Ich wurde mit Besuchen nicht gerade verwöhnt. Nur die Besucher selber verwöhnten mich noch seltener, und eigentlich hat sich daran bis heute nichts geändert. Wie heute noch war ich auch damals sofort in Harnisch, in der Stimmung, sofort zu ziehen. Immer, wenn ich drei Viertel der Seite getippt hatte, klingelte es nämlich. Ich tippe nach dem System Steinadler, und daß die Idee einer Seite, gibt es überhaupt eine, nicht vor dem letzten Viertel abzusehen ist, ist mein Problem. Genau genommen ist das nur eines meiner Probleme, aber das versteht sich wohl von selbst. Natürlich hatte ich, als es klingelte, auch erst den zweiten Zug an der zwanzigsten Zigarette gemacht.

An Fäkalien zu denken, das Blatt aus der Maschine zu zerren und aufzustehen, daß der Schreibtisch-Stuhl gegen das querstehende Bücherregal kippte, waren Sachen eines Augenblicke. Nur die Suche nach dem Wohnungsschlüssel dauerte. Wie in anderen lebte auch ich auch in der Angst, ein Telegrammbote könnte mich nach unten brüllen, und während ich schon wieder beim Aufstieg wäre, würde die Wohnungstür ins Schloß krachen. Wer je in der Proletarier-Intensivhaltung ausgehalten hat, kennt die Klimatisierung mittels Tür- und Fensterritzen und diese, ihr entsprechende Angst. Daß Zentralheizung bis in den Mai besonders unansprechbar oder ausgesprochen potent mache ist also ein Gerücht. In acht von zehn Fällen sucht der Angeklingelte einfach den Wohnungsschlüssel, zumal aus ökonomischen Gründen nur noch ein Türöffner pro Etage üblich ist.

Als ich den Schlüsselbund aus “Ästhetik der Kunst” schüttelte, klingelte es noch einmal und dann anhaltend, und beim Verlassen der Wohnung stolperte ich über den Schuhabtreter. Ich fing mich am Treppengeländer und rief nach unten, daß der Klingelknopf verkantet sei. Im ersten Stock wurde geflucht. Nachdem die Besucher zum zweiten Mal geklingelt haben, entdecken sie gewöhnlich, daß die Haustür gar nicht eingeklinkt ist und machen sich an den Aufstieg. Was mich für diesen Besucher einnahm, war, daß er sofort umdrehte und die Sache in Ordnung brachte. Er konnte freilich auch die ganze Tastatur abgerissen haben, denn das kam vierteljährlich auch vor, war aber andererseits im letzten Vierteljahr bereits zweimal passiert. Jedenfalls wurde es so still, daß ich die Kinder aus der zweiten Etage “Colt für alle Fälle” sehen und den Besucher immer höher schnaufen hörte. Ich hätte noch Zeit gehabt, mich umzuziehen, die fast neue OP-Anzugs-Hose gegen die alten Jeans zu tauschen, nur kam ja nicht ich ungelegen zu mir. Ich ging also ins Wohnzimmer, um die Liege auf zuklappen und stopfte das Bettzeug hinein. Mehr hätte ich auch für einen Papst-Besuch nicht getan.

”Doktor Schwarz? Er drückte die Tür ein wenig auf, und weil ich beschäftigt war, zwei Zentimeter Zigarettenasche bis über eine Untertasse aus dem Abwasch an der Zigarette zu halten, konnte ich unmöglich antworten. ”Doktor Schwarz”, wiederholte er und stieß die Tür kräftiger an. In Filmen wäre des der Augenblick gewesen, in dem er des erste Stück Leiche gesehen hätte, in dem der Mörder schießend aus dem sechsten ins siebte Zimmer gesprungen wäre. Tatsächlich stieß die dick mit Mänteln und Jacken behangene Garderobe gegen des Schuhregal, federte die Tür zurück.

Ich nahm die Untertasse mit, falls der Besucher nur nach leeren Flaschen fragen oder mich für die Hausgemeinschaftsleitung werben wollte.

