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“Wenn Sie mir nicht sagen, was mit dem Stummen Glatzkopf ist, muß ich sterben”, witzelte Holzer. Er war der Patient im Türbett. “An Neugier, klar.” Schwester Carmen kicherte. Sie wurde auf die Visiten nur mitgenommen, weil jemand die Türen klinken mußte, und sie war breit und blass wie eine nicht ausgebackene Quarktorte. Daß der gut aussehende Vierziger sie beachtete, schmeichelte ihr. “Oder haben Sie noch einen dritten Blinddarm?” “Habe ich Ihnen denn noch nicht gestanden, daß ich Agent bin? Und ein Agent, der nicht einmal die harmloseste Krankheit ausspionieren kann, ist ein toter Agent.” “Na, in so einem Fall kann ich mal eine Ausnahme machen.” “Schwester Carmen”, rief Facharzt Marietta Sommer aus dem Korridor. “Probleme?” “Also erstens erfährt unsereine ja nichts wirklich Wichtiges”, flüsterte Schwester Carmen hastig, “und zweitens weiß in diesem Fall nicht mal der Chef Bescheid. Aber: Psst!” Sie zog die Tür hinter sich zu. “Wie kann eine Frau einen so phantastischen Arsch haben und doch so hartherzig sein?” Helmut Holzer wandte den Kopf nach links, zu den Betten des Alten Fritz und des Stummen Glatzkopfes. “Und, was meint ihr?” “Na, halt daß es kein Wunder ist, daß sie gar nichts sagt”, schnarrte der Alte Fritz, der Vorkämpfer der Roten Massenchöre. “Da bin doch eher ich ‘ne Schwester als die, klar? Das ist ‘ne Bullin, du Idiot, und ihr Arsch ist nicht phantastisch, sondern fett. Und kollaborieren, einfach ihren Spionage-Mist nachplappern, wird dir alles nichts nutzen. Da kenne ich mich aus ‘mit, als alter Knast-Hase, weil ich nämlich schon dreimal...” “Okay, ‘kay”, begann Holzer laut, verzog das Gesicht und sprach leiser weiter, seinen Bauchschmerzen angemessener. “Vielleicht ist das ja kein Krankenhaus... Aber dann ist es eine Irrenanstalt, und noch lange kein Knast! Mir jedenfalls haben sie den Blinddarm rausgenommen, und dir...” “Hh, das glaubst du!” Friedrich Wilhelm Bartsch hob den Indianerkopf, spähte zur Tür und setzte sich auf. Für seine zweiundachtzig Jahre und seine vermutete Krankheit tat er es schnell. “Da mußt du Scheiß-Spion ja einen Blinddarm wie ‘ne Kuh gehabt haben”, sagte er hämisch und fuhr mit dem Zeigefinger vom mittleren Knopf der Schlafanzugjacke bis in die Leisten-Gegend. “Bei so einem Schnitt! Du standest noch unter ihren Drogen, nämlich, aber ich hatte mich nur schlafend gestellt. Alter Trick.” Er ließ sich zurückfallen und zog sich die Decke bis ans Kinn. “Der Untersuchungsrichter hat’s ganz stolz erzhält, verfluchter Folterknecht der!” Holzer jaulte. Bauch- plus Kopfschmerzen wären wirklich unerträglich gewesen, und genau darauf lief die Unterhaltung wieder einmal hinaus. “Nur ein Irrtum”, sagte Holzer. “Nur weil ich doch schon eine Blinddarmnarbe hatte, du alter Esel! ‘tschuldigung! Alter Fritz, wollte ich sagen.” “Du sollst nicht Alter Fritz zu mir sagen”, protestierte der Vorkämpfer der Roten Massenchöre. “Ich heiße Friedrich nach Engels und Wilhelm nach Liebknecht, jaja, dem Vater von Karl, dem mit der Rosa...” “Nur weil ich doch schon eine Blinddarmnarbe hatte, haben die Ärzte diesmal auf Magengeschwüre mit Magendurchbruch getippt.” Auch wenn er sich seine Bauchdecke vorstellte, kam Holzer das Heulen. Ohne irgendeine heroische Verwundungsgeschichte würde er sich an keinem FKK-Strand mehr sehen lassen können, und an Betsys Gesicht mochte er gleich gar nicht denken. “Die Ärzte”, wiederholte Holzer, so schwer ihm das sachliche Wort fiel. Vor Jahren, auf einer anderen Dienstreise, hatten andere Ärzte sein Magengeschwür für den Wurmfortsatz gehalten. “Die Ärzte...” “Na freilich haben die im Knast auch Ärzte! Oder das, was man mit zunen Augen so nennen könnte, wenn man gute Laune hat. Wer zum Menschen-Arzt nicht taugt, den machen sie zum Viehdoktor, und wenn dann einer den Schweine-Plan gefährdet, wird er Medizinmann im Knast. Jaja, das kannst du einem glauben, der da dreimal drin war! Dreimal vor diesem Mal!” “Und das bekommt den grauen Zellen schlecht”, gab Holzer auf. Im Nachttischschub hatte er die Goya-Biogra- phie aus dem Antiquariat, in dem er zusammengebrochen war, und mit etwas Mühe und einigen Schmerzen reichte er an den Schub, an das Buch heran. Freilich hätte Holzer selbst zeichnen müssen. Goyas Esel vor der Enzyklopädie der Eseleien erinnerten ihn daran. So würden seine Chefs vor den Mai-Entwürfen der Kollegen sitzen, und Holzer würde die Chance nicht nutzen können, die die diesjährige Konferenzschaltung des Fernsehens gewesen wäre. Seine Festwagen auf den