Der Tennis-Bericht hatte die Sendung ihres ersten Musikvideos bis weit nach Mitternacht verschoben, und sie hatten beim Warten die erste Flasche Sekt ausgetrunken. Nach der Sendung hatten die betrunkenen Jungs von den "Abgestürzten Dachdeckern" angerufen, und weil die Feierflasche nicht hatte verkommen sollen, war es extrem spät geworden.   

Thyl und Nele waren auf ihrem Bett, Lamme war im  Schaukelsessel eingeschlafen, und damit war die wichtigste Bedingung für ihre Zeitreise erfüllt: sie waren zu dritt in derselben Stimmung.

Nele merkte es, als ihr Ururur-Opa in ihr Gesicht sprang, sie ihn beiseite schleuderte und ziemlich fror. Sie lag in ihrem alten Bett, unter dem Dach des längst abgerissenen Vorort-Hauses, und sie lag allein darin. Obwohl sie im Jeans-Anzug war, zog Nele die Zudecke bis zum Hals und wartete erst einmal ab. Nach einiger Zeit ließ Lamme Lord Baskerville ins Schlafzimmer, schlich hinterher und setzte sich auf die Bettkante.

Lamme schüttelte den Kopf. “Mein Beileid zum Feiertag”, sagte er. “Und besser, du fährst diesmal nicht in die Stadt!”

“Wollte ich denn”, fragte Nele.

Lamme zuckte die Schultern. “Vor sechs Jahren bist du jedenfalls, und dann kamst du ewig nicht zurück... Und dann hast du geheult, stundenlang, und immer nur ‘Südafrika’ gesagt...”

“Du meinst”, fragte Nele, “daß wieder dieser Feiertag ist?” Sie setzte sich auf, schluckte einen Sekt-Aufstoßer hinunter und ging hinter Lamme her in das Wohn- und Arbeitszimmer. Dort lief der alte schwarzweiße Fernseh-Apparat, und in ihm paradierte die Nationale Volksarmee, als sei inzwischen nichts geschehen und als sei das nicht schon ihr letztes Waffenklirren gewesen.

“Und wo ist Thyl”, fragte Nele. “Damals... Also heute?”

Lamme gähnte. “Kaffee?”

Sie aßen lustlos aufgebackene Kaufhallen-Brötchen, tranken mit der Gewißheit der bald fallenden Preise reichlich Kaffee und vermieden jedes weitere Gespräch über den Schicksalstag. Nach zwei Stunden begann das Fernsehen die Wiederholung der Parade, und endlich klapperte Thyls Schlüssel im Schloß der Wohnungstür.       

“Diesmal packen wir es”, sagte Thyl. Er setzte sich neben Lamme auf das Sofa und griff nach Neles Kaffeetasse. “Vielleicht waren  alle anderen Zeitreisen nur die Vorbereitung auf diese.” Er atmete tief durch. “Lamme wird zu Bekannten fahren, die ein unabgehörtes Telefon haben. Und von da an wird er dem ZDF durchzusagen, wer von der ganzen Politiker-Bande ein Stasi-Spitzel ist: der Böhme, der Galgenschnur...”

“Lothar, Die Arschgeige”, ergänzte Nele und holte sich ihre Kaffeetasse zurück. “Gott, das glauben die uns nie! Ich meine: noch  nicht... Und ich?” 

“Du wirst versuchen müssen, die Demo umzuleiten”, sagte Thyl. “Wo sie euch zusammengehauen haben, weißt du ja, und ihr solltet um beinahe jeden Preis am Alex bleiben, Marx-Engels-Platz...” Die polnische CAMEL-Schachtel in seiner Lederjacke war leer,  und er griff stöhnend nach Lammes alter, grauer CABINET. “Das Russisch-Wörterbuch”, fragte er.

Nele war unzufrieden mit der Geheimnistuerei, und darum ging Thyl zum Schreibtisch und suchte sich ihr seit der Fachschul-Prüfung eingestaubtes Buch selbst. “Dawaitjes,  poschli”, soufflierte er sich, während er in Richtung Küche verschwand. 