“Es liegt echt nur an den Besuchern, daß ich noch nicht Professor bin.” Knapp vor dem alten Mann blies ich Rauch zur Decke, die Unterlippe vorgestreckt. ”Aber Sie, konkret, stören wohl zum ersten Mal.”

”Wären Sie ‘ne Blondine, würde ich ja Besserung versprechen.”

Er war zu alt, um in diesem Ton zu antworten. Er wollte es nur nicht wahrhaben. Er bemühte sich, sich wie ein Vierzigjähriger zu bewegen, und das Wunder war, daß er in den letzten Vierzig Jahren nicht vergessen hatte, wie sich ein Vierzigjähriger benahm und bewegte. Er legte seine Zigarette auf meiner Untertasse ab, fischte mit beiden Händen in den Taschen des Trenchcoat und brachte mit der Linken eine vergilbte Karte zum Vorschein. ”Ich bin Marlowe, Privatdetektiv.‘

Zuerst einmal schenkte ich ihm das Kompliment, dafür sähe er noch gut aus. Gegen Hut und Mantel war auch nichts zu sagen. Beides war neuer als er und wieder in Mode.

”Komisch”, sagte ich, während ich die Tür weiter aufzog und ihn an mir vorbei ließ, ”dabei sehen Sie gar nicht wie Humphrey Bogart oder so aus.”

”Ich bin auch nicht Humphrey Bogart. Ich bin Marlowe, Philipp Marlowe, und wenn Sie Doktor Schwarz sind, hätte ich...”

"...einige Fragen”, tippte ich und bückte mich nach seiner Reisetasche.

”...gern einen Stuhl. Und einen Whisky vielleicht.”

”Trinken Sie den ruhig, wenn Sie welchen dabei haben!” Auch seine Tasche war eher mein Jahrgang als seiner, und er konnte nicht nur leicht verrückt sein, wenn er die halbe Freiheitsstatue mitschleppte, um seine Nummer fünf Treppen hoch abzuziehen. ”Dem Alter nach könnten Sie übrigens wirklich Marlowe sein”, sagte ich, um ihm eine kostenlose Freude zu machen. ”Achtzig sind Sie doch bestimmt schon.”

Er war auf dem Stuhl zusammengesunken, aber mit einer für sein Alter märchenhaften Energie bekam er den Rücken noch einmal gerade. ”Zweiundachtzig. Nur wollte ich hier die Fragen stellen.” Ich nickte. ”Zuerst mal: ich mag Sie, Doktor.”

”In den Romanen von Chandler mögen Sie die Leute aber nie. Blondinen ausgenommen.”

”Das waren dann aber andere Leute: bessere Leute mit besserem Whisky in der Hausbar, als ich mir je leisten konnte. Und mit jeder Menge Dreck am Stecken.”

Ich kniff die Augen zu. kurz. Ich hatte den Dreck auf dem Teppich, einige Keks-Krümel dazu, obwohl Florian schon zwei Tage bei Sylvias Eltern war, und ich nahm die Rede als Anspielung. Auch den fehlenden Whisky hatte er mir schließlich serviert, und vor allem roch ich geradezu, daß er mir gleich noch ein Loblied auf den leider nie zuvor geschauten realen Sozialismus singen würde. Der Mann, der Marlowe sein konnte, lächelte traurig.

”Als es mir noch Spaß gemacht hätte, bin ich praktisch nie aus L.A. rausgekommen. Wußten Sie das? Und abgesehen von allen chiquen Klischees: sechzig Jahre lang zwischen Hollywood und Pasadena und Pasadena und Hollywood unterwegs, und Sie finden Ihre S-Bahn von Friedrichstraße nach hier aufregender.”

”Verstehe ich.” Da ich noch herumstand, beschloß ich, uns Kaffee aufzubrühen. Ich mochte Marlowe ja auch, als Roman-Helden, und den alten Mann, der ihn nachmachte, fand ich spaßig. ”Nachfühlen kann ich das andererseits nicht”, sagte ich aus der Kochzelle.

