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“Die Partei, die Partei, die hat immer Recht”, hatte der Vorkämpfer der Roten Massenchöre gesungen, als er zum Röntgen davongefahren worden war. Seine Rückkehr wurde von demselben Lied angekündigt. Nur etwas heiserer klang es inzwischen. “...und, Genossen, es bleibe dabei...” “Da überschätzen Sie unsere Kartei aber doch etwas”, sagte Schwester Barbara, die das Bett am Kopfende zog. Sie lächelte nur verkrampft. “Über den Stummen Glatzkopf zum Beispiel ist in unserer Kartei immer noch nichts, Herr Bartsch.” “Wer das Leben beleidigt, ist dumm oder schlecht”, trompetete Friedrich Wilhelm Bartsch nun erst recht. “Wer die Menschheit verteidigt hat immer Recht!” “Niemand von uns will Ihnen oder der Menschheit etwas tun”, versicherte Schwester Barbara, und da sie es zum hundertsten Mal wiederholte und sich dabei aus Holzers Reichweite drehen mußte, klang sie nicht sehr überzeugend. “Guten Morgen, Herr Holzer!” Schwester Carmen die das Bett des alten Mannes vom Fußende her rangierte, blinzelte verschwörerisch. “Wenn Sie doch nur halb so lebendig wären... Für Ihr Alter, meine ich.” “Und Sie haben das Telegramm wirklich abgeschickt”, fragte Holzer unbeeindruckt, “Schwester Barbara?” Er versuchte, die Schwester, die wie eine traurige Marilyn Monroe aussah, auf ihrem Rückweg am Kittel zu erwischen. “Versuchen Sie doch mal, sich in die Lage eines echt bedürftigen Mannes zu versetzen, Fräulein Barbara!” "So aus Leninschem Geist”, brachte sich der Vorkämpfer der Roten Massenchöre wieder in Erinnerung. "...wurd von Stalin bescheißt”, sang plötzlich schief und etwas fiepsig eine neue Stimme, “die Partei, die Partei, die Partei!” “Das ist doch”, brüllte Friedrich Wilhelm Bartsch, bekam aber sofort einen Husten- und Krächz-Anfall. “Das..., das ist...” “Das ist nun der Massenchor”, sagte Holzer resigniert. Nun war er endgültig Luft für Schwester Barbara. Sie starrten den nicht mehr stummen Stummen Glatzkopf wie eine achtzehnjährige Jungfrau an. “Carmen”, kommandierte Schwester Barbara, “hole Doktor Sommer! Nur sie.” Sie beugte sich über den Glatzkopf. “Wenn Sie das mal bei mir machen würden”, maulte Holzer. “Ich wüßte das wenigstens zu schätzen.” “Du geiler Bock”, schnauzte Friedrich Wilhelm Bartsch. “Immer wieder fällst du auf diesen Uralt-Trick rein!” “Ich bin Schwester Barbara. Und wer sind Sie?” “Keine Ahnung. Was habe ich denn der Aufnahme gesagt?” Holzer schüttelte den Kopf. “In die Chirurgie wollte ich. Und gelandet bin ich in der Klapsmühle.” “Schwester Barbara”, meldete Schwester Carmen von der Tür aus, “Ihre Frau Doktor Sommer weist gerade die Schwester von der Intensivstation ein...” Sie grinste und sprang aus dem Weg der warmen Schwester. “...wo überall gewischt werden muß.” Schwester Carmen blinzelte Holzer zu, aber der lief rot an, und so widmete sie sich dem frisch erwachten und noch unbeschädigten Patienten. “Vielleicht wollen Sie sich aufsetzen? Komisch ist das mit Ihnen ja: als ich Sie gefüttert habe, vor zwei Stunden, haben Sie noch nicht Meff gesagt. Ich bin übrigens Carmen. Ich weiß, daß ich da dunkler und dünner aussehen müßte, aber...” Alle warteten auf ein weiteres Wort des nicht mehr stummen Stummen Glatzkopfes, doch der schwieg wie- der. “Stalin kann davon nichts wissen”, begann Friedrich Wilhelm Bartsch also seine Bekehrung. “Nur das ist logisch. Es sitzt da jemand, offenbar ganz weit oben, der Stalins Vertrauen hat und es mißbraucht, ihn abschirmt und in seinem Namen... Ein trotzkistischer Schädling, jawohl!” Holzer stöhnte. “Mensch, Fritz, wir sind nicht unter uns!” “Jetzt ist das
