"Also mich haben Sie überzeugt, daß ich dringend rumlaufen muß”, sagte Holzer und stieg aus dem Bett. Sogar die Zigaretten nahm er ohne Heimleichkeit, ja herausfordernd aus dem Nachttischschub. “Nun widersprechen Sie sich nicht, Frau Doktor!”

Marietta Sommer blies die Backen auf. “Geben Sie doch nicht mir die Schuld, daß Ihre Bekannte Sie nicht zurück will!  Also gut, Sie haben Bewegungstherapie!” Sie sah Kapitän Nemo in die Augen. “Daß Sie mal einen Traum behalten haben, ist doch schon etwas. Wahrscheinlich haben nicht Sie Lenin nach Rußland geschmuggelt, aber wie Sie da hinein verwickelt sind, kriegen wir auch noch raus.”

Holzer ließ die Tür etwas krachen.

Halb auf  dem Fensterbrett der Herren-Toilette warteten der Gallenstein und der Zwölffingerdarm, zwei Männer in seinem Alter, auf Holzer. Sie hatten die Apfelsaft-Flasche mit dem selbstgebrannten Pflaumenschnaps zwischen sich, und der Gallenstein hielt sie Holzer entgegen, um ihm Platz zu machen und ihn zu trösten.

“Tja, und du wolltest heute schon wieder rammeln, daß die Nähte krachen! Da bist du echt schlimmer dran als wir Todgeweihten.”

Holzer trank und hustete entsprechend. “Ach, Schwester Carmen im Sonntagsdienst, und ich könnte echt verschmerzen, in einer Woche Blinddarm plus Alte verloren zu haben. An Skatkarten hat wohl keiner gedacht?”

“Zum  Skat ‘n Rad...eberger”, reimte der Gallenstein. “Zum Schnaps was mit Straps! Ich sollte auch in die Werbung, nicht?”

“Ich denke ja spaßeshalber, daß es Krebs  ist”, überlegte der Zwölffingerdarm. “Da kann es doch nur weniger schlimm kommen, nicht?” Holzer und der Gallenstein nickten betroffen, drückten ihre Zigaretten aber nicht aus. Eine Weile standen sie alle schweigend, denn nach dieser Eröffnung stand das nächste Wort dem Kränkesten zu. Und für den Fall habe ich mir immer vorgenommen: nach Hamburg weg, und dort noch mal mit hundert Sachen los! Wenn schon im Bett sterben, dann um keinen Preis im Krankenhaus...”

“Bei Schwester Carmen könntest du beides haben...”

Holzer hatte das ewig gleiche Thema zwar satt, aber er konnte gleich drei Menschen einen Gefallen tun, wenn er die beiden Neuen einwies. Der Zwölffingerdarm und die Nymphomanin würden es ihm danken, und selbst hatte er seine Rache an der Klinik, in der in jeder Beziehung das Unglaublichste lief. Holzer erzählte von seiner zerpitzelten Bauchdecke, von den verschwindenden Unterlagen und von der warmen Schwester ihrer Göttin in Weiß.

“Schlimm, immerzu falsch gepimpert zu sein”,  kommentierte der Gallenstein, in peinlichster Weise ein Prolet. “So kommt das doch zustande. Oder?”

Holzer verdrehte die Augen.

“Nach dem Mittagessen”, gab der Zwölffingerdarm den Aufbruchbefehl, und er kehrte vor den Nikotinsüchtigen der Ablösung seine Position heraus. “Verbieten hätte ich meiner Abteilung das Arbeiten sollen, na ja.”

Einen Schritt hinter der Wäschekammer hätten sie sich trennen müssen, nur deshalb blieben sie vor der Tür stehen, und nur um die Rückkehr in sein Zimmer zu verzögern, stieß Holzer mit  dem Fuß gegen die angelehnte Tür. Im trüben Licht durch das halb verstellte Fenster leuchtete ein über dem Hintern straff gespannter Schwesternkittel. Wortlos waren sich die Männer einig, sich einen Spaß zu gönnen. Sie verstellten den Ausgang, und der Gallenstein klopfte leicht auf den rechten Schinken. 

Unerschrocken wandte Schwester Barbara den Kopf.  “Ich habe auch Ihr zweites Telegramm abgeschickt”, fauchte sie Holzer, ihren einzigen Bekannten, an. “Und am ersten freien Tag schleppe ich Ihnen Ihre Lady eigenhändig her, beim Gott!”