Gegen fünf Uhr fuhren sie los, und sie setzten Lamme bei einem Ministeriums-Kollegen ab, der eher für die Überwachung anderer zuständig gewesen war. Bevor sie die weiträumigen Straßensperren umfahren hatten, war es dunkel geworden, und es war der Polizei schon wieder gelungen, die spontane Demonstration in die Schönhauser Allee abzudrängen. Thyl fuhr Lammes Trabbi bis in eine Seitenstraße, wo die Pfiffe und Sprechchöre schon zu hören waren.

Die Fahrbahn war von zivilen und militärischen Fahrzeugen verstopft, und weiter vorn schnarrte ein Megaphon und pfiffen ein paar Dutzend der Zuschauer. Thyl stellte den Motor ab und kroch über die Lehne des Sitzes nach hinten. 

“Hole mir die Reisetasche aus dem Kofferraum”, verlangte er. “Und wenn ich hier raus bin, fährst du nach Hause! Ist besser...”

“Nein”, sagte Nele wie sechs Jahre zuvor. “Hörst du nicht: “zum letzten Gefecht”?” 

“Die Tasche”, wiederholte Thyl ärgerlich. Er hatte bereits den Pullover über dem Kopf. “Bedeutet hat es “Kein Bier auf Hawaii”, weißt du doch genau!” 

“Arsch”, sagte Nele und warf die Tasche nach Thyl. “Und das will ich dir mal sagen: du hattest ja zwar recht, damals, und natürlich war es die Hölle... Aber...”   

Kopfschüttelnd sah Nele auf Thyls nacktes Bein. Daß er Liebe statt Revolution machen wollte, konnte nicht wahr sein, aber eine andere Erklärung fand Nele nicht. Sie holte die KARO-Schachtel  aus der Jeans-Jacke. Zwei der Streichhölzer brachen ihr ab, und dann sprühte ihr Kopf die Funken. Nele konnte ihre Bauchlandung gerade noch mit den Händen abfangen, aber ein paar der Fliehenden traten ihr auf die Hände. Wieder halfen ihr zwei der Samurais nur auf die Beine, damit der Dritte das Harakiri-Schwert in ihren Magen stoßen konnte.

“Ihr Nazis”, heulte Nele. “Hört auf, nein!”

Thyl war, als die Zuschauerreihen brachen, in den Spalt zwischen der Sitzbank und den Lehnen der Vordersitze gerutscht. Er sah, wie die Knüppel nach Nele ausholten, und es fiel ihm verdammt schwer, während der Knüppelorgie, Flucht und Verladung so vernünftig zu bleiben, wie er es sich vorgenommen hatte. Etwa zehn Minuten blieb er im Versteck, dann fuhr er in die Ärmel des Kampfanzugs, zerrte er die zu engen Stiefel über die Füße. Er begann den Ausstieg, und noch im Laufen holte er die letzten Requisiten aus der Reisetasche, Koppel, Mütze und Kalaschnikow-Attrappe. Zwei Schritte, bevor die Wachen einer Einsatz­leitung ihn mit dem Handscheinwerfer erwischten, warf Thyl die Tasche beiseite. Dann brüllte er. 

“Towarisch Polkownik”, schrie Thyl den Leitbullen an. “Dawaitjes, poschli!”   

Der ganze Stab stand vor dem plötzlich aufgetauchten Sowjetgeneral stramm, und als Thyl näher kam, hielten die Männer den Geruch des Theater-Mottenpulvers für ein sowjetisches Parfüm oder das eigene Tränengas.

“Chabe Befehl von Towarisch Michail Serge’witsch”, erklärte Thyl keuchend. “Befehl, Kommando nehmen...” Der Einsatzleiter nickte, und der Träger des Sprechfunkgeräts wechselte zu Thyl und  hielt ihm das Mikrofon vor den Mund. “Chier General Armii Pugatschow”, trompetete Thyl den an Neles Küchentisch ausgedachten Text. “Towarisch Gorbatschow gratuliert Sie zum Feiertag Respublika und chat mir Befehl iber Hauptstadt GDR gegeben. Sie stellen Knjuppelei ein, seitschas! Alle Eincheiten sjudlich der Allee bewegen sich zu Platz namens Marx-Engels! Umstellen Palast Respublika und verhaften Politbjuro SED i Regierung! Dawaitjes! Eto wsjo, das ist alles...”

