Nele Antonia Carvalho war vor ihrer Zeit geboren worden, um mysteriöse sechs Tage zu früh, am 6.2. 62. Ihren ersten Schrei hatte sie exakt um 6.26 Uhr getan, und daß das Schicksal mit ihr etwas besonderes vorhatte, hatte sie früh begriffen und nie übersehen und überhören können. Man nannte sie Mohrle oder Milchkaffee und später Stute oder Intershop-Scheck. Zwischen Kindergarten und Schul-Oberstufe war kein Jahr vergangen, ohne daß ihr die wertvollsten Medaillen einer Traumsportart in Aussicht gestellt worden waren, und zweimal hatten ihr die DEFA-Mädchenhändler mit Verträgen gewinkt. Die Lehrer für Biologie, Physik und Chemie hätten Nele gern auf den Weg zu einem Nobelpreis geschickt, aber auch dieser Versuchung hatte Nele immer wieder widerstanden. Kraft, Verstellung und Wissen sammelte sie für ihr Leben im Urwald und das Legen von Bomben, und aus dem vornehmen Viertel und den üblen Nachreden wollte Nele nur in die Welt fort.

Daß ihre Mutter ohne Männer und fast ohne Bekannte lebte, im Wechsel mit ihr das Buch der Bücherwieder und wieder vorlas und bei nicht billigem Weinbrand vor dem Fernseher einschlief, war Nele das Training für Illegalität, Romantik und Traurigkeit ihrer eigenen Revolution. Nicht im wortwörtlichen Sinn, aber doch auf diese Weise saßen und schliefen Mutter und Tochter Carvalho schon auf gepackten Koffern.

Im April, in dem das portugiesische Volk der Armee des Diktators Nelken in die Gewehrläufe gesteckt hatte, hatte Nele zum ersten Mal als Frau geblutet. Von da an rückte der Sieg im angolanischen Befreiungskrieg rasch näher, aber von da an wollte Nele auch zwischen den Mädchen und vor den Jungen ihrer Schule bestehen können. Sie war nie in löcherigen Schuhen gelaufen, aber eines Abends hatte sie vor einem Fernsehquiz Guerillero-Stiefel oder etwas Schickes, die Abreise oder ein normales Leben verlangt. Wahrscheinlich oder ganz sicher hatte Nele aber ungeschickt damit angefangen.

“Du, du wirfst mir etwas vor”, kreischte Sieglinde Carvalho sofort. “Ja, wegen wem habe ich denn mit dem Studium aufhören müssen, muß ich denn in die LPG rennen? Wegen wem fahre ich denn vor jedem Aufstehen zu den blöden Kühen? Du weißt das vielleicht nicht, aber eine mit so einem bunten Kind kommt doch für jeden anständigen Kerl gleich nach denen mit Haut- und Geschlechtskrankheiten, mein Schatz!”  Sieglinde Carvalho trank ihr Abendquantum in einem Zug und gleich aus der Flasche, und während sie weiter wütete, bekam sie Schaum um den schönen Mund.  “Na, mach nur weiter! Sag mir, daß die weißen Pimmel zu klein waren, und daß ich von den Negerapparaten ganz schön ausgeleiert sein muß! Daß Hangalo längst einen ganzen Harem hat und nur noch niemanden, dem  er mich versoffene und fett gewordene blonde Hure andrehen konnte! Na, los! Du wolltest doch normal sein! Dann rede auch wie die normalen Leute über mich! Mach! Daß ich dich geboren habe und du gerade Nele heißt,  bedeutet gar nichts! Los, fang an, normal zu sein!”

Es hätte nicht viel mehr Worte gebraucht,  und Nele wäre ihrer Mutter um den Hals gefallen, um sie zu erwürgen, aber plötzlich hatte die Mutter genauso fürchterlich geschwiegen und durch die Hauswand  bis  nach Angola gestarrt. Als Nele auf sie zu ging, griff die Mutter nach ihr wie eine Ertrinkende nach dem Rettungsschwimmer, und diese Nacht lang heulten, trösteten und streichelten sie sich im Wechsel. Sie waren wie ein zum Tode verurteiltes Liebespaar.

