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"WdK”, sagte Chefarzt Doktor Schneider und drückte ein letztes Mal den Bauch des Stummen Glatzkopfes. “Wie bitte”, fragte Facharzt Marietta Sommer, die die Diagnose zu notieren hatte.” Der Absolvent grinste. “Weiß der Kuckuck”, übersetzte er gelangweilt. “Sollte die Parteiversammlung ausfallen, mache ich ihn Montag mal auf”, bestimmte Doktor Schneider. “Aber die Röntgen-Aufnahmen, EKG, Urin” flüsterte Marietta Sommer. “Das war doch alles ohne Befund.” “Na und? Daß Sie Ihren Anchovis...” “Amenophis”, berichtigte Marietta Sommer flüsternd. “Unter Pharao Amenophis dem Vierten brach in der altägyptischen Kunst der Naturalismus auf.” “Also daß Sie Ihren Naturburschen in die Chirurgie abgeschleppt haben, wußten Sie doch, Frau Kollegin.” Doktor Schneider wandte sich der Tür zu. Er nickte Friedrich Wilhelm Bartsch zu und übersah den Patienten im Tür-Bett, den er auf der Speisekarte der Stations-Nymphomanin wähnte. “Die Psycho-Heinis würden ihn doch auch verhören, ob er was mit seiner Frau Mutter hatte.” Doktor Schneider sah Marietta Sommer an, bis sie nickte. “Heute haben wir Mittwoch, da... Oberschwester, hatten wir Freitag nicht noch einen Termin frei?” “Herr Chefarzt, da wollten Sie doch die Gallensteine...” Die Oberschwester holte den Chef ein, stellte sich auf die Zehenspitzen und wisperte. “Den Bruder von unserem Datschen-Maurer, den wollten Sie ‘zwischen schieben.” “Also, Frau Kollegin, heute und zwei Tage haben Sie noch Zeit, Ihren Ägypter zum Aufstehen und Sprechen zu bringen. Und sollten Sie noch das Wochenende dazu brauchen, kann die Oberschwester vielleicht noch eine Tausch-Variante ausarbeiten. Wer hat da Dienst?” “Sie, Herr Chefarzt.” “Und ich würde mit Ihnen tauschen...” “Einen schönen Tag noch”, verabschiedete sich Schwester Carmen und schielte zu Holzer. “Und klingeln Sie ruhig wieder, wenn Sie wieder etwas brauchen!” “Verhör”, sagte Friedrich Wilhelm Bartsch düster. “Endlich hast du es selbst gehört!” “Erkläre mir mal, ja”, schnauzte Holzer, “warum jemand dich rote Socke einsperren sollte! Du... Bestimmt kannst du noch ein paar Schritte laufen?” “Sst! Das dürfen die nicht hören, nicht mal ahnen!” “Dann mal hoch, Friedrich wie Engels! Los, ich helfe dir!” Holzer selbst konnte schon wieder recht gut schleichen, und für seine Ruhe wollte er es riskieren, den klapperigen Alten ein paar Schritte lang zu stützen. “Und jetzt gucke in den Spiegel und verrate mir mal, was einer wie du noch groß verbrechen kann!” Der Alte Fritz starrte sein Spiegelbild wie einen leibhaftigen Klassenfeind an und knisrchte mit der Zahnprothese. “In Rußland, drüben in der Sojus”, flüsterte er nach einiger Bedenkzeit, “hatte ich auch nichts verbrochen, 37, und wurde doch eingesperrt!” Er kicherte nur kurz, drehte sich langsam um und schlurfte zu seinem Bett. “So einen Chorwie damals, im Gulag, hatte ich nur noch vor dreiunddreißig. Und danach nie wieder.” “Das waren nun aber echt andere Zeiten, Fritz.” “Ach, und wie anders? Haben wir vielleicht keine Arbeiter- und Bauern-Macht mehr, wie? Kommt denn aus unserem Radio was anderes als Jazz-Jauche? Und immer, wenn ich im Komponisten-Verband bin, treffe ich dort dieselben Zwölfton-Mafiosi!” Der alte Mann wackelte mit dem Kopf und legte sich stöhnend lang. “Das sind natürlich ihre Söhne, inzwischen, aber kannst