Mehr war Thyl nicht eingefallen, um das endlose Kabarett-Programm dieses Herbstes in eine echte Revolution umzuwandeln, aber andererseits war das ja auch nicht wenig. Vor ein paar Jahrzehnten war einem als Hauptmann verkleideten Schuster die Nummer im Stadtbezirks-Maßstab gelungen, und im Prinzip hatte sich das ganze Land an diesem Tag seine klaren Worte erwartet.

Als ihm die Polizisten die Mütze vom Kopf rissen, dachte Thyl kurz, daß gleich danach sein Kopf dran sein würde, aber sie setzten ihm nur einen der Helme mit Gesichtsschild auf. Spätestens in diesem Augenblick mußte den Männern sein Alter aufgefallen sein.

“Genosse Armeegeneral”, meldete der Einsatzleiter, stramm vor Thyl. “Der Befehlsstand unseres Genossen Minister ist zwei Strassen weiter nördlich...” Er schluckte. “Na, von Mielke doch...”

Auch Thyl schluckte. Von dort her konnte die ganze Sache kippen, wenn er jetzt nichts unternahm, und andererseits war ihm  nicht wohl dabei, daß der Offizier seine Pistolentasche aufknöpfte. Noch immer hatte Thyl auf eine fast fröhliche und im Grunde  friedliche Revolution gehofft.

“Karascho”, schnaufte Thyl und ruckte an einem Hebel seiner Theater-Kalaschnikow. “Sie und zehn Mann! Cholen wir ihn uns!” Thyl rannte los, und nach ein paar Schritten waren die besser trainierten Genossen dicht hinter ihm. Links vor ihnen sprangen aus der ersten Reihe abgezogene Bereitschaftspolizisten auf einen Mannschafts-LKW, und ihr neuer Befehl hatte sie geradezu betrunken gemacht. Sie lachten und johlten und winkten Thyls Uniform zu.

“Na, endlich”, schrie ein junger Offizier. Er spreizte die linken Finger zum ersten Buchstaben für Sieg.

Das nun hätte der Mann nicht tun sollen. Der LKW ruckte an, und der Offizier kippte, fiel und stieß Thyl unter die Füße seines Spezialkommandos. Erschrocken sprangen die Männer des zweiten Gliedes zur Seite, und inmitten des Knäuels aus Uniformierten  stand Thyl noch einmal auf. Er hätte den Zeitungen der nächsten Tage bestätigen können, daß in dieser Nacht auch Steine geflogen  waren, zumindest ein Stein. Dieser aber traf Thyl so zwischen die Augen, daß er unrettbar zu Boden ging.

Das Leben konnte beginnen, sie allesamt abzustrafen.

Das Letzte; Pharao;
Am Anfang; Vögelchen;
Nackt; Indianer;
Stalin; Kapitalisten;
Pinguinhahn; Chefarzt;
Hartmutchen; Persien;
Commune; Geil;
Knutschen; Kapital;
Kamel; Frühling;
Iljitsch; Weiß;
Philo; Sie Idiot;
Magenkrebs; Nele;
Königin; Grieche;
Elefant; Robin Hood;
Woman; Mordsleute;
Bulgarien; Marx;
Döbeln; Witwen;
Leopard; Senf;
Jesus; Thyl;
Hunde; Lamme;
Autsch; Platon;
Flußpferd; Saudis;
Tauben; "Arche";
Huacsar; Ratte;
Sihetekela; Lesbe;
Steaks; Giordano;
Linke; Das Recht;
Miststück; Sartre;
Genosse; Libre;
Nebuk...; Chesus;
Lennon; Dr. Schwarz;
Towarisch; Afrika;