Von da an lebte Nele ganz für sich. Sie haßte das alte Plüschsofa dieser Szene, und sie hockte, rauchte und quatschte lieber mit den Mitschülern, bis diese nach Hause mußten. Heimlich, ungeschickt und von der Mutter übersehen nähte Nele die Nähte ihrer Kleider enger, schnitt sie die Ausschnitte ihrer Blusen tiefer, und die nächsten Ost-Jeans wählte sie eine Nummer kleiner als  bequem.

Trotzdem stürmte Nele das Sofa als Kind, als die Mutter sie zu sich winkte und den ersten Brief seit neun Jahren aufriß. Ohne Euch wäre noch Krieg, hier, weil ich nicht drei Leben und drei Kräfte gehabt, schrieb ihnen Hangalo Carvalho als Hauptmann. Dann las seine Frau stumm und tomatenrot weiter und stieß endlich auf ihren Schicksalssatz: Einem alten Freund, jetzt Genosse Minister, schrieb ich wegen Eurer Flugzeug-Fahrkarten.

Den Brief am nächsten Tag zu suchen und heimlich zu lesen, war Nele zu stolz, und nach dem übernächsten Brief ärgerte sich Nele wieder weniger über die Heimlichtuerei der Mutter als über deren Instinkt, in den unpassendsten Momenten aufzutauchen. Wann und wo Nele auch harmlos knutschte, bei einem Bier paffte oder in die Disko schleichen wollte, - immer wurde sie von Sieglinde Carvalho aufgespürt und abgeschleppt. So peinlich war ihr diese Spionage und so neugierig machten sie diese Kräche, daß Nele ihre Entjungferung früh und sehr cool betrieb. In der Kneipe am S-Bahnhof schüttelte sie nur bei der ersten Anrede den Kopf und ging mit zu einem kurz alleinstehenden Familienvater, der ihr nachher zwanzig Mark  gab, um sein kinderschänderisches Gewissen zu beruhigen. Weil ihre Mutter immer erst nach halb acht Uhr abends mißtrauisch und scharfsinnig wurde, ließ sich Nele auch danach immer wieder einmal bis viertel Acht heftig bumsen und ein bißchen bezahlen, und sie kam sich dabei ein bißchen freier und sehr erwachsen vor. Den Spaß machte Nele allerdings ihre allnächtliche Beschäftigung mit sich selbst, und dafür träumte sie sich unter alte Palmen und  junge Riesen, und in einer dieser Nächte schrieb sie den einzigen eigenen Brief an Hauptmann Hangalo Carvalho in Luanda. Sie mahnte die Flug-Ticketts ziemlich direkt an, andernfalls würde sie unwiderruflich Unterstufenlehrerin werden.

Mit einer Menge putziger Fehler versprach ihr der Vater einen Monat später revolutionäre Ehrlichkeit, und hielt diese auch durch, und Nele ließ den Brief ganz oben auf ihren Schulsachen liegen, bis sie den Blick ihrer Mutter verräterisch feucht sah: Seit über einem Jahr rufen wir A luta continua hier, und für mich geht Kampf weiter, echt. Ich ziehe durch die Armenviertel, Ihr könnt die Euch nicht denken, und hetze gegen soviele gestrige companheiros: Postenschieber, Provinztyranns, schwarz-rot gestrichene weiße (verzeiht, ihr zwei!) Kapitalisten! Achtzehn Stunden als Tier-  und Armenarzt und Wanderprediger sind Norm, und vor Tür Aufschließen weiß ich nie, was ich finde: Post von Euch, Polizei oder Ernennung zu Minister. Rechnen muß ich immer mit allem, und so müßt auch ihr tun. Das ist die Lage, große kleine Nele, companheira Tochter, und doch bin ich so optimistisch (fast) wie ehrlich. Nicht für morgen, aber für bald!

