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Drei Tage lang rechneten sich Thyl und Lamme immer wieder vor, daß sie sich ganz unnötig Sorgen machten. Wenn Nele in jeder Kneipe des nun wirklichen Groß-Berlins fünf Minnuten allein sein wollte, konnte sie ja noch gar nicht zurück sein, und wer im Schatten der Pyramiden nachdenken wollte, konnte das auf ein Last-Minute-Tickett sogar preisgünstig tun. An diesem Freitag aber wollten Thyl und Lamme die Vermißtenanzeige doch noch aufgeben, weil es inzwischen ja auch ein Vielfaches an Autos und Drogendealern, Sekten und Lustmördern gab. “Vielleicht leckt ihr ja ihre lesbische Löwin die Wunden”, überlegte Lamme. Thyl knurrte ärgerlich. “Und jedenfalls möchte ich die Fischsuppe ihretwegen nicht aufwärmen müssen”, nörgelte Lamme und teilte die Teller aus. Auch für nele stellte er einen hin. “Na, sie müßte ja jeden Augenblick kommen! Sie müßte doch Hunger haben!” “Müßte sie”, sagte Thyl düster. “Aber vielleicht hat ja deine Geliebte meine Geliebte umgebracht.” ”Meine Ex”, berichtigte Lamme. “Und das würde Heike nie...” Er schnaufte und setzte die Kelle zuerst in Neles Teller auf. “Na, schön: vielleicht! Aber begreifen werde ich das nie!” Auch Nele hatte sich nicht vorstellen können, daß ihre Direktrice das Theater noch im Gerichtssaal weiter spielen würde, und sogar auf einen Anwalt hatte sie darum verzichtet. In all ihrer schwarzen Unschuld wollte sie siegen, mit Thyl, Lamme und Heike Lauterer, und sie vier und die Richterin würden danach zum Chinesen ziehen, um ein Fest wie im Buch der Bücher zu feiern. Nichts und niemand konnte Geuse gegen Geuse hetzen, weiße gegen schwarze Neger, und eine demokratische Richterin mußte eine Freundin der Gerechten sein, auch wenn sie wie Angela Merkel aussah. “Was soll ich denn sagen”, fragte Nele dann aber doch erschrocken Thyl, der links neben ihr saß. “Die Geschichte wird mich freisprechen”, fragte Thyl. “Bei Fidel hat das mal geholfen.” “Aber sie ist doch die Klägerin” erinnerte Lamme an Neles anderer Seite. “Also, Sie”, begann Nele darum eine ganz eigene, ganz unberatene Rede. “Nein, nein! Jemand wie Sie... Also die Fotos damals, die Ferkel-Fotos von der Weihnachtsorgie, die waren damals auch nicht der Grund! Nicht wirklich! Und ich habe mich nicht verhauen lassen, im Oktober 89, damit jetzt jemand wie Sie daher kommt...” Nele schwieg noch eine Minute und ließ sich dann tonnenschwer auf den Stuhl fallen. “Na, wie war ich?” “Äh”, sagte Lamme. “Es wird trotzdem knapp”, sagte Thyl. “Die Mehrheit der Geschworenen hast du bestimmt überzeugt, aber die haben eben einen verflucht guten Anwalt...” “Ja”, sagte Nele. “Aber ich bin trotzdem optimistisch!” Tatsächlich war der Anwalt der Schulbehörde so blaß, wie Heike Lauterer aussah, und er ging auf keines der Argumente ein, die Lamme und Thyl vorgeschlagen hatten und das von Nele als tauglich befunden und niedergeschrieben worden war. Er leierte eine Liste von Gesetzen und Verordnungen, zitiere ähnliche Verfahren und setzte sich am ende seiner Darlegung nicht einmal hin. “Giordano Bruno”, gab Thyl Nele das Stichwort. “Ich kann gar nicht anders, als Ihren Einspruch abzuweisen, Frau Carvalho”, sagte die Richterin behutsam in Neles Richtung. “Gegen diese Entscheidung können Sie Rechtsmittel einlegen, aber dann