egal. Spätestens nächste Woche bin ich dran, haben sie mir vorhin gesagt,
und was das bedeutet, ist doch wohl klar.” Der Vorkämpfer der Roten Massenchöre
gab auch die letzte Verstellung auf. Vor den Augen der Schwester,
die er für eine dicke Polizistin hielt, rappelte er sich zum Sitzen auf. “Jetzt
werden sie erleben, mit wem sie es zu tun haben: ohne Taktik, ohne List. “Na, sicher wollen Sie sich erst mal ausruhen”, kapitulierte Schwester Carmen. Sie verließ das Zimmer, aber sie ließ kein Auge vom Stummen Glatzkopf, stieß sich lieber an Holzers Bett. “Junge”, sagte Holzer, “die mußt du dir weiter warm halten! Die wiegt für anderthalb, aber so heiß und scharf ist die auch.” “Du, laß dich nicht einwickeln”, riet Friedrich Wilhelm Bartsch, “so kurz vor Schluß. Die Russen stehen schon na der Oder, sichere Quelle. Unter einem neuen General... Wie dieser Wodka... Genau!” Er war zufrieden, daß der Glatzkopf ihm zuhörte, und er sah triumphierend nach dem Scheiß-Spion neben der Tür. “Natürlich hätte ich gern noch erlebt, was für Fressen diese lächerlichen Herren ernste Komponisten dann machen werden, diese Pinguine! Die Städte werden mit unseren Liedern aufstehen, leben und schlafengehen! Die ganze Arbeiterklasse ein Chor... Jeder ist praktisch Solist, aber jeder will im Chor singen...” Vor inzwischen fünfundfünfzig Jahren, bei einem ehrlichen proletarischen Bier, hatte Hanns Eisler diese Idee sogar schulterklopfend gelobt und hatte seinem Mitsänger und Mitkämpfer in die Hand versprochen, einen Gropius aus Dessau für den Bau einer Beispiel-Siedlung zu gewinnen. Jeder Wohnblock würde schließlich einen Probensaal brauchen und die Balkons mußten so angeordnet werden, daß sich ein spontan angestimmtes Lied herumsingen konnte und jeder zugleich daheim und auf seinem Posten im Roten Massenchor war. Der Ort für dieses Beginnen sollte Sowjetdeutschland werden, und daß diese Sache Weile brauchen wrde, hatte Friedrich Wilhelm Bartsch schon Mitte 32 gerochen. Er war dem Gegenschlag nach Wien ausgewichen, wo er weiter geschlossert hatte, aber er hatte sich unmöglich aus dem Antifaschistischen Aufstand sogar der Sozialfaschisten heraushalten können. Mit ihnen besiegt und in die Sowjetunion entkommen, war er kurz nach einer umjubelten Rundreise verhaftet und eingesteckt worden. Was Stalin oder der trotzkistische Schädling in seinem Vorzimmer gegen die Idee hatten, bekam der Vorkämpfer der Roten Massenchöre weder in Stalins Lager noch in dem KZ heraus, in das man ihn nach dem Nichtangriffspakt ausgeliefert hatte. Friedrich Wilhelm Bartsch kicherte. “Statt Blumen. Nachdem alles vorbei war, habe ich mir und allen eben gesagt, daß wir die Blumen zu dem Scheiß-Vertrag waren.” “Und das dritte Loch willst du unterschlagen”, fragte der Glatzkopf interessiert. “Rowdytum, heute würden wir Rowdytum sagen”, verriet Holzer, bevor der Alte Fritz genug Atem für die Geschichte geholt hatte. “Schlägerei mit der