3.

Nele kannte alles Folgende aus “Im Namen der Rose”, und außer Sean Connery fehlte in der alten Folterkammer des Bezirksamtes nur noch das Bild des abgestürzten Dachdeckers. So sehr erinnerte die Mutter Oberin an die satanische Kreisschulrätin, etwa so, wie ja auch jeder Mercedes an einen Trabant  erinnerte. Einmal in Fahrt waren beide tödliche Waffen, denen  giftiger Gestank nachwehte. Am meisten schaffte Nele freilich, daß ihre alte Direktrice und Freundin Heike Lauterer die windabhängige Mieffahne machen wollte: westlich kühl und mit Haftschalen in den nicht mehr zitternden Augen. Irgendein Luxus-Shampoon war mit dem Kummerfett ihrer blonden Locken fertig geworden, und sogar in Filmen waren die Kolonial-Unteroffiziere ähnlich steif, streng gekleidet und von ihrem Einsatz beleidigt.

Der grüne Wende-Schulrat, der Neles Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, hockte als stumme graue Maus in der Fensterecke, und als Knochenbrecher saß neben der Tür ein bulliger Elternvertreter. 

“Guten Tag”, sagte die Äbtissin und wandte den Kopf ihrer Helferin zu, “Frau...” 

Heike sah lange in die Akte, bevor sie Neles Namen buchstabierte. “Frau Car-val-ho, Nele... Eine typische Modrow-Lehrerin,  wie es scheint.”

“Ich war wirklich nicht Modrows Lehrerin”, sagte Nele spöttisch. “Okay, ich habe ihn später mal gewählt, aber...”

“Wen Sie wählen, darf uns nicht interessieren”, sagte der Wende-Schulrat. “Daraus wird Ihnen keiner einen Vorwurf machen, soweit ich den Rechtsstaat verstehe.”

“Aber...” Die Äbtissin ließ sich von Heike Lauterer eine Akte geben und zog nur das lose eingelegte Blatt mit den Auszügen. “Aber Sie haben, Frau Krawallo, öffentlich bedauert, nicht schon  der ersten Klasse Karl Marx vorlesen zu können! Sie haben Kinder, die gegen Margot Honeckers Bildungspolitik opponierten, ‘blöde Mäuse’ genannt, nach den Akten jedenfalls. Und Sie haben dem kommunistischen Unrechtsregime vorgeschlagen, Ihren nach Hamburg geflohenen Mann in die Fänge der Stasi zurück zu locken.”

“Wovon der Herr Schulrat bei Ihrer Einstellung keine Kenntnis  hatte”, ergänzte Heike Lauterer beflissen. Der Schulrat zuckte für Nele die Schultern und nickte den Inquisitorinnen eifrig zu.

Nele schüttelte den Kopf. “Und für die Stasi habe ich auf dem  Friedhof die Versammlungen der Reitenden Leichen beobachtet!”

Nele rechnete irgendwie immer noch damit, daß ihre alte Direktrice und Freundin die Verstellung aufgeben und ihr lachend zu  irgendeiner Beförderung gratulieren würde, aber Heike Lauterer holte nur aus einer anderen Akte einen weiteren Zettel.

“Was das angeht”, sagte die Äbtissin, während sie die Notizen überflog. “Sie haben erstens die Stasi-Agentin ‘Tania’ in einen oppositionellen Künstler-Kreis eingeführt und ihr zweitens Ihre Wohnung als konspirativen Treff zur Verfügung gestellt. Richtig?”  

“Jedenfalls nicht falscher als das Andere”, sagte Nele und schlug den Kragen ihrer Jeans-Jacke hoch. “Und Sie wollten mich gar nicht anhören, sondern einfach fertig machen, stimmt’s?”

“Sie müssen doch zugeben”, verkündete der Wende-Schulrat das Urteil, “daß Sie nach alldem für einen demokratischen Rechtsstaat absolut untragbar sind!”

“Als Lehrerin untragbar”, schränkte die Äbtissin eilig ein und gab  Heike Lauterer die Akte zurück. “Einen Guten Tag noch, Frau Krawallo! Es hat uns gefreut!” 

“Sie sind mit Wirkung von heute an aus dem Schuldienst entlassen”, faßte der grüne Schulrat zusammen.

“Rote Ratte”, knurrte der Elternvertreter, als Nele an ihm vorbei zur Tür schlich, “schwarze...”  

Nele schüttelte den Kopf, während sie die fünf Treppen nach unten stieg, weil die Stasi-Agentin “Tania” doch nur ihre alte Direktrice und Freundin und der konspirative Treff sogar ein illegales Obdach gewesen war.  

Damals hatten Nele und Thyl gerade den Nachttopf überreicht, damit Lamme nicht jede Nacht durch ihren siebten Himmel auf die Toilette stolpern mußte.