Holzer nickte. “Na, dann nur noch eine Fachfrage. Uns interessiert nämlich, ob es Ihrerseits schlechte Erfahrung oder ein Vorurteil ist...”

In irgendeinem Luftzug klappte die Tür, und dieses Geräusch brachte sie allesamt um den Verstand. Schwester Barbara ließ die zu verpackende Schmutzwäsche fallen.  Sie  stieß bei ihrem Ausbruchsversuch den Ellenbogen in Holzers geschnitzelten Bauch, Holzer stieß sie rein instinktiv zurück, und auch der Gallenstein stolperte nur wegen des Gedränges. Allerdings stolperte er halb über die Schwester.

“Mensch, schon für den Versuch ist man dran” keuchte der Gallenstein und stopfte der halb erdrückten Schwester ein Kopfkissen zwischen die Zähne. “Und nur für den Versuch, wahrscheinlich... Na, mach schon, Krebs-Schappi! Mit hundert Sachen!”

“Schluß”, flüsterte Holzer. “Das wäre schließlich...”

“Volksbildung”, höhnte der Gallenstein. Er brauchte nur eine der Möbelpacker-Pranken, um den Knebel im Mund und die Schwester auf den Wäschesäcken zu halten. Mit der freien Hand strich er ihr eine Lockenschlange aus der Stirn, bürstete er ihr die Brauen gegen den Strich. “Nachhilfeunterricht für die erste Kindergartengruppe: was ist ein Männchen, was das Weibchen, und wozu?”       

Holzer, noch der Nüchternste, wollte wenigstens den Zwölffingerdarm  aufhalten, aber er bekam wieder  einen  Ellenbogenstoß. Genau genommen hatte auch er keine größere Chance als  Schwester Barbara, mit zwei ausge­wachsenen und ausgerasteten Kerlen fertig zu werden. In Sekunden nur war der Kittel nicht mehr auf dem Rücken geknöpft, waren Strumpfhose und Slip zwei unscheinbare Stoffhäufchen. Von da an war es egal, ob Holzer nur zusah, wie die Beine der Frau zuckten, sich streckten und zitterten, oder ob er sich zwischen diese Beine kniete und den Kittel wieder bis  über die Brüste zurückschob.

“Gleich kannst du den Rest der Station in die Schleimbüchse rufen”, sagte der Gallenstein, als die Reihe an ihm war und er Kopf und Knebel  loslassen mußte. “Aber wir drei waren doch bestimmt  kein schlechter Anfang, und einer von den anderen würde dich vielleicht an deine Ärztin verraten... Klar?”

Schwester Barbara nickte, drückte das Gesicht in die  Wäsche und schwieg.

Sie horchten gleich ängstlich in den Gang, bevor sie sich wie Soldaten beim Stellungswechsel absetzten. Holzer war endgültig am Rand des Herzinfarkts und war außerdem überzeugt, daß ihm die Ärztin alles ansehen würde.

“Wenn Sie so weitermachen”, sagte Marietta Sommer eher nachsichtig, “dann nehmen wir Ihnen nächste Woche noch die Lunge raus.” Das Zucken in ihrem Gesicht war nur das Erinnern, daß sie längst selbst eine Zigarette verdient hatte. “Und Sie, Kapitän Nemo, liefern sich auch persönlich ans Messer. Ich meine zwar, daß Sie mit weg- operierten Beinen erst recht nicht mehr laufen können, aber der Chef hat mich ja zum Meinungsaustausch bestellt, morgen früh. Ja, und Sie, Großvater? So geduldig wie Sie meiner Gesundbeterei zugehört haben, haben Sie jetzt einen Wunsch frei.”

“Sie sind kein so schlechter Mensch, wie Sie sein müßten”, sagte der Vorkämpfer der Roten Massenchöre und kniff die Augen zu Spalten. “Wenn ich hier jemandem vertrauen müßte, würde ich vielleicht Ihnen trauen, jawohl. Würden Sie für mich was nach draußen schmuggeln?”

“Er hat von Anfang an durchschaut, daß das nur ein getarntes Gefängnis ist”, erklärte Kapitän Nemo, bevor Marietta  Sommer staunen oder der Scheiß-Spion wie auch immer loslegen konnte.

Der Kapitän blinzelte der Ärztin so zu,  daß sie einfach mitspielen mußte und ihm obendrein verzieh,  daß er weder auf seinen Namen noch auf seine Beine kam.

Eine geheime Botschaft, Großvater? Wissen Sie denn nicht, was mich das kosten kann? Aber gut, versprochen ist versprochen...”