Chor-Konkurrenz.” “Mit ‘ner sozialfaschistischen Liedertafel”, präzisierte r Vorkämpfer der Roten Massenchöre. “Jedenfalls sagten wir so, damals, und wir dachten und fühlten das auch. Später soll das ja falsch gewesen sein, aber die Revolution und der Sozialismus waren noch weit weg, damals, und wir taten erst mal was!” “Damals”, stöhnte der Glatzkopf. “Sprüche”, stöhnte der Spion. Alles Stöhnen aber konnte Friedrich Wilhelm Bartsch nicht an den Gewißheiten zweifeln machen, die er über die späteren Krisen gerettet hatte. Eisler war als Sinfonienschreiber und Sekttrinker aus dem Exil zurückgekehrt, die Chöre waren so kaputt wie die Wohnhäuser und aus den Radios klangen die alten Lieder sehr neu und sehr studiert, aber nicht besser. Gut bezahlte Nachtigallen trällerten von der Arbeit Frongewalt, die der Vorkämpfer der Roten Massenchöre als alter und ehrlicher Arbeiter ganz selbstverständlich wieder aufnahm. Als der Staat der Arbeiter und Bauern dann aus dem Gröbstem heraus war, hatten die Musikhochschulen und Singakademien für Friedrich Wilhelm Bartsch keine offenen Ohren und Türen mehr, und ohne einen ihrer Scheine ließ sich kein Roter Chor gründen. Den Massen hatten die Vampire und Zwölfton-Mafiosi aber längst beigebracht, daß die volksnahe Musik aus Operetten, Schlagern und Blasmusiken bestand. Friedrich Wilhelm Bartsch stöhnte erst da und winkte mit der dünnen Hand den Takt. “Wohlan wer Recht und Wahrheit achtet, zu unser Fahne steh’ zuhauf! Wenn auch die Lüg uns noch umnachtet..." Fachärztin Marietta Sommer besichtigte die Belegschaft der ehemaligen Besenkammer allein. Der Blinddarm hätte entlassen werden können, hätte er nicht zwei Personenzug-Stunden vor sich gehabt. Der alte Mann war endgültig zum Messer verurteilt, und der Unbekannte Pharao, Stumme Glatzkopf und namenlose Schwätzer wurde als ihr Hobby angesehen. “Schwester Barbara behauptet, daß Sie sich nicht einmal an Ihren Namen erinnern”, begann Marietta Sommer und stellte sich einen Stuhl zwischen Bett und Fenster. “Und seit Sie hier sind, hat die Polizei nur nach dem Verbleib von zwei sechsjährigen Hilfs-Sandinisten, einer neunzehnjährigen Tramperin und einem dreiundfnfzigjährigen epileptischem Scheckbetrüger geforscht. Als was soll ich Sie also melden?” “Daß man mich nachher aus dem Auto geworfen hat, Kopf auf das Pflaster, würde doch die Gedächtnislücke erklären.” “Da ich Sie selber ausgewickelt habe, kann ich aber mit ziemlicher Sicherheit behaupten, daß Sie nicht die Tramperin sind.” “Der Scheckbetrüger also?” “Kaum. Dann hätten Sie ja eher zuviele Namen als gar keinen.” “Und ein oder zwei Sechsjährige möchte ich nicht sein. Immer diese schweren Schulranzen, wissen Sie!” Marietta Sommer lächelte. “Dann müssen wir es anders versuchen. Wovon haben Sie denn in der letzten Zeit geträumt, woran erinnern Sie sich überhaupt? Sagen Sie es mir, auch wenn es Ihnen noch so nebensächlich erscheint!” Der Namenlose schwieg und starrte die Ärztin an. Er wußte, aus irren und schweißtreibenden Träumen aufgewacht, nur noch, daß er geträumt hatte. “Ich kann nicht aus dieser Gegend sein, klar! Wir würden uns sonst bestimmt kennen, würden verheiratet oder zumindest geschieden sein... Hilft Ihnen das denn irgendwie weiter?” Holzer grinste, setzte sich auf die Bettkante und ließ die Beine baumeln. Das Kompliment gönnte er der Ärztin und ihrer warmen Schwester, die für die männliche Hälfte der Menschheit nun wirklich ein Verlust war. “Das war ein formal einwandfreier Heiratsantrag, Frau Doktor! Und wir würden Ihnen das jederzeit bezeugen. Stimmt’s, Fritz?” “Not kennt kein Gebot”, leierte der Vorkämpfer der Roten Massenchöre. “Versinke im Schmutz, umarme den Schlächter, wie der Eisler geschrieben hat, als er noch mit unsereinem Bier getrunken hat... Aber ändere die Welt: sie braucht es. Das hat er doch nie und nimmer ernst gemeint! Oder?” “Immerhin hätte er dann einen Namen!” “Also los, Mister Nobody, Kapitän Nemo!” Marietta Sommer klopfte dem Patienten auf die Schulter, um den Heilerfolg nicht noch zu bereuen. “Sie versuchen jetzt ein paar Schritte, sozusagen weg vom OP-Tisch! Und wenn es Ihnen hilft, bilden Sie sich eben ein, es geht zum Altar!” Sie schlug die Bettdecke zurück und schob mit dem Fuß die Erbpantoffeln der Station zurecht, die Kapitän Nemo zu klein sein würden. Holzer pfiff durch die Zähne. “Ej, sie will mit dir in ein Einzelzimmer! Und mich, Frau Doktor, müßten Sie nicht so lange darum bitten...” Marietta Sommer hob die Brauen, überlegte und polkte das Namensschildchen vom Kittel. “Bitte! Spielen Sie mir keine Lähmung vor! Reden Sie sich keine ein!” Sie piekte Kapitän Nemo mit der weit aufgebogenen Sicherheitsnadel in die linke und in die rechte Wade, und er verzog das Gesicht, bewegte aber nicht einmal die kleinen Zehen. Die Ärztin kam ins Schwitzen, während sie den mittelgroßen Kerl dennoch auf seine Füße zu stellen versuchte. Schließlich hing er an ihrem Hals, vor ihrer Brust, und er war trotz seiner Magerkeit schwerer als ein großer Zementsack. Auch vor Wut schwitzte und schnaufte Marietta Sommer, denn Kapitän Nemos Arme funktionierten und drckten sie, während der Blinddarm auf der Kante des Türbettes thronte und dreckig grinste. “Sie! Sie klingeln doch sonst immerzu nach den Schwestern! Jetzt dürfen Sie mal!” Gemeinsam mit Schwester Carmen bekam Marietta Sommer Kapitän Nemo sogar recht schonend in sein Bett zurück. Trotzdem ging sie in der Stimmung, sich das Wochenende wieder frei zu tauschen und sich für das Montagsgemetzel freiwillig zu melden. Holzer und Schwester Carmen warfen gleichzeitig Kontrollblicke auf den Alten Fritz und verständigten sich mit den Augen. “Ob ich es schon riskieren könnte, meiner Verdauung mit ‘ner Zigarette aufzuhelfen”, fragte Holzer halblaut. “Aber von mir haben Sie weder die Glimmstengel noch die Erlaubnis...” Schwester Carmen blinzelte Holzer zu, dann dem Kapitän Nemo, und sie deckte ihren neuen Patienten so zu, daß ihre rechte Hand unter der Decke zu liegen kam. “Unterhalb des Nabels kein Gefühl mehr zu haben, muß fürchterlich sein!” Da er im Krankenhaus-Nachthemd bereitlag, war sie sofort bei der Sache, die im Handumdrehen eine sehr groáe Sache war. “Also ich habe durchaus das Gefühl, daß ich was fühle”, sagte Kapitän Nemo und knöpfte den Schwesternkittel ber dem breiten Gesäß auf. Er schob einen Zeigefinger in das Beinloch des Slips. “Und Sie sollten wirklich gar nichts merken?” Früher, glaubte er, sich zu erinnern, hätten ihm in einer solchen Situation nur die Kopfhaare gestanden.
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