sollten Sie sich unbedingt einen Rechtsanwalt nehmen.” Nele stand sehr langsam auf. “Ihr sprecht das Urteil mit mehr Furcht, als ich beim Anhören habe!” Sie sah sich nach Thyl und Lamme um. “Auf Deutsch: Ihr habt mehr Angst als ich! Die Geschichte wird mich freisprechen! A luta continua!” Thyl und Lamme krümmten sich und bliesen die Backen auf, um nicht loslachen zu müssen. Immerhin war Nele, und wahrscheinlich für immer, aus dem Schuldienst geflogen. “Also jetzt muß ich erst mal fünf Minuten allein sein”, verkündete Nele ihnen. Sie steckte die Hände in die Taschen des motorrad-groben Leder-Blousons und schlenderte auf die Tür zu. In dieser Richtung stand auch der Kampftisch der Sieger, und Thyl hätte keinen beim Zwangsumtausch vergessenen Ost-Groschen gegen eine Schlägerei gesetzt. Umso zufriedener war er freilich, daß Nele ihre Direktrice unbehelligt sterben ließ und unbeirrt aus dem Saal ging. Als Lamme und er ihrem Beispiel folgten, glaubten sie die Freundin einfach ein paar Schritte voraus. “Und könnte es nicht sein, daß wir hier nur zu Besuch waren”, sagte Lamme nachdenklich und schlürfte einen Löffel Fischsuppe. “In dieser Zeit, in diesem Parallel-Universum... Daß sie vielleicht schon heim...” Thyl zerfetzte eine Toast-Scheibe und streute die Brocken in die Delikatesse. “Ich meine doch nur... Jedenfalls wäre das beruhigender als ein Lebensrest als Versicherungs...” Unter dem Küchentisch stand Lord Baskerville auf, und er stupste die Schnauze gegen Thyls Bein, bevor er kurz bellte. Dann knarrte der Treppenabsatz und drehte ein Schlüssel im Schloß der Wohnungstür. “Langsam wird es Zeit, daß wir andere Seiten aufziehen”, ächzte Nele und stellte eine alte Reisetasche sehr vorsichtig auf ihrem Stuhl ab. “Denn Demokratie bedeutet ja wohl, daß jeder machen kann, wa er will... Aber noch lange nicht: mit mir machen!” Nele holte den Körper einer Kalaschnikow aus der Reisetasche, griff ein Magazin und rastete es geübt ein. Dann lehnte sie die Waffe gegen den Spülschrank, suchte zwischen klapperndem Metall und legte Stück um Stück fünf Eierhandgranaten zwischen Topf und Teller. “Noch heute ziehe ich aus diesem Irrenhaus aus”, flüsterte Lamme. “Jetzt ist die auch noch verrückt geworden!” “Verrückt wäre gewesen, wenn ich den Panzer genomen hätte!” Am Lauf hielt Nele Thyl eine Pistole entgegen. “Aber die Direktrice schaffen wir auch damit...” “Du willst Heike erschießen”, fragte Thyl vorsichtig. “Nach dem Essen”, sagte Nele, stellte die noch immer schwere Tasche auf den Boden und setzte sich. Mit der Rechten nahm sie den Löffel, mit der Linken kraulte sie Lord Baskerville den Hals. “Das ganze Rathaus wird ein Schlachthaus sein! Später ziehen wir uns wie Allende Stockwerk um Stockwerk zurück, und sie werden uns mit einem Hubschrauber bekämpfen müssen. Mit diesen ekligen Raketen... Wir werden wie arme alte Hexen verbrennen, aber sehen wird man das bis Marzahn!” “Und was wird eigentlich aus Lord Baskerville”, fragte Thyl, als der Topf leer war und es auf seinem Teller nichts mehr auszulöffeln und zusammen zu kratzen gab. “Der wird der erste Hunde-Märtyrer der Revolution”, entschied Nele im Aufstehen, beim Aufknöpfen der Jeans. “Und du, Lamme? Zwei sind niemand: die Drei sind der einzige Feind.” “Also ich... Ich habe ja noch Familie, irgendwie... Und