Lamme ließ den Kopf auf das Kissen seiner Doppelkinne sinken und schielte unter den gerunzelten Brauen hervor. “Verstehe ich richtig, daß ich von jetzt an auf diesen Fingerhut soll? Trotz meiner zwei Zentner und nur wegen euch geilen Spaghettis? Wie ein Dreijähriger...”

“Wie Ludwig der Vierzehnte”, wandte Thyl ein. “Das Nachtgeschirr Ludwig des Vierzehnten hat bei der letzten Versteigerung von Sotheby’s...”

“Nimm das ein, und sieh dir das Notdurftmöbel dann noch mal an!”

Aus dem Einkaufsbeutel, der neben dem Küchentisch stand, holte Nele die unvernünftig teure Versöhnungsfla­sche und drehte das Etikett langsam Lamme zu.

“Bester Saar-Essig in Original-Abfüllung.”

In diesem Moment klingelte es an der Tür, stürmisch, aufgeregt wiederholt und schließlich ausdauernd.

“Und nicht mal bezahlt habt ihr das Ding”, stöhnte Lamme, während er sich erhob. Er ließ sein Gehalt auf ein neu eröffnetes Konto überweisen, um Ines die Alimente per Postanweisung schicken zu müssen und ihr so monatlich seine Adresse mitteilen zu können. Von jedem Klingeln erwartete er den Versöhnungsbesuch. “Ich hoffe, es ist noch ein Untermieter”, sagte Lamme, obwohl er dafür auf halbem Weg noch einmal umkehren mußte.

Auf den zweiten Blick war der militante Störer ihres angebrochenen Abends eine Störerin, verschwitzt und mit schwarz gestreiftem Gesicht. Sie starrte Lamme erschrocken an, obwohl er ganz unsensationell in seinem Ministeriums-Anzug war.    

“Die Amerikaner wollen kontrollieren, ob ihr eure SS 20 auch wirklich zu SeRo gebracht habt”, meldete Lamme nach einer kurzen Bedenkzeit. Weil ihm die Unbekannte vor Verfolgungswahn wegsterben wollte, zog er sie am getigerten und leopardenen Uniformärmel in die Wohnung, beruhigend in seine Umarmung.

“Nele”, fragte die Frau.

“Nicht direkt... Aber schon mal ihr Koch... Nele!”    

“Ja”, fragte Nele von der Schlafzimmer-Tür aus und versuchte,  an Lamme vorbei möglichst viel zu erkennen. “Also ‘n waschechter Neger sind Sie nicht... Sie... Du, du bist...” Die blonden Stoppeln kannte Nele nicht, aber das rechte Ohr der Besucherin

kam ihr bekannt taub vor. “Du bist du, und dafür siehst du verdammt lebendig aus, Direktrice!”        

“Und ich, ich habe das Pergamon-Museum angezündet”, heulte Heike Lauterer los. “Sicher suchen die mich jetzt überall!”

“Und der Bereichsleiter Museen ist gerade zur Kur”, wußte Lamme Bescheid. “Hätte nicht ein Jugendklub gereicht, Mensch? Die Chefin Staatliche Jugendklubs ist gerade von der Kur zurück...”  

“Das klingt auch nur im ersten Augenblick ungeheuerlich”, versuchte nun auch Thyl eine Tröstung. “Irgendein Herostratos hat mal einen Tempel angezündet, bloß weil er berühmt werden wollte. Und so einen guten Grund wirst du doch mindestens gehabt haben, nicht?”

Lamme hatte seinen Saar-Wein geopfert, um die angesengte Soldatin zu betäuben, und während Nele ihre Direktrice und Freundin in der Küche abwusch, hatten sich Lamme und Thyl vor den Fernseher geklemmt. Zumindest für die Nachrichtensendungen stand das Pergamon-Museum weiterhin, und Lamme brachte am nächsten Nachmittag nur die Ministeriums-Argumentation zu einer lange geplanten Restaurierung und Renovierung des Museums mit.

Spätestens von da an glaubten die drei Freunde Heike Lauterer ihre Geschichte, und  am Schwersten nahm die Sache sowieso Lord Baskerville. Er hatte bis zum Einzug dieser Untermieterin das Privileg gehabt, sich aus Hunde-Alpträumen auf Lammes AusziehSofa zu fliehen, und wurde nun sogar aus dem Schlaf unter dem alten Schreibtisch gestöhnt und gewinselt.

Zumindest getan hatten die Genossen der Staatssicherheit nämlich so, als hätten sie Heike Lauterer nur wegen der pazifistischen Aufnäher und der bunten Nele-Geschichten aufgesucht, und Heike Lauterer war eigentlich objektiv und reserviert geblieben. Sie hatte den Zusammenhang nicht zu sehen vermocht.  

