfügung abkommandiert hatte, schwankte zwischen Zurückhaltung und Pflichterfüllung. Er stand schon eine Weile salutierend vor seiner einäugigen Chefin und wartete auf deren Erlaubnis-Zucken. Nele bewegte den gebrochenen Unterkiefer, ohne ein Wort hervorzubringen. “Die bewußten drei Babies sind verschwunden, also versteckt worden”, sagte der Leutnant behutsam. “Ich wüßte zwar, aus wem wir die nötigen Informationen herausprügeln könnten, aber...” Er trat von einem Fuß auf den anderen. Ein paar Minuten lang ließ er seine Stiefel knarren, dann flüsterte er. “...aber, comanheira, wovon willst du die drei Kinder ernähren? Und dich?” “Wie”, ächzte Nele, und das Glas zitterte in ihrer Hand. “Der companheiro Bruder des Ministers wird sicher abwarten, wie du einmal aussehen wirst...” Weil er ein gutmütiger Adjutant war und sie seinem siebten Kind eine vermögende Patentante gewesen war, vermied es der Leutnant, mit Nele wie mit einem Huren-Wrack zu reden. Er verlor ja auch mit ihr. “Zigarette”, fragte der Leutnant, und beugte sich über Thyls Sarg, um Nele eine Selbstgedrehte zwischen die Lippen zu schieben. Mit dem Feuer war das schwieriger. Der Leutnant hatte weder ein Feuerzeug noch Streichhölzer zur Hand, und Neles Genick war zu eingegipst, als daß sie sich an der Petroleumlampe hätte bedienen können. “Es gibt”, sagte der Leutnant tröstlich, sah sich in dem Raum um und drehte eine Stück rotweißes Papier zum Fidibus zusammen, “es gibt aber immer einen Ausweg.” Nele sog den Rauch ein und genas noch vor dem zweiten Lungenzug. “Ja, was denn”, stammelte Lamme und pustete los. “Wie, wieso? Willst du denn...” “Nein”, kreischte Thyl, als drehe der Panzer des Strafkommandos noch einmal auf seiner Brust. “Das bereust du! Morgen, übermorgen... Und nicht wegen mir und nicht...” Nele erschrak und ließ ihren Flugschein fallen. Das Flämmchen erlosch sofort, und mit ein bißchen Gezeter wäre sie am Morgen noch durch das Check In gekommen, aber Nele war mit einem Mal sehr sicher. “Zwei sind niemand”, erinnerte sie den früheren Traum, und um nicht als deutsche Patriotin zwischen ihren Männern zu sitzen, knirschte sie heftig mit den Pferdezähnen. “Und ihr zwei besonders! Und der Mielke soll sich auch nicht zu früh freuen!”
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