zumindest müßte ich erst noch rauskriegen, ob meine Lebensversicherungen in so einem Fall auch wirklich zahlen.” Es war ein fast klares und fast objektives Nein, und die letzte Undeutlichkeit kam von Neles Nacktheit. Sie zeigte sie Thyl und Lamme, als wäre sie nie lesbisch gewesen, und Nele leckte die Seife für das Händewaschen an und zeichnete grauweiße Aderschwingen über ihre Brustansätze. “Das klitzeklein Gedruckte, ja...” Nele bückte sich in die Tür, hinter der nun Toilette und Dusche verborgen waren, und Thyl erhob sich, an den Manschettenknöpfen fingernd, mit schon offener Jeans vom Stuhl. “Und ich werde abwaschen. Später... Und du solltest dich wirklich mit Ines versöhnen, bevor wir...” Als die kleine, oben angescrägte Tür aufging, kreischte Nele, aber auch nach zwei Jahren erkannte sie noch wieder, was Thyl ihr ins Dunkle entgegen streckte. Sie befingerte das Teil, während der Duschschlauch so unter ihrem Fuß klemmte, daß die Wasserstrahlen sie heiß und kräftig zwischen die Beine trafen. “Bei dir war ich immer gerne die Sklavin”, flüsterte Nele und küßte die Schwanzspitze. “Die weibliche, die schwarze und die Lustsklavin...” Der Boiler lief viel zu schnell leer, aber es gefiel den beiden auch, tropfnaß im Waffenarsenal zu spielen, und im von Lamme verlassenen Wohnzimmer legte sich Nele auf den Schreibtisch, die Beine gespreizt und angewinkelt. Thyl bearbeitete sie wie ein Gesellenstück oder eine Promotion, Nele kraulte beruhigend den Hals Lord Baskervilles, und im Bett verlangte Nele, daß Thyl Afrikas ergiebigste Quelle erst trocken und dann wieder sumpfig leckte. “Du wir waren eigentlich nicht nur ein schönes und revolutionäres, sondern auch ein verdammt geiles Paar”, flüsterte Nele beim einschlafen. “Ob wohl irgendein Shakespeare über uns so etwa wie Romeo und Julia schreiben wird?” “Hatte ich selbst noch vor”, sagte Thyl gähnend. “Aber man kann halt nicht alles haben. Und weißt du, daß ich seit der Wende nicht mehr richtig geträumt habe?” ”Wir werden träumen, noch einmal”, versprach Nele. “Du meine Daumenschraube für die Titten...” Sie legte die Hand warm und schlaff zwischen Thyls Beine, seine Hand verschloß den Eingang in Nele, und trotz ihrer Reglosigkeit schwitzten sie das Meer, auf das sie in ihrem Bett hinaus trieben. Thyl hatte davon gelesen, daß der Ozean eigentlich eine Wüste sei, trotz aller Delphin-Schulen, Makrelen-Herden und Hai-Streifen so gut wie unbewohnt, und im Silber des Vollmonds hörten und rochen sie nur die Bruchstücke früherer Expeditionen, Kreuz- und Kaperfahrten. Es schlug hölzern oder metallen gegen den Bettrahmen, es roch faulig und nach Öl, und zwischen dutzenden Metern der Aufbrüche streckten sich die Jahrhunderte der Furcht kilometerweit. Später wehte ein leichter, nicht kühlender Wind die traurigen Lieder verschleppter Rothäute und verheizter Roter Matrosen herüber, und wenn es lange genug anhielt, hörten Nele und Thyl gerade aus dem lustigsten Piratenlachen das Schreien aufgeschlitzter Seesoldaten und aufgerissener Negersklavinnen heraus. “Besser, die Erde wäre eine Scheibe gewesen”, flüsterte Nele, “als daß die ganze Welt eine Scheibe gekriegt hat.” “Ja”, sagte Thyl knapp, weil er die Todeswelle kommen sah, die sie dann doch nur in einen heißen und schwarzen Sand kippte. Das weiße