“Also demütig und keusch, wie ich mir eine Christin vorstelle, ist die Kollegin Carvalho bestimmt nicht.”

“Oh, die Bibel läßt da mehr Freiräume als unser Parteistatut”, lachte der dickliche Genosse, der sich Siegmund nannte. “Da hält sie eben buchstabengetreu die linke hin, wenn ihr einer auf die rechte Arschbacke haut.”

“Ich mag diese Redeweise nicht”, sagte Heike kühn. “Und sie sagt immer ‘Schwertfische zu Flugenten’. Da wird sie das doch nicht indirekt fördern.”   

“Aber auch nicht direkt bekämpfen”, folgerte Siegmund scharf. “Und verläßliche Quellen haben sie schon mit einem Abzeichen gesehen ‘Petting statt Pershing’. Was soll ich im übrigen mit diesen Stoffetzen?”

“Beweisstücke”, fragte Heike vorsichtig, obwohl der zuständige Genosse sich da sicher besser auskannte.”Und für eine Lehrerin ist der Spruch skandalös,  ja, natürlich. Aber gegen Pershings sind wir doch auch. Oder?”        

“Ja, das ist ja die Frage! Beziehungsweise gerade nicht... Was nämlich, wenn auf der Plakette ‘Pershing’ steht, die Trägerin aber unsere SS 20 meint? So dumm ist der Gegner nicht... Womit ich nicht gesagt haben will, daß wir die Genossin Carvalho für eine Gegnerin, also für eine Spionin oder Konterrevolutionärin halten! Nein, wirklich nicht!”

“Aber zu ‘nem Abzeichen ‘SS 20 statt Pershing’ möchte ich ihr auch nicht raten müssen”, sagte Heike Lauterer unsicher, aber völlig im Ernst. Daß sich der zuständige Genosse Siegmund lachend auf die Schenkel klopfte, verwirrte sie. “Ich behalte Nele im Auge, doch, selbstverständlich”, versprach Heike, um die Unterredung zu  beenden. “Aber zuviel versprecht euch davon nicht! Richtig befreundet bin ich mit ihr nämlich nicht! Kann ich ja in meiner Position mit solchen Leuten gar nicht sein...”  

“Schade, sehr schade”, sagte Siegmund. “Das würde uns unsere Arbeit nämlich sehr erleichtern... Na, du machst das schon! Und gekommen bin ich, denke dran, von der Abteilung Volksbildung, und nur...”

“...nur wegen dieser Abzeichen, klar”, ergänzte Heike Lauterer. Sie blieb noch eine Weile an ihrem Schreibtisch sitzen und spielte mit den Stoffkreisen, auf denen der blaue russische Schmied ein Schwert bis zur Unbrauchbarkeit krumm hämmerte. Aus dem Schulleben ausgesondert und von den Jacken getrennt, hatten die Abzeichen jede Gefährlichkeit verloren und fast alles für sich. Erst als die große Pause eingeläutet wurde und irgendjemand vorbeikommen konnte, wischte Heike Lauterer ihre Beute in den Papierkorb.

Noch als sie ihre Berichte schon mit “Tania” unterschrieb, meldete Heike damit kaum einen Gedanken, den sie nicht schon einmal selbst gedacht hatte: im Bett mit Martin oder in der S-Bahn, mit Nele zu ihren Künstlerfreunden unterwegs. Es waren die anderen, die Heike “Tania” Lauterer aus ihrer Rolle als Vermittlerin zwischen der Macht und der Opposition drängten, weil jede Seite sie ganz und allein haben wollte.

“Regina, das ist Die häßliche Frau, hat behauptet, du wärest ein Spitzel”, erklärte Nele auf einer S-Bahn-Heimfahrt. “Aber als sie bei mir abgeblitzt war, hat sie das von mir rumerzählt. Das gehört mehr dazu, als daß es stört, und  es vergeht, wenn sie wieder zu  fummeln hat.”

Heike Lauterer wurde bleich. “Wie... Wie kann sie denn gleich so etwas behaupten? Und wieso ist sie abgeblitzt? Sie hat doch nicht... Ich bin doch gar nicht...”

“Direktrice”, lachte Nele. “Wie sie nur mal so mit dem Knie an dich ran ist, hast du gleich deinen Anti-Stalin zum Gott aufgeblasen, vorletztes Mal. Das haben alle gecheckt...” Nele bekam einen Lachanfall und schüttelte ihre Direktorin ein bißchen, um sie wenigstens zum Lächeln zu bringen. “Und du taube Nuß und  blindes Huhn, sollst ‘n Spitzel sein, ‘ne Spionin, eine Kundschafterin des Friedens!”

Es war ein Künstlerspaß gewesen, daß Die häßliche Frau drei Handwagen mit Sperrholz-Raketen im Keller hatte, die bei der nächsten Mai-Kundgebung gegenüber der Tribüne zersägt werden sollten. Daß drei Tage nach dem Einfall die Keller der Hinterhäuser durchsucht worden waren, hatte Der häßlichen Frau noch Spaß gemacht, wußte Nele Bescheid. Nicht mehr verzeihen konnte Regina aber, daß gleich nach den Wohnungs-Durchsuchern auch die kleine schönlockige Philosophie-Studentin gegangen war, der sie wochenlang und letztlich vergeblich die Café-Rechnungen bezahlt hatte.       

“Den schuldigen Schuft will sie nackt ausziehen”, schrie Nele begeistert durch die S-Bahn, “bunt anmalen und durch die Schönhauser peitschen, bei schön grauem Schnee!”

“Also das halte ich dann erst recht für ein’ Spaß”, beruhigte Siegmund seine fast enttarnte Agentin am nächsten Vormittag. “Natürlich ist das trotzdem nicht gut für uns.”

“Nicht gut für mich”, wollte Tania festgestellt wissen. Um zu  zeigen, daß sie dieses Kapitel ihres Lebens für abgeschlossen hielt, nahm sie irgendeinen Aktenordner, zog ein wichtiges Gesicht und blätterte. “Ich glaube, die reden in meiner Gegenwart nur noch Blödsinn, Zeitungszeug.”

“Für dich wäre das natürlich auch peinlich”, bestätigte Siegmund und grinste anzüglich. “Nackt und bemalt... Das mit dem Raketen-Witz hättest du aber auch merken müssen, liebe Genossin!” Er legte die Hand in Tanias Aktenordner. “Und andererseits würde dir Die häßliche Frau bestimmt vertrauen, wenn du... Aber ein solches Opfer dürfen wir dir bei deiner geringen Erfahrung nicht abverlangen, klar...” Siegmund lauerte ein paar Augenblicke lang, ob sich Tania nicht schnell selbst verpflichten würde. Dann beugte er sich nach seinem Aktenkoffer und entnahm ihm mit schnellen Bewegungen ein Notiz-Buch. “Könnten wir... Könnten wir statt deiner zum Beispiel die Kollegin Carvalho, Nele ansprechen?”

“Nein”, sagte Tania schnell, fast zu schnell. Es war ein Stück Eifersucht in ihrer Antwort, aber auch echte Sorge um das Ministerium und um Nele. “Ihre Mutter war zwar in der Partei und selber mimt sie den Gewerk­schaftsvertrauensmann”, argumentierte Tania eilig, “aber ihr Vater war doch Terrorist oder Revolutionär oder so.” 

“Das vererbt sich doch nicht wie Affennäschen und Wulstlippen”, erklärte Siegmund souverän und blies den Zigarettenrauch genießerisch durch die Nase in Tanias Gesicht. “Und es gibt berühmte Terroristen, die sehr gut mit Staatsorganen zusammengearbeitet haben.” “Nein, nein”, widersprach Tania mit all ihrem Mut. “Und so ernst nimmt sie, glaube ich, weder den Terror noch irgendeinen Staat.” 

Von dieser Behauptung war Nele begeistert gewesen, als Heike Lauterer wieder aufgetaucht war, fast ein Jahr nach ihrem tödlichen Auto-Unfall und tatsächlich wie neu geboren. Sie trank den Wodka wie ihre früheren Gesundheitstees, bediente sich an Lammes CLUB und lehnte so an Lamme, daß allen klar war, daß sie sich in dieser Nacht auch noch seiner bedienen würde.

Das Letzte; Pharao;
Am Anfang; Vögelchen;
Nackt; Indianer;
Stalin; Kapitalisten;
Pinguinhahn; Chefarzt;
Hartmutchen; Persien;
Commune; Geil;
Knutschen; Kapital;
Kamel; Frühling;
Iljitsch; Weiß;
Philo; Sie Idiot;
Magenkrebs; Nele;
Königin; Grieche;
Elefant; Robin Hood;
Woman; Mordsleute;
Bulgarien; Marx;
Döbeln; Witwen;
Leopard; Senf;
Jesus; Thyl;
Hunde; Lamme;
Autsch; Platon;
Flußpferd; Saudis;
Tauben; "Arche";
Huacsar; Ratte;
Sihetekela; Lesbe;
Steaks; Giordano;
Linke; Das Recht;
Miststück; Sartre;
Genosse; Libre;
Nebuk...; Chesus;
Lennon; Dr. Schwarz;
Towarisch; Afrika;