Marlowes Kopf kippte nach hinten, als sei der Mann den ganzen Weg aus Hollywood oder der nächsten Klappsmühle nur gekommen, um auf meinem Stuhl zusammenzuklappen.

”Doktor”, ächzte Marlowe, als ich schon ernsthafter überlegte, welche Lebensrettungs-Übung angebracht war. ”Doktor, kennen Sie einen Sakharov? Fritz, ‚Sugar‘ genannt?”

Ich staunte, daß ihm der Hut nicht einmal jetzt vom Kopf fiel, und erzählte vom einzigen Sakharov, den ich auch nicht kannte. Der Mann hatte die sowjetische Wasserstoff-Bombe gebaut, später ein schlechtes Gewissen, den Friedens-Nobelpreis und schließlich einen Anruf von Gorbatschow bekommen. Ich hatte den Typen wohl auch nie kennenlernen wollen, und als der Wasserkessel pfiff, fiel mir ein, daß mein Sakharov außerdem Andreas hieß, genannt Andy.

Marlowe krächzte, was wohl der Rest seines in den Literatur-Lexika gerühmten bitteren Lachens sein sollte. Dazu versuchte er, eine von meinen Riesaer Streichhölzern gut amerikanisch an der Tischplatte anzureißen.

”Mein Sakharov...” Marlowe nahm den Hut ab und wischte mit dem Mantelärmel über die Dreiviertel-Glatze. ”Mein Klient ist kein solcher Waisenknabe. ‘Schlechtes Gewissen‘, nicht eine blaue Bohne, haha! Der ist ein ganz hohes Tier, Hochwild, in der Firma, wenn Sie verstehen.” Nach irgend­einem, aus meiner Küche nicht einsehbaren System ordnete Marlowe die letzten weißen Haarsträhnen, bevor er den Hut wieder aufsetzte und deutlicher wurde. ”Ich soll ihm aber eine Leiche aus dem privaten Keller fortschaffen. konkret: bei Ihnen abladen.” Er nickte zu seiner Tasche und hustete. ”Ich würde verstehen, Doc, wenn Sie mir was husten... Der alte Phil Marlowe im Sold der CIA, das ist schon ein Widerspruch. Bloß: bei meinem Job und Lebenswandel habe ich doch nicht zu träumen gewagt, daß ich bei ner Rentenversicherung was rauskriegen könnte. Na, und nun muß ich die Aufträge annehmen wie sie kommen. Falls sie kommen.”

”Fünfundzwanzig pro Tag plus Spesen”, sagte ich kundig und löffelte Marlowe nur halb soviel Kaffee in die Tasse wie mir. Ich war nicht scharf drauf, mir aus purer Gastfreundschaft und absoluter Gleichmacherei einen herztoten alten Mann auf den nicht staubgesaugten Teppich zu legen.

”Sakharov zahlt mir hundert”, gestand Marlowe. ”Aber selbst damit kommt man kaum noch über die Runden, heutzutage und in meinem Alter. Raymond hatte mir ja versprochen, mich an den Büchern zu beteiligen, aber... Doc, wenn Sie‘s überhaupt tun, dann verkaufen Sie Ihre Memoiren lieber ‘nem Analphabeten als einem Schriftsteller.”

Um Marlowe den Kaffeetopf vorsetzen zu können, mußte ich die Brieftasche beiseite schieben, die er genau auf die Ringe aller früher abgestellten Tassen gelegt hatte. Die Brieftasche war aufgeklappt. In einer Plaste-Hülle steckte eine Mitteilung des Staates von Kalifornien über einen Mr. Philipp Marlowe, und als ich die Hülle umdrehte, hatte ich eine LICENCE vor mir, 1985 zum letzten Mal gestempelt. Aus einem Fach im abgegriffenen Leder lugte etwas, was die Ecke eines vermutlich echten Dollars sein konnte. ”Also Sie sind doch nicht etwa”, sagte ich, während ich mich langsam auf den Stuhl herabließ, ”Philipp Marlowe? In Wirklichkeit und der wirkliche?”