Seitdem die Mutter diesen Brief heimlich gelesen hatte, hörte Nele geradezu, wie der nächste widerliche Krach heranwuchs, und Neles Flucht davor gehrte eigentlich zu ihrem Versöhnungsplan. Sie lief davon, als die Mutter das Kognak-Glas vollgoß, fuhr zum Bahnhof und weiter bis auf den Hof der Mecklenburger Großeltern. Über die LPG der Tante konnte die Mutter ja anfragen, ob ihr buntes Kind im Ort untergekrochen war, und die Reichsbahn würde der Mutter alle nötige Bedenkzeit geben, ob sie ihre Haut- und Geschlechtskrankheit wirklich zurück wollte.

Oma und  Opa, Onkel und  Tante und den neidischen Cousinen schwindelte Nele eine plötzliche Schulrenovierung vor, und Nele aß eben das Abendbrot nach einem angenehm blauen Freitag, als ihr ihr weißer Großvater mit der privaten Treibhausgurke auf die Finger klopfte.

“Neuigkeiten von Euerm Robin Hood”, sagte der Großvater, und die Gurke zielte in ein totes Gesicht.

Jugendliche aus den Armenvierteln hatten das Gefängnis von Luanda gestürmt, angeführt von den Freunden eines entlassenen Ministers.

Als Nele begriff, daß dieser blutige Aufstand blutig niedergeschlagen worden war, schrie sie wie die leibhaftige Tochter von Tarzan und Jane. Sie mußte gar keine Verschwörernamen hören und  keine weiteren Opferfotos sehen, um Hauptmann Hangalo Carvalho unter den Toten zu wissen, und sie hatte sofort die gebührende Angst um die doppelt verlassene Hauptstadt-Bäuerin Sieglinde Carvalho. Daß ihr Onkel  wegen der Feierabend-Wodkas nicht den Rettungs-Trabbi fahren wollte, machte Nele noch lauter schreien, und nach  jedem neuen Vorschlag, Schnaps zu trinken, Pillen zu schlucken, kalt zu duschen und einzuschlafen, drehte sie weiter auf. Zum Ausgleich für diese Nacht schwieg Nele, als der Onkel am Morgen mit der Nachricht zurückkehrte, daß Nele nun ein armes afrikanisches Waisenkind war...

Jene Nele  Antonia Carvalho, die vier Jahre später die wie durch ein Wunder unbesetzte Wohnung neu bezog, war der früheren auch äußerlich unähnlich. Das begann damit, daß sie sich jeden Morgen die gelockten, aber weichen Haare straff zog und zum Pferdeschwanz abschnürte, und endete in Schuhen, mit denen die mittlere Preisklasse der Mode zu genügen versuchte. Dazwischen hüllte allzu feistes Fleisch die Knochen und Sehnen einer verschenkten Olympiasiegerin ein, und die lecker braune Haut war seit damals die angewachsene Haut einer Nonne, die nicht einmal mit Jesus Christus verlobt war. Daß gerade Nele das Volk der Hauptstadt bilden sollte, verdankte sie aber nicht diesen Äußerlichkeiten und selbst der vorhandenen Wohnung nur zur Hälfte. Für diese Aufgabe waren dem Lehrerbildungs-Institut nur die Besten gut genug, und zu diesen Besten zählte Nele als eine der drei Allerbesten ohne Zweifel. Sogar das Erziehungsziel, schon Schulanfänger sollten bei ihren Eltern die Aktuelle Kamera einmahnen, hielt Nele für eine Wunschvorstellung: für nicht erreichbar, aber ideal. Daß der Platz im großen Friedens- und Befreiungskampf der Völker nur der ganz durchschnittliche Arbeitsplatz diesseits der Mauer sein konnte, konnte Nele an ihrem eigenen Beispiel illustrieren, und sie wäre auch der deutschen Schwesternpartei der MPLA beigetreten, hätte die nicht eben einen Aufnahmestopp für alle Intelligenteren verhängt. Nach allem menschlichen Ermessen war Nele davon- und angekommen.