“Meine Freunde werden auch für Sie gutsagen,  wenn der Iwan da ist”, versprach der Vorkämpfer der Roten Massenchöre, “die Freunde. Die Adresse ist...”

Er winkte die Ärztin näher, flüsterte ihr ins Ohr und kramte dann bekritzelte Zeitungsränder aus dem Nacht­tischschub. Dann ließ er sich auf das Kissen fallen und gab sich mit der  dünnen Hand den Takt vor.

“Wir betteln nicht mehr um Gerechtigkeit! Wir stehn zum entscheidenden Angriff bereit, zur Vernichtung der Bourgeoisie. Roter Wedding grüßt euch, Genossen...”

Holzer drehte sich zur Wand und lächelte bitter. Daß der Gallenstein und der Zwölffingerdarm Lieder hatten, bezweifelte er, und nun hätte er die Ratschläge des alten Knasthasen gebraucht. Betsy würde ihn an seinem nächsten unfreiwilligen Aufenthaltsort erst recht nicht mehr besuchen,  für die Kollegen würde er toter als tot sein und seine Eltern strich er lieber selbst aus dem Gedächtnis. Der Bezirks-Schreibtisch, von dem aus er in diesem Jahr hatte durchstarten wollen, würde ihm als Schaufensterdekorateur das Paradies dünken, in drei oder fünf Jahren.

Holzer rechnete so fest mit dem Auftauchen der Polizei, daß er nur noch weit Schlimmers annahm, als Schwester Barbara die Sonntags-Broiler hereinbrachte. Daß sie ihm seine Portion Rattengift nicht ans Bett brachte, bedeutete nur, daß er sich oder einen der anderen umbringen sollte...

“Du, Mainzelmännchen”, störte Kapitän Nemo Holzer aus der lumpenproletarischen Selbsttröstung, daß Schwester Barbara bisher vielleicht wirklich nur falsch gepimpert worden war. “Hej, du, Mainzelmännchen! Der Kopf paßt in deine Märchen, und wenn der Rest genauso ist, nehme ich ihn dir gerne ab!”

Betsy  antwortete mit einer  Fotoserie, von Duracell und japanischen Blitzcomputern ermöglicht. “Leider arbeite ich gerade für Haarwuchsmittel, aber wenn mir mein Abonent nicht gleich an den Hals springt,  steige ich noch heute auf  Rasierklingen um. Ehrlich!”

“Ich habe nicht mehr mit dir gerechnet.” Holzer faßte fast scheu in die kunstroten Locken und tippte die Lippen nur kurz gegen die höhensonnenbraune Stirn. “Hättest du mich nicht gestern abholen können, Mensch?”

“Ich, du Scheiß-Spion, wäre über einen Pionier froh”, schnarrte der Vorkämpfer der Roten Massenchöre. “Und nicht mal ‘n Klavierkiller von der Zwölfton-Mafia würde ich so behandeln.”

Kapitän Nemo streckte die Arme nach Betsy aus, die aus dem Zimmer einen Laufsteg für französische Gold- und Ledermode machte.

“Du, ich war eine Woche in Japan,  im Kosmos.  Jedenfalls so gut wie.” Betsy sah sich das Zimmer durch die Objektive der Kameras an, und sie kam erst zu Holzer zurück,  als sie sich setzen und die Filme wechseln mußte. Erst dann packte sie die Foto-Tasche aus. Sie hatte Mandarinen, Ananas und Schokolade für ein Stationspicknick herangeschleppt, und sie versteckte dazwischen eine Flasche delikat-Wodka und krönte den Berg mit einem  Stapel Kontaktabzügen. “Ich habe Chips in Fünf-Mark-Stücke verwandelt, inzwischen! Denkst du, wegen einem anachroni­stischen Wurmfortsatz verzichte ich auf mein Stück von der mikroelektronischen Sahnetorte?” Weil Holzer noch immer nicht auf ihren üblichen Ton ansprach, verteilte Betsy die Fotos an den alten Mann und an den lustigen Glatzkopf. “Na, was sagt ihr?”

“Was für ‘ne japanische Humorzeitschrift”, sagte Kapitän Nemo. “Das liegt aber nicht an Ihnen, bestimmt nicht!”

“Sind Sie jetzt auch hier, die Schweine vom Ku Klux Klan”, fragte der Vorkämpfer der Roten Massenchöre. “So ziehen sie sich doch an, zum Nigger-Morden!”