Tropenhotel, auf das sie zu krochen und zu gingen, wurde mit jedem Schritt größer und schroffer, war ein Bürohaus mit umstehenden Wachgebäuden und saugte sie endlich in eine Gefängnisschleuse. Thyl und Nele gingen an zweimal zwanzig Todeszellen-Türen vorüber, bevor der Gang wie der Strahl eines Sterns in einem vieleckigen Kontrollraum endete. Die Wände waren von angeschaltenen Monitor-Batterien verstellt, aber die Bilder hinter Staub und Spinnweben waren nur noch blaß und flackerten. Gezeichnete Kuschel-Mutanten bewarfen sich bis zum Umfallen mit Blütenblättern, ein Computervisir raste auf einen Zug zu, der sehr real aufflammte, und Dutzende Stiefel zertraten ein schwarzes Gesicht. In einem einzigen Gerät tanzten Greise mit durchkreuzten Bildern General Pinochets, und fett, leuchtend und lebendig waren allüberall nur die Fußzeilen mit den neuesten Aktiennotierungen. “Das ist dann wohl das Ende”, sagte Nele enttäuscht und ließ den Chefsessel im Halbrund des Steuerpultes kreiseln. “Niemand mehr da...” “Also”, kreischte es von der Mitte des brüchigen schwarzen Lederpolsters. “Keine solche Metastase zu sein, heißt ja noch nicht, niemand zu sein!” Mitten auf dem Sitz hockte ein farblich gut getarnter, aber glänzender Mistkäfer, der mit zwei Beinen eine winzige Stalinpfeife hielt, mit einem dritten Bein Tabak hinein stopfte und mit dem vierten ungeduldig das Zündrad seines Feuerzeugs drehte. “Aber da ihr die Köpfe nun schon mal in den Wolken habt, könntet ihr Nebukadnezar gleich noch sagen, ob ihr ihn sehen könnt?” “Gott”, fragte Thyl belustigt. “Und wer ist Nebukadnezar”, fragte Nele und kniete sich vor den Stuhl. “Nebukadnezar bin natürlich ich”, sagte der Käfer ärgerlich. “Und das mag ja sein, daß er sich für Gott hält... Für mich aber ist er einfach ein kleiner Hauptmann, ein Beinahe-Comandante höchstens!” “Verstehe”, sagte Thyl. “Hahaha!” Der Käfer ließ sich auf den Rücken fallen und strampelte mit allen Beinen außer dem, mit dem er die Tabakspfeife hielt. “Du, du willst ihn, gerade ihn, verstehen? Einen Verrückten?” “Und wie sieht er aus”, erkundigte sich Nele. “Hahaha! Das wüßten sie alle gern! Aber hat sich was! Er trägt immer eine Maske...” Das Lachen hatte den Käfer Nebukadnezar so erschöpft, daß er röchelnd Luft holte und lieber wieder ernster wurde. “Gleich drei rote Sterne hat er an der Mütze. Daran könnt ihr ihn erkennen... Und daran, daß er völlig verrückt ist! Frage ich ihn: eine ganze Armee ist hinter dir her, will dich erschießen und fangen und als letzten Revolutionär aufspießen wie unsereinen... Häh, was willst du da machen, du Beinahe-Comandante? Was meinst du, Mohrenköpfchen, was er geantwortet hat, dieser Verrückte?” “Keine Ahnung”, sagte Nele. “Fragen hat er gestellt”, behauptete der Käfer. “Ob er wirklich aufgespießt würde... Erschossen und gefangen... Und dann sagt der doch, der Verrückte: ‚Tja, dann hilft wohl nur, zu gewinnen.‘ Hahahahahahaha.... Und? Habt ihr so einen Hurensohn gesehen?” Nele schüttelte den Kopf. “Aber sicher wird er noch kommen... Es ist ja erst halb sieben. 1992 und halb sieben...” “Vielleicht rauchen wir eine Friedenspfeife und warten zusammen”, fragte Thyl und streckte die Hand aus, und der Käfer legte ihm die winzige Pfeife hinein.
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