Mattscheiben des Politbüros... “Blut muß fließen, knüppelhageldick”, sang sich der Alte Fritz in den Schalf, “für die soziale, die rote Republik! Blut, Blut, Blut...” Holzer lenkte sich von der Orgie in Rot mit einem grünstichigen Traum ab. Er sah die spanische Wasserträgerin eine Kanne mit Fixierbad tragen: dunkelblond, die Haare zum Knoten aufgesteckt und das Gesicht frühsommerfrisch. So hatte Holzer Betsy in jedem Frühling und in jedem Frühherbst gesehen, durch die Scheibe mit den abblätternden Goldbuchstaben Hamann Photographien. Portraits & Studien. Allerdings hatte Betsy ihren Kittel immer hoch geschlossen getragen, worauf ihre Mutter achtete, und hatte Holzer immer als den übersehen, der die gut bezahlten Aufträge für den Politkitsch brachte. Vor dem vorletzten 7. Oktober aber waren sie allein im Studio gewesen, und als Holzer sich nach seinen Aktivisten und Neubau-Klötzen gebückt hatte, war er unvorbedacht in den Bereich geraten, in dem Betsys Kittel offen war. Holzer hatte sofort zugefaßt, und als gleich darauf vor dem Ladentisch nach den Paßbildern für Ziegenrücker gefragt worden war, war Holzer sogar ein passender Satz eingefallen. “Von diesem Motiv bitte zehn Aufnahmen A 4!” Als Holzer in der nächsten Woche seine vergrößerten Krippen-Kinder und die Verdienten Putzfrauen abholen kam, trug ihm Betsy einen gelben Umschlag zum Dienstwagen nach, und als er am Abend die bestellten Aufnahmen auf seinen Junggesellentisch geschüttet hatte, war eine Hundert-Mark-Rechnung nachgerutscht. Von da an war Holzer so ehrlich wie er nur konnte und sie erlaubte in Betsy verliebt. Hans Holzer lächelte wie vor Betsys ersten erotischen Fotografien, klappte das Büchlein zu und klingelte nach der Schwester. Er konnte damit rechnen, daß die Stations-Obrigkeit zu einem nicht mehr ernsten Fall die dicke junge Schwester schicken würde. “Das Telegramm, Fräulein, haben Sie doch abgeschickt?” “Der Sicherheitsinspektor versucht immer noch, es zu entschlüsseln”, witzelte Schwester Carmen und warf einen Kontrollblick auf den Alten Fritz. “Naja, oder sind Sie vielleicht doch kein Spion und Betsy Hamann ist doch nur Ihre Frau?” “Betsy ist ja nun eindeutig ein Katzenname, und ein Spion bin ich natürlich nicht. Ich bin Agent. Und wer könnte das von sich behaupten, wenn nicht wir Mitarbeiter der Deutschen Demokratischen Werbeagentur, kurz DEWAG?” Holzer wollte Schwester Carmen in die Hüfte zwicken, sie wenigstens berühren, aber der schmale Goya rutschte und traf seine Wunden wie die Gesammelten Werke aller bisherigen und künftigen Klassiker des Marxismus-Leninismus zusammen. Holzer ließ den Arm sinken und stöhnte. “Ich könnte Sie wirklich auf allen Plakaten unserer nächsten Kampagne das Gesundheitswesen verkörpern lassen. Wenn...” “Also gerade ein bißchen zu Ihnen setzen könnte ich mich!” Schwester Carmen raffte Kittel und Unterrock und setze sich auf Holzers Hand. “Und auch das mache ich nur, damit ich nicht auf Ihre Plakate muß!” Sie sah Holzer nicht an, während sie sich an seiner Hand rieb. Sie sah zur Tür und erzählte unverändert ruhig und halblaut, was sie über den Unbekannten Pharao, von Technik- und Pillen-Engpässen und von Doktor Mary und der warmen Schwester Babsi wußte. Nur ihr gerötetes Gesicht hätte ihren Spaß verraten können, aber Holzer hatte den Kopf abgewandt, und der Alte Fritz schlief, während der Unbekannte Pharao als Stummer Glatzkopf mit starren Augen geradeaus sah. “Soviel Zeit kann ich freilich nicht allen Patienten widmen”, erklärte Schwester Carmen, als sie am Waschbecken stand und sich kaltes Wasser gegen die Stirn und gegen die Wangen schwappte. Der Alte Fritz hustete sich langsam wach. “Und natürlich hat Schwester Barbara das Telegramm an Ihre Frau aufgegeben, Herr Holzer.” “Deinem Anwalt hätteste schreiben müssen”, meldete sich Friedrich Wilhem Bartsch. “Oder dieser Amnesie International! Daß das hilft, mußt du nicht glauben, aber versuchen mußt du es doch!” Holzer antwortete nicht, und darum wandte er sich an den Stummen Glatzkopf. “Wenigstens du machst es richtig, Genosse! Keinen Groschen, keinen Mann und kein Wort für dieses System! Und sicher werden sie es jetzt auf die sachte Tour versuchen, Vorsicht! Die Mörderin im Ärztekittel schleicht ja schon wie ‘ne heiße Hündin um dich rum. ‘Ich bin Frau Sommer. Und wer sind Sie?’ Kein Wort, weiterhin, klar? Und richten sie die Gewehre gegen die Sowjetunion”, begann der Vorkämpfer der Roten Massenchre zu singen, “dann rüsten rote Heere zum Kampf, zur Revolution!”
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