Nele verabschiedete die Tante, die den Rückzugs-Trabbi gefahren hatte, eilig und forsch, und sie ging sofort daran, das kleine Wohnzimmer von allem Staub zu befreien, den es seit dem Mai 1977 geschneit hatte. Neue Wischlappen und einen neuen Schrubber hatte Nele mitgebracht, aber als die Dielenbretter schon glänzten, blies der Staubsauger eine ganze Sahara aus dem Bücherregal. Fluchend stellte Nele fest, daß sie den Start-Einkauf vergessen hatte und inzwischen schon nach neunzehn Uhr lebte.

Noch nur unlustig zog Nele in die Küche, nahm sich mit alten Zeitungen das Fenster vor und war erst mit einem Flügel im Reinen, als die Dämmerung sie aufzugeben zwang. Kreuz- und armlahm schlich Nele zur Zigarettepause am Küchentisch, fühlte ihre Karo-Schachtel leer und rutschte von der Stuhlkante. Sie fiel in den schmalen Raum zwischen dem runden Tisch und der Mauerecke.

Nele sah die halbdunkele Küche von greisen Kühen gefüllt, und statt der Reibeisenzungen baumelten aus ihren Mäulern Nagelbretter. Zwischen den Nägeln hingen Haare. Haut- und Kleiderfetzen, die Reste von Sieglinde Carvalho, und die Zitzen der Kuheuter waren lange und lebendige Schlangen, die als tropfende Mannsglieder endeten. Halb ausgelöste Skelette trieben diese Herde gegen Nele, mit Peitschen, an deren Riemen der Paßfoto-Kopf Hauptmann Carvalhos hing, und diese Peitschen schlugen den Takt, zu dem die Engel der Sixtinischen Madonna zu singen anhoben: Freude! Freude! Freude schöner Götterfunken...!  Es waren die auch Nele gut bekannten Engel, obwohl ihnen Augen, Ohren und Nasen fehlten, und Nele hob die Hände, bekam sie aber weder vor die Augen noch an die Ohren. Alle Menschen werden Brühüder, dröhnte es, und der befrackte Chorleiter hob seine Dirigier-Instrumente ins Licht, einen silbernen Mokkalöffel und eine winzige Nagelschere. Damit hatte er seine Sänger zurecht gestutzt,  begriff Nele, und  sie verstand, daß er nun auch sie in das Kollektiv einfügen wollte. Vor der Küchentür, die ein Fluchtweg gewesen wäre, zitterte das Kanonenrohr eines T 34 und schaukelte die Schlinge aus Schuko-Kabel, und Nele brachte nicht einmal das Weiche zwischen Daumen und Zeigefinger zwischen die Pferdezähne. Sie schlug den Kopf gegen die Wand, probeweise, vorsichtig und heftig, doch auch die Kopfschmerzen weckten Nele nicht. Mische seinen Jubel ein, dröhnte der Engelschor. Freude! Freude! Nagelschere, Nägel und der Löffel blitzten in weißblauem Licht.

Das Letzte; Pharao;
Am Anfang; Vögelchen;
Nackt; Indianer;
Stalin; Kapitalisten;
Pinguinhahn; Chefarzt;
Hartmutchen; Persien;
Commune; Geil;
Knutschen; Kapital;
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Iljitsch; Weiß;
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Magenkrebs; Nele;
Königin; Grieche;
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Woman; Mordsleute;
Bulgarien; Marx;
Döbeln; Witwen;
Leopard; Senf;
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Hunde; Lamme;
Autsch; Platon;
Flußpferd; Saudis;
Tauben; "Arche";
Huacsar; Ratte;
Sihetekela; Lesbe;
Steaks; Giordano;
Linke; Das Recht;
Miststück; Sartre;
Genosse; Libre;
Nebuk...; Chesus;
Lennon; Dr. Schwarz;
Towarisch; Afrika;