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Thyl hatte seinen Arbeitsbeginn für 9.30 Uhr festgesetzt, und er war pünktlich am Tor. Wie ein wirklich langjähriger Mitarbeiter nickte er dem Pförtner zu, statt umständlich den Betriebsausweis zu ziehen. Thyl war schon auf dem Hof, als der Wachmann aus seinem Häuschen geschossen kam. “Mensch, Seidel! Ohne die Lederjacke wärest du gar nicht mehr wiederzuerkennen!” Thyl blieb stehen, drehte sich um und ging drei Schritte auf den Mann zu. Es war ein guter Test, und es war zugleich eine günstige Gelegenheit, vorzubauen. “Ich fühle mich auch wie neu geboren. Vor allem, was die Erinnerung angeht...” Thyl langte in den schwarzen Beutel, in dem er den Wieder-Einstand schleppte, und zog ein Berliner Pilsner. “Karriere willste also machen”, sagte der Pförtner und hebelte die Flasche am Türschloß seines Häuschens auf. “Karriere? Ich? Wieso?” “Na, jetzt haste doch einen brechtigen Haarschnitt ‘für...” “Bin ordentlich auf den Kopf gefallen”, witzelte Thyl mit. “Da werde ich die Karriere wohl machen müssen.” Thyl nickte noch einmal und machte sich auf die Suche nach der Verwaltung, der Kantine oder dem Arbeitsplatz. Er oder Frank Seidels Lederjacke wurde überall ähnlich freundlich und unverbindlich aufgenommen, und Thyl gab lieber einmal mehr als nötig zu, sich an Namen und Pflichten nur noch schlecht zu erinnern. “Seid ihr meine Brigade oder so”, fragte Thyl eine Ansammlung von Mnnern in Arbeitsanzügen. Er stellte den schwarzen Beutel an ihren Riesen-Aschenbecher, und nach der Selbstverständlichkeit, mit der die Männer hineinlangten, mußten sie Frank Seidels Brigade sein. Als Thyl von der Toilette kam, war der lange, nur schlecht beleuchtete Gang leer und still. Nirgends sah Thyl einen Wegweiser zur Bühne, nur ein paar Bume aus Pappe und Bindfden standen herum. Hinter Thyl knurrte eine Tür. “Was machen Sie denn hier”, fragte ein hagerer Mann. Er war in schwarzen Cord gekleidet, und er hatte dieselbe kurze Karriere-Frisur wie Thyl. “Ja, Sie meine ich!” “Keine Ahnung”, sagte Thyl ehrlich. “Ich bin heute den ersten Tag hier, nachdem ich...” Der Schwarze Mann winkte ab. “Ah, ja! Reschke, ehemals Döbeln, der neue Regie-Assistent. Na, los doch! ‘ Probe beginnt gleich...” Der Schwarze Mann wollte keine Erklärung und war in Eile, aber immer, wenn Thyl aus seinem Windschatten verschwinden wollte, sah er sich tadelnd um. So gelangte Thyl schließlich in den dunklen Zuschauerraum, in die Reihe hinter dem Regie-Pult. “Reschke, ehemals Döbeln”, flüsterte der Schwarze Mann. Drei Tage lang trieb der Mann Thyl bei Arbeitsbeginn auf, in der Kantine, im Umkleideraum und zuletzt auf der Toilette, und immer führte er Thyl vor denselben Zuschauer-Sitz. Am Ende des dritten Probentages wandte sich der Regisseur und Intendant, in Schwarz, kurz-, aber grauhaarig, an Thyl. “Kommen Sie denn mit uns zurecht, Reschke? Und schmeckt die Arbeit?” “Wenn ich ehrlich sein soll”, sagte Thyl vorsichtig, “dann komme ich mir ein bißchen überflüssig vor.” Das Regie-Team tuschelte aufgeregt. “Also: Brecht, immerhin Brecht, war bekanntlich Regie-Assistent bei Reinhardt”, dozierte der Regisseur und Intendant mit großmütigem Spott. “Reinhardt sah ihn nie an, fragte ihn nie etwas, gab ihm nie den kleinsten Auftrag. Brecht, immerhin Brecht, saß also unbemerkt und ziemlich überflüssig rum. Und dann fehlte Brecht bei einer Probe. Reinhardt wurde unruhig, sah sich suchend um und winkte seine anderen Assistent ran: ‘Wo ist heute bloß der Brecht?’ Tja... Alles klar, Reschke?” “Ich glaube, Sie überschätzen mich”, sagte Thyl, aber das ganze Team war nur dagewesen, um dem Regisseur und Intendanten zuzuhören. Am folgenden Morgen gelang es Thyl, sich hinter seinen Kollegen Bühnenarbeitern zu verstecken, und hinter ihren proletarischen Rücken gelangte er zum ersten Mal hinter die Kulissen. Durch eine nur angelehnte falsche Tür konnte Thyl das Regiepult beobachten. Der Regisseur und Intendant war nicht im geringsten beunruhigt, und als der berühmteste Schauspieler des Hauses auf die Szene wankte, begann die Probe der weniger berühmten Schauspieler ohne Verzug. |
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