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Wenn er bei Sonne an ihrem Schreibtisch saß, aber bei Regen und Schnee mit ihr Würmer füttern ging, suchte er sich das Wetter ja praktisch selbst aus, hatte Thyl Nele gelegentlich erklärt. An diesem Morgen aber goß es so, daß er auf seine Herrschaft über das Wetter verzichtete und mit Nele und der ganzen Brigade schon die zweite halbe Stunde beim Frühstück aushielt. Den 10.00 Uhr-Sarg bereitzustellen, war alles, was Franz seinen Leuten an diesem Tag noch zumuten wollte, und das große Thema war die Unverschmätheit des weltlichen Leichenredners. “Tut mir leid”, beschied Franz auch der dritten Hinterbliebenen-Delegation. “Wir haben nischt mit den Pfaffen keiner Konfession zu tun. Nischt, solange die noch leben. Unsereiner ist hier der Transport-Maxe, nischt weiter, aber Verlaß ist auf uns.” Zum dritten Mal schaffte es Franz, daß einer der Hinterbliebenen eins der stumm beanstandeten Gläschen Kirsch-Whisky austrank und ratlos, aber rätselhaft getröstet verschwand. Sofort stand Nele auf, um das Glas auszuspülen, abzutrockenen und wieder bereitzustellen. “Das ist Frühjahr 45, ich war noch Stift, zum letzten Mal passiert”, sagte Franz düster. “Da hatten die heiligen Raben Angst vorm Russen. Sind einfach weg. Da habe ich mir gesagt, bei soviel Schiß kann nischt dran sein an Hölle und Himmel, und bin raus aus der Kirche. Frage ist nur, wer kommt heut und was mache ich?” “Mach’s wie ich”, sagte der Halb Ausgereiste. “Naja, wenn ihr Philosoph nicht hier wäre”, sinnierte Kurt, “würde uns Nele bestimmt drüber weg trösten. Stimmt’s, Neger-Mädchen?” “Aber das ist es doch”, sagte Franz und stieß mit dem Glas an die Flasche. “Wenn ein Philosoph über Gott und die Welt, Alles und Nichts und so weiter reden darf, ist er doch praktisch dasselbe wie’n Pfaffe, nicht?” “Aber aussehen tue ich wie der Gärtner, der Mörder”, sagte Thyl und küßte Nele die Augenlider. “Und in punkto Tod ist der Marxismus nicht besonders durchdacht.” “Gestorben ist der Marx ja trotzdem”, sagte Franz entschlossen. “Und ihr könnt die zweihundert Mäuse doch brauchen, die ich aus dem Dröhnbeutel rausschüttele, dafür...” “Und ich mal ‘n Bild, drei mal fünf Meter”, versprach Kurt. “Jedes Teil von deinem Negermädchen, das du sehn willst!” Er legte die Daumen- und Zeigefinger-Kuppen zusammen und züngelte im vorgestellten Mösen-Rhombus. Nele kippte ihr Bierglas in Kurts Gesicht aus, nahm Thyl bei der Hand und entschied für ihn. Sie kannte ihren Konto-Stand und konnte nicht aushalten, Leute, denen sie ohne Gefahr helfen konnte, ohne Hilfe zu lassen. “Irgendwo drüben liegt ein Pfaffen-Kostüm rum”, sagte Nele. “Gibt es einen lieben Gott, wird er dir das nicht übel nehmen, und ist da oben nur ein schwarzes Loch, ist es sowieso egal.” Die Friedhofs-Mafia stand an der spaltweit offenen Tür des Referenten-Ruheraums, als Thyl auf das Redner-Pult zuschlich und sich mit der Vorstellung beruhigte, seine erste eigene Vorlesung zu halten. “Zorn mag sich zu Ihrer Trauer gesellen, liebe Trauergemeinde”, redete Thyl gegen das Tuscheln derjenigen an, die den Redner gemietet hatten. “Zorn, da ich so spät erscheine, um Ihren Schmerz zu teilen. Und was könnte mich auch rechtfertigen? Gerade heute bin ich Vater geworden, Vater von Zwillingen, und das wäre die Wahrheit, so sehr es nach Abwiegelung klänge. Doch nicht dadurch und nicht durch das Wort Erlösung will ich Ihren Schmerz schmälern, der von Ihnen Besitz ergriff bei der Nachricht: ein Ihnen naher und lieber Mensch ist nicht mehr. So jung von uns gegangen, werden Sie gedacht haben...” Thyl zupfte an seinem Kostüm-Ärmel. Daß an der Bahre eines Hundertjährigen vom frühen Ende geklagt wurde, war schließlich der älteste aller Totengräber-Witze. “...und so war es denn auch. Hundert Jahre wären diesem Menschen zuwenig gewesen, Ihnen alle Liebe zu geben, die er geben wollte. Aber auch das Wort Erlösung ist heute angebracht. Wieviel Kraft und Mühe und Liebe verlangt uns doch ein einziger Tag ab, den wir anständig leben, wieviel Prüfungen und Ängste, Kränkungen und Krankheit lädt uns doch ein einziger Tag auf.” Ähnlich dialektisch sprach Thyl von Gerechtigkeit und Zärtlichkeit, und die drei Reihen Trauernde hörten ihm zu wie die Philosophie-Seminare, denen er ohne Vorsicht von Rosa Luxemburg erzählt hatte. “Unsere Geburt war ein Zufall, ein Wunder der Natur”, schloß Thyl, von der eigenen Rede ergriffen. “Und auf sie folgt gesetzmäßig und aller Wunder bar der Tod. Aber heute und hier möchte ich Sie einladen, auch den Tod als ein Wunder zu verstehen, als eine zweite Geburt. Von heute an lebt dieser Mensch neu: im Himmel vielleicht, aber ganz sicher in allem, was Sie in Ihrer Erinnerung behalten. Dieser Mensch ist nun fehlerloser als je zuvor. Er hat sich vervielfacht, an Sie ausgeteilt, und er wird so lange dauern wie wir und vielleicht noch länger.” Thyl verbeugte sich vor dem mit Blumen überhäuften Sarg, ging auf die erste Reihe der Trauernden zu und drückte allen dankbar die Hand. “Du kanntest den teuren Toten doch”, behauptete Kurt, als sie wieder bei Bier und Kirsch-Whisky saßen. “Idiot”, knurrte Franz. Er goß Thyl Schnaps nach und schlug ihm auf die Schulter. “Das ist es, der Funke! Du bist der geborene Leichenredner, Junge!” Nur Nele verstand, daß Thyl im diesem Moment seines Triumphes weinte. Derlei war ihm mit Sicherheit nicht nachgeredet worden, obwohl jeder Mensch solche Gedanken verdiente. Er verdiente sie vor allem, bevor er starb.
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