“Na, wenigstens langweilig hattest du es nicht”, sagte Betsy enttäuscht und sammelte die Fotos der Erfurter Betriebsbesichtigung ein. “Da hältst du es bestimmt noch die Nacht aus!  Vor morgen früh bekomme ich dich nämlich nicht wieder!”

Als Schwester Barbara ins Zimmer kam, wurde Betsy wieder lebendiger. Sie feuerte ein Salve Blitze, schraubte ein Teleobjektiv vor und trieb die müde und traurige Marylin Monroe sogar  in natürlich wirkende Posen. Holzer winkte so vergeblich wie  verzweifelt dagegen an.

“Schwester Barbara, falls Sie meinen Namen für eine Ausstellung zum sozialistischen Menschenbild brauchen”,  sagte Schwester Barbara und half Betsy schließlich beim Einpacken des Fotokrams. “Und vielleicht machen Sie Ihrem Mann ja auch ein Erinnerungsalbum an unsere Station... Aber jetzt müssen Sie gehen!”

“Einmal hat der Eisler den Heartfield mit zu mir geschleppt”, verabschiedete der Vorkämpfer der  Roten Massenchöre die Fotografin. “Das war auch toll, Kindchen...”

“Nur im Bezug auf sich hat er gelogen”, witzelte der Kapitän Nemo. “Willst du nicht wenigstens für die letzte Nacht mit  ihm tauschen, Betsy?”

Mitten in dieser Nacht fuhr Holzer aus dem Traum. Ihm war seine schlimmste Armeewoche eingefallen, die Woche, nachdem sie im Stadtpark ihre Stubenjungfer über seine Verlobte aufgeklärt hatten. Die halbe Kompanie waren zwischen den Schamlappen gewesen, ohne sich vorher verlobt zu haben, und weder für Holzer und seinen besten Fahnekumpel noch für die Lady war die Verlobung  ein Grund gewesen, es nicht gleich noch einmal zu treiben. Daß die Stubenjungfer beim nächsten Manöver unter einen Panzer gerutscht war, war auch eine schlimme Erinnerung. Aufgeschreckt hatte Holzer jedoch die Erinnerung an die Angst, sein Kumpel hätte den Tripper bei dieser Gelegenheit abgefaßt. Damals war diese Angst unbegründet gewesen, aber inzwischen gab es die Schwulenseuche und vielleicht war das der Reim auf die unheimliche Gelassenheit der Schwester. Vielleicht war der jahrelange Gerichtsprozeß schon eröffnet, dessen Urteil unabänderlich feststand, und während der langsamen Hinrichtung würde Holzer immer wieder auf Betsys Foto seiner Henkerin sehen müssen, auf einer Ausstellung ausgezeichnet und damit für die Wand über dem Eßtisch bestimmt.

“Ich stecke in der Scheiße”,  flüsterte Holzer. Er beichtete, ohne Ort, Zeit und Namen zu nennen, und er wollte es für die Absolution nehmen, wenn der Alte Fritz und Kapitän Nemo schliefen und schwiegen. Hörten sie ihn, würden sie ihm irgendeinen Rat geben, und er konnte sich noch immer auf einen lautstarken Alptraum herausreden, wenn die beiden das Beichtgeheimnis brachen. 

“Ganz alter Trick”, gähnte der Vorkämpfer der Roten Massenchöre. “Ein Krimineller pro Zelle ist ein ganz alter Trick, und daß du das bist, habe ich doch von Anfang an gewußt.”

Das Letzte; Pharao;
Am Anfang; Vögelchen;
Nackt; Indianer;
Stalin; Kapitalisten;
Pinguinhahn; Chefarzt;
Hartmutchen; Persien;
Commune; Geil;
Knutschen; Kapital;
Kamel; Frühling;
Iljitsch; Weiß;
Philo; Sie Idiot;
Magenkrebs; Nele;
Königin; Grieche;
Elefant; Robin Hood;
Woman; Mordsleute;
Bulgarien; Marx;
Döbeln; Witwen;
Leopard; Senf;
Jesus; Thyl;
Hunde; Lamme;
Autsch; Platon;
Flußpferd; Saudis;
Tauben; "Arche";
Huacsar; Ratte;
Sihetekela; Lesbe;
Steaks; Giordano;
Linke; Das Recht;
Miststück; Sartre;
Genosse; Libre;
Nebuk...; Chesus;
Lennon; Dr. Schwarz;
Towarisch; Afrika;