![]() |
||||||||||||||||||||||||||
|
Schon als er vier Jahre alt war, stand für Till fest, daß er einmal Kapitalist werden würde. Vermutlich lag das daran, daß sein Vater, der noch immer studierte und sich seiner Schwiegereltern noch immer schämte, nur selten in der Ackermann-Villa auftauchte. Sein Auto-Onkel kam nur nach Hause, um mit dem Mörderchen zu schimpfen und seinen Chef zu verfluchen, aber der Großvater hatte immer Zeit, Geheimnisse und Späße für Till übrig. Weder im Salon noch in der Firma, die an den großen Villen-Garten grenzte, wurde dem Kapitalisten Adolf Ackermann widersprochen, und insbessonders wollte Till nach dem Abendessen ebenfalls in der Bibliothek sitzen, eine lange Zigarre rauchen und "Das Kapital" lesen dürfen. Da ihm der Großvater trotz aller Zuneigung die Zigarren verweigerte und weil Vetter Hartmut in jenem Herbst eingeschult wurde, beschloß Till, seine Laufbahn mit dem Lesenlernen zu beginnen. Er hockte in Hartmuts Kinderzimmer, wenn dieser das Fibel genannte Buch aufschlug, und ihre ersten gedruckten Weisheiten konsumierten sie noch gemeinsam: MAMA, MIMI AM BALL. MAMA MALT MIMI. Whrend sein Vetter in der Bertolt-Brecht-Oberschule aber RENI AM MEER buchstabierte, identifizierte Till die Buchstaben auf dem Vorratsporzellan in der Küche und quengelte, bis ihm die Großmutter A und L und M und L zu SALZ und MEHL ergänzte. Danach konnte Till den Napf mit dem ZIMT bestimmen, und vor dem Abendessen exerzierte Till die Übung noch einmal mit seiner Mutter. Dann hatte er das Wichtigste begriffen, das Prinzip. In der darauffolgenden Woche konnte Till Vetter Hartmut bereits zum ersten Mal Nachhilfe-Unterricht geben. “Der Zauberhut heißt immer A”, erklärte er, “egal ob in SALZ oder MARMELADE. Vastehste?”” “Salz oder Marmelade ist gar nicht egal”, widersprach Vetter Hartmut. “Käse ist egal. Der stinkt von allen Seiten.” Till kratzte sich den Kopf. “Naja... Der dicke Mann...” Wie es ihm der Großvater von den Türken erzählt hatte, bog Till beim Zählen die Finger um, statt sie zu strecken. “Der dicke Mann, der Ball, der Ball und die Zahnbürste heißen ja Hartmutchen.” “Du Krippenfurz, du Mamma-Küsser”, schniefte der Vetter. Er zog ein Heft aus dem Ranzen und zählte die Buchstaben auf dem Namensschild. “Hartmutchen ist... Na, jedenfalls ist es mehr als vier.” Till nahm einen Bleistift und krakelte auf den Heftumschlag, was ihm der Großvater von der Firmenmauer vorgelesen hatte. “Dicker Mann Ball Ball Zahnbürste”, wiederholte er. “Das heißt DOOF, und doof ist Hartmutchen, jawoll!” Till rannte davon, und obwohl ihn Harmutchen, leibhaftig ein fetter Vetter, nie eingekriegt hätte, machte es Till Spaß, zu spektakeln. “Mörder! Hilfe! Haltet mein Mörderchen!” In der Diele riß die Großmutter die Küchentür auf, und Till bersprang die untersten beiden Treppenstufen, stolperte über den Vorkriegsteppich und landete in den Armen der Großmutter. “Gassenjunge!” Die Großmutter drohte Vetter Hartmut mit dem Gulaschsuppen-Löffel. “Warum mußt du Gassenjunge ewig und immerzu den Kleineren schikanieren?” “Er hat gesagt, daß ich doof bin”, heulte Vetter Hartmut los. “Und Mutti sagt auch, daß er ein frecher Satan...” “Er muß mich hauen”, sagte Till verständnisvoll, “weil er größer und älter ist, weil ich aber schon lesen kann. Und schreiben... Und mein Mörderchen war er auch, stimmt’s, Omi? Als ich noch ein ganz kleines Baby war, hast du...” “Aber ich habe das doch nicht böse gemeint”, heulte Vetter Hartmut lauter. Er schlich die letzten Stufen hinunter wie ein gebrühter Pudel. “Tilli”, wimmerte er, “sei doch wieder mein bester Freund!” Till überlegte, bevor er heftig nickte. Er gab seinem Vetter die Hand, weil er von den Einkäufen mit der Großmutter genau wußte, daß noch mehr Freundlichkeit in der HO und in der Welt gewesen war, als noch alle Menschen Kapitalisten gewesen waren.
|
|