“Junge!” Marlowe schreckte aus seiner Art Versammlungsschlaf, fuhr mit der Hand über das schlecht rasierte Kinn und erwischte mit Zeige- und Mittelfinger die kalte Zigarette. ”Solange haben ja nicht mal eure Einreise-Formalitäten gedauert.”

Er trank einen ziemlichen Schluck Kaffee und neigte sich nach rechts. Dann geschah sehr lange nichts. Ich begann zu argwöhnen, daß ich ihm statt des Zucker-Napfes das Zyankali-Faß hingestellt hatte, aber tatsächlich hatte Marlowe nur die Kraft gesammelt, seine Tasche auf die Knie heben zu können.

”Daß Sie sich am Telefon ganz schön anstellen müssen, wenn Sie mich hochgehen lassen wollen, habe ich recherchiert”, triumphierte Marlowe und stapelte hand- und computergeschriebene Papiere. “Sie müssen übrigens nichts quittieren. Fragen Sie mich nicht wie, aber irgendwie wird Sakharov erfahren, daß ich meinen Teil erledigt habe.” Er krönte den Papierstapel, manche Blätter hatten angesengte Ränder, mit zwei Video-Kassetten. Die Brieftasche verstaute er umständlich im Trenchcoat, schnell trank er die Tasse aus. “Okay, Doc. Ich wußte, daß ich Sie mögen würde, obwohl Sie keine Blondine sind.” Marlowe stand so schnell auf, wie des ein Zweiundacht­zigjähriger vermochte, und schlich in Richtung der Wohnungstür. “Geben Sie mir zwei Stunden Vorsprung, ja? In Erinnerung an meine besseren Tage...”

”Ich muß noch in die Kaufhalle, da stehe ich an der Kasse. Dann stehe ich auf dem Markt, nach Tomaten”, rechnete ich ihm vor. ”Aber dann muß ich anrufen, sobald ich dran bin und falls das Telefon funktioniert. Sie könnten also rüber kommen, wenn nicht gerade Schienenersatzverkehr ist.”

Bevor er den Abstieg begann, sah sich Marlowe noch einmal um. Er holte auch noch einmal tief Luft.

”Sagen Sie‘s nicht wieder”, verabschiedete ich ihn. ”Am Ende fange ich noch an, mich selbst zu mögen.”

Als ich wieder zu mir kam, mußte ich schon eine Ewigkeit in die Schreibmaschine gestarrt haben. Er war des bei mir ty­pische Phänomen einer Nikotin-Vergiftung, dieser alte Marlowe. Ganz ähnlich waren vor ihm Alexis Sorbas und Oberst Aureliano Buendia bei mir aufgetaucht, und dem Oberst hatte ich sogar seine Rede vor der UNO korrigiert. Die DDR wollte die Anerkennung seiner recht familiären Volksbefreiungs-Front als einzig legitime Vertretung des Volkes von Macondo unterstützen, aber sie hatten im Außenministerium niemanden gehabt, der genügend Macondisch sprach oder das einschlägige Sachbuch von Marquez wenigstens in einer Übersetzung kannte. Auch damals war der rumänische Glas-Aschenbecher, der immerhin die Kippen einer Schachtel Inka faßt, halbvoll gewesen.

Ich nahm den Aschenbecher mit, um unterwegs zur Liege über das Hier-darf-Florian-nicht-rein-Gitter zu langen und ihn auf dem Kühlschrank zwischenzulagern. Nur, daß auf dem Wohnzimmertisch zwei Kaffeetöpfe standen, irritierte mich etwas.

Okay, dann sitzt du weiter an der Maschine und träumst immer noch, sagte ich mir nach reichlich Bedenkzeit. Dann gönne dir noch den Spaß, zu träumen, daß du die nutzlosen Video-Kassetten weglegst, eine Handvoll Papier greifst und vor dem Einschlafen noch rasch ansiehst, was dir die CIA mitteilen will. Vielleicht kannst du es mal in einem Roman verwenden.

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