du mir einen einzigen Roten Massenchor aufzählen, du Spion? In der ganzen sogenannten DDR gibt es nicht einen! Deshalb fällt dir keiner ein!” “Sogenannte DDR sagen doch nur noch die bösen Bonner Ultras”, sagte Holzer, während er in sein Bett kroch. “Und die Zeiten sind so anders, daß selbst die das kaum noch sagen. Und überhaupt: was ist mit diesem Chor der Berliner Parteiveteranen, hej?” “Renegaten”, dröhnte Friedrich Wilhelm Bartsch wie bei einem LKW-Auftritt für Thälmanns Präsidentschaft. “Sozialfaschisten! Und ich habe das gleich gewußt, daß die dich nur in meine Zelle gelegt haben, damit du mich ausspionierst!” Holzer blies sich für eine angemessen laute Antwort auf, winkte dann aber ab. “Genau! Ich soll rauskriegen, wann du wo den Roten Massenchor gründen willst, der die Mauern von Wandlitz einsingt.” Der Satz gelang ihm fast gutmütig, und er stimmte eins von seinen Jugendliedern an. “Joshua fit the battle of Jericho”, sang er leise, “Jericho, Jericho...” Die Melodie war nicht mehr ganz exakt, und die Namen und Gesichter der Mitsinger bekam Holzer auch nicht mehr zueinander. Was für den Vorkämpfer der Roten Massenchöre noch Jazz-Jauche war, war für Betsy schon Urzeit- und Urwald-Schmalz. Doch, 1968 sei auch für sie ein wichtiges Jahr gewesen, hatte Betsy ihm auf dem Babyfoto-Eisbären-Fell aus Großvaters Kitsch-Nachlaß versichert. Am 13. Mai 68 habe sie zum zehnten Geburtstag ihr erstes Fahrrad bekommen. Dazu hatte Pink Floyd den nächsten Stein in The Wall besungen, was Betsys Schmelzhymne war, und eine Flasche Cabernet später hatten sie wieder einig beschlossen, auf allen Gräbern zu tanzen. Aus der Gründerzeit des Ateliers gab es noch die vom Großvater restaurierten Rollbilder, den Fudshijama ber den Resten der Akropolis und das chinesische Teehäuschen im englischen Park eines französischen Schlosses. Diese Bilder hatten sie diesen Abend aufgehangen, um sich davor zu fotografieren, nackt, staubig und in immer unanständigeren Posen. Und Betsy hatte es lustig gefunden, sich mit hängender Zunge, untergefaßten Brüsten und gespreizten Schenkeln zwischen die üblichen Mai-Motive zu schieben... Holzer erfuhr das nur nebenbei, und Betsy sah ihn mit großen Augen an, als er an diesem Tag ernsthaft mit Zahnbürste, Schlafanzug und zweimal Unterwäsche zur Arbeit wollte. Aus dem Witz hätte leicht eine Strafe ohne Bewährung werden können, aber der Alte hatte auch einen Auftrag im Schreibtisch gehabt, die BHs der örtlichen Textilfabrik für eine Westmesse fotografieren zu lassen. Ob damals nur der Auftrag oder auch der Chef über Betsy gekommen war, hatte Holzer nie erfahren, aber aus 68, Sex und Alk und Rock’n’Roll waren die ersten dicken Fische von Aufträgen gesprungen. Fett war das Konto von Hamann Photographien freilich erst geworden, nachdem Holzer den Mindestrentner Joseph Greiff erfunden und in Betsys Briefkasten angesiedelt hatte. Ihm mietete Holzer für großzügige Solidarittsbeiträge die Foto-Requisiten ab, die er allen Stadtjubiläen und Pressefesten nördlich der Hauptstadt empfahl, und Betsy erklärte die Rumpelkammer gegen ein nicht unbeträchtliches Anerkennungs-Honorar und knipste zugleich vor Fudshijama und Teehaus den gelben Wartburg zusammen. Allein deshalb, sagte sich Holzer, mußte der Wagen zur Mittwochs-Besuchszeit vorfahren.
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